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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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gödie des Euripides, welcher die Künstler wahrscheinlich in
der Auffassung der Sage folgten, "wirkte vermuthlich die Be-
schreibung des Boten von dem Martertode der Dirke weit schau-
derhafter, als das Bildwerk wirkt, in welchem der Kampf
der Heldenjünglinge mit dem Stier gross und gefahrvoll genug
ist, um den Schauer, welchen die rührende Gestalt der Dirke
einflösst, zu zerstreuen."

Freilich, fahren wir mit den Worten Welckers fort, "zu
leugnen ist dabei nicht, dass die Kunst, nachdem einmal durch
die Tragödie die Schreckbilder der alten Sage hervorgerufen
waren, ihr Augenmerk nicht auf die Grösse und Tiefe der
Ideen, sondern auf das Ausserordentliche der Erscheinungen
richtete, und dass man in ihren Werken nicht das Philosophi-
sche, sondern das Künstlerische aufzusuchen hat. In dieser
Hinsicht möchten der Laokoon und der Stier nah verwandter
Art sein: thierische Gewalt in furchtbarer Ueberlegenheit über
arme Menschenkinder, die durch sie die göttliche Gerechtigkeit
erfahren; durch das Ueberraschende, Wunderbare des unglei-
chen Kampfes und durch die Schönheit der Anordnung wird
das Grausen in Erstaunen, die Rührung in Bewunderung ver-
wandelt, durch die Art der Ausführung die Derbheit des Stoffs,
durch vollendete Kunst die Kühnheit seiner Wahl überboten.
In solchen Darstellungen wird von der sinnlichen Erscheinung
und der Kunst das sittliche Denken und Empfinden und das
menschliche Mitgefühl so sehr gedämpft, dass sich dem Ein-
druck nach von ihnen eine Darstellung, wie die des nur halb
menschlichen Kentauren, der an grimmen Löwen den Tod sei-
ner zerfleischten Gattin rächt, in dem schönen Mosaik zu Ber-
lin, nicht wesentlich unterscheidet."

Wir sind in den letzten Sätzen, wie von selbst, wieder
auf den Laokoon zurückgeführt worden; und in der That giebt
es unter den uns erhaltenen Werken griechischer Kunst kein
einziges, welches so, wie die beiden eben behandelten, als
der Ausfluss einer und derselben scharf ausgeprägten Geistes-
richtung erschiene. Fragen wir aber die Entwickelungsge-
schichte der Kunst anderer Völker, und ganz besonders der
Griechen, so werden wir eingestehen müssen, dass Werke, in
so schlagender Weise verwandt, wie diese, niemals in weit
von einander liegenden Zeiträumen entstanden sind; und dieses

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gödie des Euripides, welcher die Künstler wahrscheinlich in
der Auffassung der Sage folgten, „wirkte vermuthlich die Be-
schreibung des Boten von dem Martertode der Dirke weit schau-
derhafter, als das Bildwerk wirkt, in welchem der Kampf
der Heldenjünglinge mit dem Stier gross und gefahrvoll genug
ist, um den Schauer, welchen die rührende Gestalt der Dirke
einflösst, zu zerstreuen.”

Freilich, fahren wir mit den Worten Welckers fort, „zu
leugnen ist dabei nicht, dass die Kunst, nachdem einmal durch
die Tragödie die Schreckbilder der alten Sage hervorgerufen
waren, ihr Augenmerk nicht auf die Grösse und Tiefe der
Ideen, sondern auf das Ausserordentliche der Erscheinungen
richtete, und dass man in ihren Werken nicht das Philosophi-
sche, sondern das Künstlerische aufzusuchen hat. In dieser
Hinsicht möchten der Laokoon und der Stier nah verwandter
Art sein: thierische Gewalt in furchtbarer Ueberlegenheit über
arme Menschenkinder, die durch sie die göttliche Gerechtigkeit
erfahren; durch das Ueberraschende, Wunderbare des unglei-
chen Kampfes und durch die Schönheit der Anordnung wird
das Grausen in Erstaunen, die Rührung in Bewunderung ver-
wandelt, durch die Art der Ausführung die Derbheit des Stoffs,
durch vollendete Kunst die Kühnheit seiner Wahl überboten.
In solchen Darstellungen wird von der sinnlichen Erscheinung
und der Kunst das sittliche Denken und Empfinden und das
menschliche Mitgefühl so sehr gedämpft, dass sich dem Ein-
druck nach von ihnen eine Darstellung, wie die des nur halb
menschlichen Kentauren, der an grimmen Löwen den Tod sei-
ner zerfleischten Gattin rächt, in dem schönen Mosaik zu Ber-
lin, nicht wesentlich unterscheidet.”

Wir sind in den letzten Sätzen, wie von selbst, wieder
auf den Laokoon zurückgeführt worden; und in der That giebt
es unter den uns erhaltenen Werken griechischer Kunst kein
einziges, welches so, wie die beiden eben behandelten, als
der Ausfluss einer und derselben scharf ausgeprägten Geistes-
richtung erschiene. Fragen wir aber die Entwickelungsge-
schichte der Kunst anderer Völker, und ganz besonders der
Griechen, so werden wir eingestehen müssen, dass Werke, in
so schlagender Weise verwandt, wie diese, niemals in weit
von einander liegenden Zeiträumen entstanden sind; und dieses

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[499/0512] gödie des Euripides, welcher die Künstler wahrscheinlich in der Auffassung der Sage folgten, „wirkte vermuthlich die Be- schreibung des Boten von dem Martertode der Dirke weit schau- derhafter, als das Bildwerk wirkt, in welchem der Kampf der Heldenjünglinge mit dem Stier gross und gefahrvoll genug ist, um den Schauer, welchen die rührende Gestalt der Dirke einflösst, zu zerstreuen.” Freilich, fahren wir mit den Worten Welckers fort, „zu leugnen ist dabei nicht, dass die Kunst, nachdem einmal durch die Tragödie die Schreckbilder der alten Sage hervorgerufen waren, ihr Augenmerk nicht auf die Grösse und Tiefe der Ideen, sondern auf das Ausserordentliche der Erscheinungen richtete, und dass man in ihren Werken nicht das Philosophi- sche, sondern das Künstlerische aufzusuchen hat. In dieser Hinsicht möchten der Laokoon und der Stier nah verwandter Art sein: thierische Gewalt in furchtbarer Ueberlegenheit über arme Menschenkinder, die durch sie die göttliche Gerechtigkeit erfahren; durch das Ueberraschende, Wunderbare des unglei- chen Kampfes und durch die Schönheit der Anordnung wird das Grausen in Erstaunen, die Rührung in Bewunderung ver- wandelt, durch die Art der Ausführung die Derbheit des Stoffs, durch vollendete Kunst die Kühnheit seiner Wahl überboten. In solchen Darstellungen wird von der sinnlichen Erscheinung und der Kunst das sittliche Denken und Empfinden und das menschliche Mitgefühl so sehr gedämpft, dass sich dem Ein- druck nach von ihnen eine Darstellung, wie die des nur halb menschlichen Kentauren, der an grimmen Löwen den Tod sei- ner zerfleischten Gattin rächt, in dem schönen Mosaik zu Ber- lin, nicht wesentlich unterscheidet.” Wir sind in den letzten Sätzen, wie von selbst, wieder auf den Laokoon zurückgeführt worden; und in der That giebt es unter den uns erhaltenen Werken griechischer Kunst kein einziges, welches so, wie die beiden eben behandelten, als der Ausfluss einer und derselben scharf ausgeprägten Geistes- richtung erschiene. Fragen wir aber die Entwickelungsge- schichte der Kunst anderer Völker, und ganz besonders der Griechen, so werden wir eingestehen müssen, dass Werke, in so schlagender Weise verwandt, wie diese, niemals in weit von einander liegenden Zeiträumen entstanden sind; und dieses 32 *

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/512>, abgerufen am 24.11.2024.