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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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tigkeit, und weil er in seinen nächsten Motiven ein körper-
licher war, auch rein als einen solchen erfassen konnten, ohne
Rücksicht auf den geistigen Adel, welchen Laokoon wegen
seiner edeln Abkunft und als Priester nicht verleugnen durfte.
Es ist viel darüber gestritten worden, ob Laokoon schreie oder
nicht. So viel ist gewiss, dass der Mund geöffnet ist, um
deutliche, vernehmliche Schmerzenslaute auszustossen; aber
eben so gewiss ist es, dass es nicht wilde, regellose Töne
sind, er sich nicht maasslosem Geschrei hingiebt. Die Künst-
ler haben hier die richtige Grenze gefunden: Laokoon be-
herrscht noch seinen Schmerz durch moralische Kraft in so-
weit, dass der Ausdruck desselben nur das geringste Maass
scheint, welches die Natur unter den gegebenen Umständen
verlangt. Man nehme ihm diese Kraft, und sofort würde der
Ausdruck mit der Handlung in offenem Widerspruche stehen.
Ohne sie würde auch der ganze Widerstand aufhören müssen,
welchen Laokoon den feindlichen Mächten noch leistet. Man
werfe zur Vergleichung nur einen Blick auf den jüngsten der
Knaben. Sein weit geöffneter Mund zeigt deutlich, dass er
wirklich schreit; aber er erscheint auch durchaus hülflos. Die
leise Abwehr, welche er mit der linken Hand versucht, kann
man nicht mehr Widerstand nennen, sie ist fast nur eine in-
stinktmässige, mechanische Bewegung. Aber bei dem schwa-
chen Knaben fordert man auch nicht die Selbstbeherrschung
des Vaters; er erregt Theilnahme und Mitleid durch seine
Schwäche, und wir nehmen also keinen Anstoss, wenn er dem
Schmerz und der Angst freien Lauf lässt. Von dem Vorwurf
indessen, dass hier, wenn auch nicht die poetische, doch die
künstlerische Schönheit in gewisser Weise verletzt sei, wer-
den wir die Künstler nicht völlig freisprechen können und
höchstens nur zu ihrer Entschuldigung anführen dürfen, dass
wir, indem sich das Interesse hauptsächlich dem Vater zu-
wendet, diesen kleinen Mangel leicht übersehen, zumal da er
sich durch die Verkürzung, in welcher der Kopf erscheint, dem
Auge weniger empfindlich darstellt. -- Doch wir kehren zum
Vater zurück; und obwohl wir zugeben, dass sein Schmerz
von moralischer Kraft beherrscht wird, müssen wir ihn doch
als zu einem so hohen Grade gesteigert anerkennen, dass die
Frage erlaubt ist, ob sich neben oder in ihm noch der beson-
dere Ausdruck anderer, mehr geistiger Empfindungen bestimmt

tigkeit, und weil er in seinen nächsten Motiven ein körper-
licher war, auch rein als einen solchen erfassen konnten, ohne
Rücksicht auf den geistigen Adel, welchen Laokoon wegen
seiner edeln Abkunft und als Priester nicht verleugnen durfte.
Es ist viel darüber gestritten worden, ob Laokoon schreie oder
nicht. So viel ist gewiss, dass der Mund geöffnet ist, um
deutliche, vernehmliche Schmerzenslaute auszustossen; aber
eben so gewiss ist es, dass es nicht wilde, regellose Töne
sind, er sich nicht maasslosem Geschrei hingiebt. Die Künst-
ler haben hier die richtige Grenze gefunden: Laokoon be-
herrscht noch seinen Schmerz durch moralische Kraft in so-
weit, dass der Ausdruck desselben nur das geringste Maass
scheint, welches die Natur unter den gegebenen Umständen
verlangt. Man nehme ihm diese Kraft, und sofort würde der
Ausdruck mit der Handlung in offenem Widerspruche stehen.
Ohne sie würde auch der ganze Widerstand aufhören müssen,
welchen Laokoon den feindlichen Mächten noch leistet. Man
werfe zur Vergleichung nur einen Blick auf den jüngsten der
Knaben. Sein weit geöffneter Mund zeigt deutlich, dass er
wirklich schreit; aber er erscheint auch durchaus hülflos. Die
leise Abwehr, welche er mit der linken Hand versucht, kann
man nicht mehr Widerstand nennen, sie ist fast nur eine in-
stinktmässige, mechanische Bewegung. Aber bei dem schwa-
chen Knaben fordert man auch nicht die Selbstbeherrschung
des Vaters; er erregt Theilnahme und Mitleid durch seine
Schwäche, und wir nehmen also keinen Anstoss, wenn er dem
Schmerz und der Angst freien Lauf lässt. Von dem Vorwurf
indessen, dass hier, wenn auch nicht die poetische, doch die
künstlerische Schönheit in gewisser Weise verletzt sei, wer-
den wir die Künstler nicht völlig freisprechen können und
höchstens nur zu ihrer Entschuldigung anführen dürfen, dass
wir, indem sich das Interesse hauptsächlich dem Vater zu-
wendet, diesen kleinen Mangel leicht übersehen, zumal da er
sich durch die Verkürzung, in welcher der Kopf erscheint, dem
Auge weniger empfindlich darstellt. — Doch wir kehren zum
Vater zurück; und obwohl wir zugeben, dass sein Schmerz
von moralischer Kraft beherrscht wird, müssen wir ihn doch
als zu einem so hohen Grade gesteigert anerkennen, dass die
Frage erlaubt ist, ob sich neben oder in ihm noch der beson-
dere Ausdruck anderer, mehr geistiger Empfindungen bestimmt

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[489/0502] tigkeit, und weil er in seinen nächsten Motiven ein körper- licher war, auch rein als einen solchen erfassen konnten, ohne Rücksicht auf den geistigen Adel, welchen Laokoon wegen seiner edeln Abkunft und als Priester nicht verleugnen durfte. Es ist viel darüber gestritten worden, ob Laokoon schreie oder nicht. So viel ist gewiss, dass der Mund geöffnet ist, um deutliche, vernehmliche Schmerzenslaute auszustossen; aber eben so gewiss ist es, dass es nicht wilde, regellose Töne sind, er sich nicht maasslosem Geschrei hingiebt. Die Künst- ler haben hier die richtige Grenze gefunden: Laokoon be- herrscht noch seinen Schmerz durch moralische Kraft in so- weit, dass der Ausdruck desselben nur das geringste Maass scheint, welches die Natur unter den gegebenen Umständen verlangt. Man nehme ihm diese Kraft, und sofort würde der Ausdruck mit der Handlung in offenem Widerspruche stehen. Ohne sie würde auch der ganze Widerstand aufhören müssen, welchen Laokoon den feindlichen Mächten noch leistet. Man werfe zur Vergleichung nur einen Blick auf den jüngsten der Knaben. Sein weit geöffneter Mund zeigt deutlich, dass er wirklich schreit; aber er erscheint auch durchaus hülflos. Die leise Abwehr, welche er mit der linken Hand versucht, kann man nicht mehr Widerstand nennen, sie ist fast nur eine in- stinktmässige, mechanische Bewegung. Aber bei dem schwa- chen Knaben fordert man auch nicht die Selbstbeherrschung des Vaters; er erregt Theilnahme und Mitleid durch seine Schwäche, und wir nehmen also keinen Anstoss, wenn er dem Schmerz und der Angst freien Lauf lässt. Von dem Vorwurf indessen, dass hier, wenn auch nicht die poetische, doch die künstlerische Schönheit in gewisser Weise verletzt sei, wer- den wir die Künstler nicht völlig freisprechen können und höchstens nur zu ihrer Entschuldigung anführen dürfen, dass wir, indem sich das Interesse hauptsächlich dem Vater zu- wendet, diesen kleinen Mangel leicht übersehen, zumal da er sich durch die Verkürzung, in welcher der Kopf erscheint, dem Auge weniger empfindlich darstellt. — Doch wir kehren zum Vater zurück; und obwohl wir zugeben, dass sein Schmerz von moralischer Kraft beherrscht wird, müssen wir ihn doch als zu einem so hohen Grade gesteigert anerkennen, dass die Frage erlaubt ist, ob sich neben oder in ihm noch der beson- dere Ausdruck anderer, mehr geistiger Empfindungen bestimmt

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/502>, abgerufen am 01.09.2024.