selbst für den minder geübten Blick fasslicher. Setzen wir dagegen den Kopf in die grellste Beleuchtung, so wird sich plötzlich zu unserem Erstaunen eine plastische Ruhe jener Art zeigen, wie wir sie sonst als das Kennzeichen griechischer Kunstschöpfungen älterer Zeit hinzustellen gewohnt sind. In diesem Lichte verschwinden aber die meisten der wirklich im Marmor ausgedrückten Einzelnheiten, sie werden vom Lichte gewissermassen aufgezehrt, und es bleiben dem Auge nur die einfachsten und wesentlichsten Grundformen erkennbar.
Wenn nun die ursprüngliche, allgemein geistige Anlage des Menschen, to en kai mega ethos nach Aristoteles, sich vor- zugsweise in den festen, unveränderlichen Theilen des Kopfes, in der Schädelbildung ausspricht, so muss die detaillirte Aus- führung von Formen, welche nur in der höchsten Anspannung des gesammten Organismus zur Erscheinung kommen, mit Nothwendigkeit zu einer der ethischen entgegengesetzten Dar- stellungsweise führen. Und so ist denn in der That der Aus- druck dieses Kopfes auf das höchste Pathos berechnet, ein Pathos der heftigsten, momentansten Art. Die Natur des dar- gestellten Gegenstandes scheint ein solches zu verlangen. Bis zu welchen Grenzen aber dieses überhaupt in der Kunst zu- lässig sei, wie sich zu diesen Grenzen der Ausdruck des Laokoon verhalte, darüber sind die Meinungen selbst der ausgezeichnet- sten Beurtheiler fortwährend schwankend gewesen, so sehr auch der Grundton fast aller Urtheile hinsichtlich des Laokoon der einer grossen Bewunderung gewesen ist. Allein wenn wir nun finden, dass diese Bewunderung bei verschiedenen auf fast Widersprechendes gerichtet ist, sollen wir dann noch in dieselbe unbedingt einstimmen? Bliebe die Wahl nur zwischen zwei Extremen, zwischen unbedingter Bewunderung und un- bedingter Verdammung, so würde ich allerdings lieber die Rolle des Anklägers, als die des Vertheidigers übernehmen. Doch werden wir zuletzt erkennen, dass uns noch ein Mittel- weg übrig bleibt, nemlich die Beurtheilung von einem relativen, dem historischen Standpunkte aus.
Ein Theil der Lobsprüche ist mehr negativer Art und be- zieht sich auf die Grenzen der Kunst, welche zu überschreiten die Künstler durch den Gegenstand in Gefahr gerathen muss- ten, dadurch nemlich, dass sie den Schmerz wegen seiner Hef-
selbst für den minder geübten Blick fasslicher. Setzen wir dagegen den Kopf in die grellste Beleuchtung, so wird sich plötzlich zu unserem Erstaunen eine plastische Ruhe jener Art zeigen, wie wir sie sonst als das Kennzeichen griechischer Kunstschöpfungen älterer Zeit hinzustellen gewohnt sind. In diesem Lichte verschwinden aber die meisten der wirklich im Marmor ausgedrückten Einzelnheiten, sie werden vom Lichte gewissermassen aufgezehrt, und es bleiben dem Auge nur die einfachsten und wesentlichsten Grundformen erkennbar.
Wenn nun die ursprüngliche, allgemein geistige Anlage des Menschen, τὸ ἓν καὶ μέγα ἦϑος nach Aristoteles, sich vor- zugsweise in den festen, unveränderlichen Theilen des Kopfes, in der Schädelbildung ausspricht, so muss die detaillirte Aus- führung von Formen, welche nur in der höchsten Anspannung des gesammten Organismus zur Erscheinung kommen, mit Nothwendigkeit zu einer der ethischen entgegengesetzten Dar- stellungsweise führen. Und so ist denn in der That der Aus- druck dieses Kopfes auf das höchste Pathos berechnet, ein Pathos der heftigsten, momentansten Art. Die Natur des dar- gestellten Gegenstandes scheint ein solches zu verlangen. Bis zu welchen Grenzen aber dieses überhaupt in der Kunst zu- lässig sei, wie sich zu diesen Grenzen der Ausdruck des Laokoon verhalte, darüber sind die Meinungen selbst der ausgezeichnet- sten Beurtheiler fortwährend schwankend gewesen, so sehr auch der Grundton fast aller Urtheile hinsichtlich des Laokoon der einer grossen Bewunderung gewesen ist. Allein wenn wir nun finden, dass diese Bewunderung bei verschiedenen auf fast Widersprechendes gerichtet ist, sollen wir dann noch in dieselbe unbedingt einstimmen? Bliebe die Wahl nur zwischen zwei Extremen, zwischen unbedingter Bewunderung und un- bedingter Verdammung, so würde ich allerdings lieber die Rolle des Anklägers, als die des Vertheidigers übernehmen. Doch werden wir zuletzt erkennen, dass uns noch ein Mittel- weg übrig bleibt, nemlich die Beurtheilung von einem relativen, dem historischen Standpunkte aus.
Ein Theil der Lobsprüche ist mehr negativer Art und be- zieht sich auf die Grenzen der Kunst, welche zu überschreiten die Künstler durch den Gegenstand in Gefahr gerathen muss- ten, dadurch nemlich, dass sie den Schmerz wegen seiner Hef-
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selbst für den minder geübten Blick fasslicher. Setzen wir
dagegen den Kopf in die grellste Beleuchtung, so wird sich
plötzlich zu unserem Erstaunen eine plastische Ruhe jener
Art zeigen, wie wir sie sonst als das Kennzeichen griechischer
Kunstschöpfungen älterer Zeit hinzustellen gewohnt sind. In
diesem Lichte verschwinden aber die meisten der wirklich im
Marmor ausgedrückten Einzelnheiten, sie werden vom Lichte
gewissermassen aufgezehrt, und es bleiben dem Auge nur die
einfachsten und wesentlichsten Grundformen erkennbar.
Wenn nun die ursprüngliche, allgemein geistige Anlage
des Menschen, τὸ ἓν καὶ μέγα ἦϑος nach Aristoteles, sich vor-
zugsweise in den festen, unveränderlichen Theilen des Kopfes,
in der Schädelbildung ausspricht, so muss die detaillirte Aus-
führung von Formen, welche nur in der höchsten Anspannung
des gesammten Organismus zur Erscheinung kommen, mit
Nothwendigkeit zu einer der ethischen entgegengesetzten Dar-
stellungsweise führen. Und so ist denn in der That der Aus-
druck dieses Kopfes auf das höchste Pathos berechnet, ein
Pathos der heftigsten, momentansten Art. Die Natur des dar-
gestellten Gegenstandes scheint ein solches zu verlangen. Bis
zu welchen Grenzen aber dieses überhaupt in der Kunst zu-
lässig sei, wie sich zu diesen Grenzen der Ausdruck des Laokoon
verhalte, darüber sind die Meinungen selbst der ausgezeichnet-
sten Beurtheiler fortwährend schwankend gewesen, so sehr
auch der Grundton fast aller Urtheile hinsichtlich des Laokoon
der einer grossen Bewunderung gewesen ist. Allein wenn wir
nun finden, dass diese Bewunderung bei verschiedenen auf
fast Widersprechendes gerichtet ist, sollen wir dann noch in
dieselbe unbedingt einstimmen? Bliebe die Wahl nur zwischen
zwei Extremen, zwischen unbedingter Bewunderung und un-
bedingter Verdammung, so würde ich allerdings lieber die
Rolle des Anklägers, als die des Vertheidigers übernehmen.
Doch werden wir zuletzt erkennen, dass uns noch ein Mittel-
weg übrig bleibt, nemlich die Beurtheilung von einem relativen,
dem historischen Standpunkte aus.
Ein Theil der Lobsprüche ist mehr negativer Art und be-
zieht sich auf die Grenzen der Kunst, welche zu überschreiten
die Künstler durch den Gegenstand in Gefahr gerathen muss-
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/501>, abgerufen am 24.11.2024.
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