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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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der grossen Bewegung über das Ganze schon eine gewisse
Ruhe und Einheit verbreitet." Denn die Schlangen, wie sie
die freie Bewegung der Figuren hemmen, halten zugleich auch
die ganze Gruppe in einer Weise zusammen, dass kein Theil
aus den Grenzen der Composition herauszutreten auch nur die
Möglichkeit hätte. Das Verdienst dieser gesammten Anord-
nung ist wahrlich kein geringes, und die Künstler verdienen
dafür die vollste Bewunderung. Aber freilich sind es im-
mer wieder die Künstler, welche wir bei dem Anblicke des
Werkes nicht vergessen können. Es wird uns keineswegs
die Ueberzeugung gegeben, dass dieses als etwas Fertiges,
Abgerundetes mit einem Male der Phantasie des Künst-
lers entsprungen sei; alles ist, wenn auch mit höchster
Kunst, angeordnet, auf bestimmte Zwecke berechnet. Dass
aber dieses Urtheil in der That nicht zu hart sei, wird
sich noch mehr bestätigen, wenn wir darauf hinweisen,
wie gering die eigentlich künstlerischen Beziehungen unter
den einzelnen Figuren sind. Denn sehen wir von dem ein-
zigen Blicke des älteren Sohnes nach dem Vater ab, so
finden wir, dass jeder für sich, von den andern gänzlich un-
abhängig handelt: bei der Gemeinsamkeit der Gefahr auch
keine Spur gemeinsamer Abwehr. Dass tiefere Bezüge ande-
rer Art wirklich vorhanden seien, soll dadurch keineswegs
geleugnet werden. Vielmehr wollen wir hier die Schilderung
aufnehmen, welche Göthe von dem Verhältnisse der drei
menschlichen Figuren entworfen hat: "Der jüngere strebt un-
mächtig, er ist geängstigt, aber nicht verletzt (letzteres kann
zweifelhaft bleiben; auf jeden Fall steht sein Untergang am
sichersten bevor); der Vater strebt mächtig, aber unwirksam,
vielmehr bringt sein Streben die entgegengesetzte Wirkung
hervor. Er reizt seinen Gegner und wird verwundet. Der
älteste Sohn ist am leichtesten verstrickt; er fühlt weder Be-
klemmung, noch Schmerz; er erschrickt über die augenblick-
liche Verwundung und Bewegung seines Vaters; er schreit
auf, indem er das Schlangenende von dem einen Fusse abzu-
streifen sucht; hier ist also noch ein Beobachter, Zeuge,
Theilnehmer bei der That, und das Werk ist abgeschlossen."
Allein auch diese Schilderung, wenn sie, wie ich es gern glau-
be, den Gedanken der Künstler richtig wiedergiebt, weist uns
von Neuem auf ein feines Abwägen und Berechnen hin, zeigt

der grossen Bewegung über das Ganze schon eine gewisse
Ruhe und Einheit verbreitet.” Denn die Schlangen, wie sie
die freie Bewegung der Figuren hemmen, halten zugleich auch
die ganze Gruppe in einer Weise zusammen, dass kein Theil
aus den Grenzen der Composition herauszutreten auch nur die
Möglichkeit hätte. Das Verdienst dieser gesammten Anord-
nung ist wahrlich kein geringes, und die Künstler verdienen
dafür die vollste Bewunderung. Aber freilich sind es im-
mer wieder die Künstler, welche wir bei dem Anblicke des
Werkes nicht vergessen können. Es wird uns keineswegs
die Ueberzeugung gegeben, dass dieses als etwas Fertiges,
Abgerundetes mit einem Male der Phantasie des Künst-
lers entsprungen sei; alles ist, wenn auch mit höchster
Kunst, angeordnet, auf bestimmte Zwecke berechnet. Dass
aber dieses Urtheil in der That nicht zu hart sei, wird
sich noch mehr bestätigen, wenn wir darauf hinweisen,
wie gering die eigentlich künstlerischen Beziehungen unter
den einzelnen Figuren sind. Denn sehen wir von dem ein-
zigen Blicke des älteren Sohnes nach dem Vater ab, so
finden wir, dass jeder für sich, von den andern gänzlich un-
abhängig handelt: bei der Gemeinsamkeit der Gefahr auch
keine Spur gemeinsamer Abwehr. Dass tiefere Bezüge ande-
rer Art wirklich vorhanden seien, soll dadurch keineswegs
geleugnet werden. Vielmehr wollen wir hier die Schilderung
aufnehmen, welche Göthe von dem Verhältnisse der drei
menschlichen Figuren entworfen hat: „Der jüngere strebt un-
mächtig, er ist geängstigt, aber nicht verletzt (letzteres kann
zweifelhaft bleiben; auf jeden Fall steht sein Untergang am
sichersten bevor); der Vater strebt mächtig, aber unwirksam,
vielmehr bringt sein Streben die entgegengesetzte Wirkung
hervor. Er reizt seinen Gegner und wird verwundet. Der
älteste Sohn ist am leichtesten verstrickt; er fühlt weder Be-
klemmung, noch Schmerz; er erschrickt über die augenblick-
liche Verwundung und Bewegung seines Vaters; er schreit
auf, indem er das Schlangenende von dem einen Fusse abzu-
streifen sucht; hier ist also noch ein Beobachter, Zeuge,
Theilnehmer bei der That, und das Werk ist abgeschlossen.”
Allein auch diese Schilderung, wenn sie, wie ich es gern glau-
be, den Gedanken der Künstler richtig wiedergiebt, weist uns
von Neuem auf ein feines Abwägen und Berechnen hin, zeigt

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[486/0499] der grossen Bewegung über das Ganze schon eine gewisse Ruhe und Einheit verbreitet.” Denn die Schlangen, wie sie die freie Bewegung der Figuren hemmen, halten zugleich auch die ganze Gruppe in einer Weise zusammen, dass kein Theil aus den Grenzen der Composition herauszutreten auch nur die Möglichkeit hätte. Das Verdienst dieser gesammten Anord- nung ist wahrlich kein geringes, und die Künstler verdienen dafür die vollste Bewunderung. Aber freilich sind es im- mer wieder die Künstler, welche wir bei dem Anblicke des Werkes nicht vergessen können. Es wird uns keineswegs die Ueberzeugung gegeben, dass dieses als etwas Fertiges, Abgerundetes mit einem Male der Phantasie des Künst- lers entsprungen sei; alles ist, wenn auch mit höchster Kunst, angeordnet, auf bestimmte Zwecke berechnet. Dass aber dieses Urtheil in der That nicht zu hart sei, wird sich noch mehr bestätigen, wenn wir darauf hinweisen, wie gering die eigentlich künstlerischen Beziehungen unter den einzelnen Figuren sind. Denn sehen wir von dem ein- zigen Blicke des älteren Sohnes nach dem Vater ab, so finden wir, dass jeder für sich, von den andern gänzlich un- abhängig handelt: bei der Gemeinsamkeit der Gefahr auch keine Spur gemeinsamer Abwehr. Dass tiefere Bezüge ande- rer Art wirklich vorhanden seien, soll dadurch keineswegs geleugnet werden. Vielmehr wollen wir hier die Schilderung aufnehmen, welche Göthe von dem Verhältnisse der drei menschlichen Figuren entworfen hat: „Der jüngere strebt un- mächtig, er ist geängstigt, aber nicht verletzt (letzteres kann zweifelhaft bleiben; auf jeden Fall steht sein Untergang am sichersten bevor); der Vater strebt mächtig, aber unwirksam, vielmehr bringt sein Streben die entgegengesetzte Wirkung hervor. Er reizt seinen Gegner und wird verwundet. Der älteste Sohn ist am leichtesten verstrickt; er fühlt weder Be- klemmung, noch Schmerz; er erschrickt über die augenblick- liche Verwundung und Bewegung seines Vaters; er schreit auf, indem er das Schlangenende von dem einen Fusse abzu- streifen sucht; hier ist also noch ein Beobachter, Zeuge, Theilnehmer bei der That, und das Werk ist abgeschlossen.” Allein auch diese Schilderung, wenn sie, wie ich es gern glau- be, den Gedanken der Künstler richtig wiedergiebt, weist uns von Neuem auf ein feines Abwägen und Berechnen hin, zeigt

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/499>, abgerufen am 22.11.2024.