gends unter einander in Verwirrung gerathen zu lassen. Die Künstler hielten also die Figuren möglichst getrennt von ein- ander; fast nirgends berühren sie sich, nirgends kreuzen sie sich in ihren Bewegungen. Eben so sind die beiden Schlan- gen streng von einander gesondert: die eine entwickelt ihre Thätigkeit an dem unteren, die andere an dem oberen Theile der Gruppe. Durch ihre Windungen aber verflechten sie die lose neben einander gestellten Figuren zu einem unlösbaren Ganzen. Welcker1) hat deshalb über sie Folgendes bemerkt: "Es zeigt sich auch, dass die zwiefache gleichsam vorsichtige Umschnürung eines jeden von beiden Kindern um Arm und Bein nicht allein der Mannigfaltigkeit künstlich verwickelter Bewegungen der Schlangenleiber dient oder blos die Furcht- barkeit ihrer unentfliehbaren Verstrickungen verstärkt, sondern sie geben sich dadurch ausdrucksvoll als die Boten des Rich- ters zu erkennen, welche wissen, was sie wollen." Das Berechnende, welches hier den Schlangen selbst beigelegt wird, dürfen wir aber vielleicht mit eben so grossem Rechte auch als eine Eigenschaft der Künstler geltend machen, wel- che durch dieselbe die Schlangen so kunstreich und, von ei- nem einfachen Gedanken ausgehend, mit vollster Klarheit an- ordneten. Der Stamm der Körper, in welchem sich die Kräfte bilden, nemlich Brust und Leib, ist bei allen drei Figuren noch frei von den Schlangen: die Umschnürung dieser Theile würde der Phantasie des Beschauers keinen Spielraum übrig lassen; der Anblick vollkommener Hülflosigkeit würde uns abstossen. Deshalb sind überall nur die Werkzeuge der Kraftäusserung gehemmt und gebunden, und obwohl wir erkennen, dass kei- ner mehr den Umschlingungen der Schlangen entgehen wird, so bleibt doch unsere Theilnahme lebendig, weil wir nicht die Kraft selbst vernichtet, sondern nur die Möglichkeit einer wirksamen Aeusserung derselben unterbrochen sehen: löste plötzlich eine unerwartete, etwa göttliche Hülfe die Umstrik- kungen, so würden die jetzt Hülflosen sofort in ihrer früheren Kraft wieder dastehen. Zugleich aber wird, wie Göthe in sei- ner noch öfter zu erwähnenden Analyse der Gruppe (in den Propylaeen) bemerkt, "durch dieses Mittel der Lähmung bei
1) Alt. Denkm. I, S. 327.
gends unter einander in Verwirrung gerathen zu lassen. Die Künstler hielten also die Figuren möglichst getrennt von ein- ander; fast nirgends berühren sie sich, nirgends kreuzen sie sich in ihren Bewegungen. Eben so sind die beiden Schlan- gen streng von einander gesondert: die eine entwickelt ihre Thätigkeit an dem unteren, die andere an dem oberen Theile der Gruppe. Durch ihre Windungen aber verflechten sie die lose neben einander gestellten Figuren zu einem unlösbaren Ganzen. Welcker1) hat deshalb über sie Folgendes bemerkt: „Es zeigt sich auch, dass die zwiefache gleichsam vorsichtige Umschnürung eines jeden von beiden Kindern um Arm und Bein nicht allein der Mannigfaltigkeit künstlich verwickelter Bewegungen der Schlangenleiber dient oder blos die Furcht- barkeit ihrer unentfliehbaren Verstrickungen verstärkt, sondern sie geben sich dadurch ausdrucksvoll als die Boten des Rich- ters zu erkennen, welche wissen, was sie wollen.” Das Berechnende, welches hier den Schlangen selbst beigelegt wird, dürfen wir aber vielleicht mit eben so grossem Rechte auch als eine Eigenschaft der Künstler geltend machen, wel- che durch dieselbe die Schlangen so kunstreich und, von ei- nem einfachen Gedanken ausgehend, mit vollster Klarheit an- ordneten. Der Stamm der Körper, in welchem sich die Kräfte bilden, nemlich Brust und Leib, ist bei allen drei Figuren noch frei von den Schlangen: die Umschnürung dieser Theile würde der Phantasie des Beschauers keinen Spielraum übrig lassen; der Anblick vollkommener Hülflosigkeit würde uns abstossen. Deshalb sind überall nur die Werkzeuge der Kraftäusserung gehemmt und gebunden, und obwohl wir erkennen, dass kei- ner mehr den Umschlingungen der Schlangen entgehen wird, so bleibt doch unsere Theilnahme lebendig, weil wir nicht die Kraft selbst vernichtet, sondern nur die Möglichkeit einer wirksamen Aeusserung derselben unterbrochen sehen: löste plötzlich eine unerwartete, etwa göttliche Hülfe die Umstrik- kungen, so würden die jetzt Hülflosen sofort in ihrer früheren Kraft wieder dastehen. Zugleich aber wird, wie Göthe in sei- ner noch öfter zu erwähnenden Analyse der Gruppe (in den Propylaeen) bemerkt, „durch dieses Mittel der Lähmung bei
1) Alt. Denkm. I, S. 327.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0498"n="485"/>
gends unter einander in Verwirrung gerathen zu lassen. Die<lb/>
Künstler hielten also die Figuren möglichst getrennt von ein-<lb/>
ander; fast nirgends berühren sie sich, nirgends kreuzen sie<lb/>
sich in ihren Bewegungen. Eben so sind die beiden Schlan-<lb/>
gen streng von einander gesondert: die eine entwickelt ihre<lb/>
Thätigkeit an dem unteren, die andere an dem oberen Theile<lb/>
der Gruppe. Durch ihre Windungen aber verflechten sie die<lb/>
lose neben einander gestellten Figuren zu einem unlösbaren<lb/>
Ganzen. Welcker<noteplace="foot"n="1)">Alt. Denkm. I, S. 327.</note> hat deshalb über sie Folgendes bemerkt:<lb/>„Es zeigt sich auch, dass die zwiefache gleichsam vorsichtige<lb/>
Umschnürung eines jeden von beiden Kindern um Arm und<lb/>
Bein nicht allein der Mannigfaltigkeit künstlich verwickelter<lb/>
Bewegungen der Schlangenleiber dient oder blos die Furcht-<lb/>
barkeit ihrer unentfliehbaren Verstrickungen verstärkt, sondern<lb/>
sie geben sich dadurch ausdrucksvoll als die Boten des Rich-<lb/>
ters zu erkennen, welche wissen, was sie wollen.” Das<lb/>
Berechnende, welches hier den Schlangen selbst beigelegt<lb/>
wird, dürfen wir aber vielleicht mit eben so grossem Rechte<lb/>
auch als eine Eigenschaft der Künstler geltend machen, wel-<lb/>
che durch dieselbe die Schlangen so kunstreich und, von ei-<lb/>
nem einfachen Gedanken ausgehend, mit vollster Klarheit an-<lb/>
ordneten. Der Stamm der Körper, in welchem sich die Kräfte<lb/>
bilden, nemlich Brust und Leib, ist bei allen drei Figuren noch<lb/>
frei von den Schlangen: die Umschnürung dieser Theile würde<lb/>
der Phantasie des Beschauers keinen Spielraum übrig lassen;<lb/>
der Anblick vollkommener Hülflosigkeit würde uns abstossen.<lb/>
Deshalb sind überall nur die Werkzeuge der Kraftäusserung<lb/>
gehemmt und gebunden, und obwohl wir erkennen, dass kei-<lb/>
ner mehr den Umschlingungen der Schlangen entgehen wird,<lb/>
so bleibt doch unsere Theilnahme lebendig, weil wir nicht die<lb/>
Kraft selbst vernichtet, sondern nur die Möglichkeit einer<lb/>
wirksamen Aeusserung derselben unterbrochen sehen: löste<lb/>
plötzlich eine unerwartete, etwa göttliche Hülfe die Umstrik-<lb/>
kungen, so würden die jetzt Hülflosen sofort in ihrer früheren<lb/>
Kraft wieder dastehen. Zugleich aber wird, wie Göthe in sei-<lb/>
ner noch öfter zu erwähnenden Analyse der Gruppe (in den<lb/>
Propylaeen) bemerkt, „durch dieses Mittel der Lähmung bei<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[485/0498]
gends unter einander in Verwirrung gerathen zu lassen. Die
Künstler hielten also die Figuren möglichst getrennt von ein-
ander; fast nirgends berühren sie sich, nirgends kreuzen sie
sich in ihren Bewegungen. Eben so sind die beiden Schlan-
gen streng von einander gesondert: die eine entwickelt ihre
Thätigkeit an dem unteren, die andere an dem oberen Theile
der Gruppe. Durch ihre Windungen aber verflechten sie die
lose neben einander gestellten Figuren zu einem unlösbaren
Ganzen. Welcker 1) hat deshalb über sie Folgendes bemerkt:
„Es zeigt sich auch, dass die zwiefache gleichsam vorsichtige
Umschnürung eines jeden von beiden Kindern um Arm und
Bein nicht allein der Mannigfaltigkeit künstlich verwickelter
Bewegungen der Schlangenleiber dient oder blos die Furcht-
barkeit ihrer unentfliehbaren Verstrickungen verstärkt, sondern
sie geben sich dadurch ausdrucksvoll als die Boten des Rich-
ters zu erkennen, welche wissen, was sie wollen.” Das
Berechnende, welches hier den Schlangen selbst beigelegt
wird, dürfen wir aber vielleicht mit eben so grossem Rechte
auch als eine Eigenschaft der Künstler geltend machen, wel-
che durch dieselbe die Schlangen so kunstreich und, von ei-
nem einfachen Gedanken ausgehend, mit vollster Klarheit an-
ordneten. Der Stamm der Körper, in welchem sich die Kräfte
bilden, nemlich Brust und Leib, ist bei allen drei Figuren noch
frei von den Schlangen: die Umschnürung dieser Theile würde
der Phantasie des Beschauers keinen Spielraum übrig lassen;
der Anblick vollkommener Hülflosigkeit würde uns abstossen.
Deshalb sind überall nur die Werkzeuge der Kraftäusserung
gehemmt und gebunden, und obwohl wir erkennen, dass kei-
ner mehr den Umschlingungen der Schlangen entgehen wird,
so bleibt doch unsere Theilnahme lebendig, weil wir nicht die
Kraft selbst vernichtet, sondern nur die Möglichkeit einer
wirksamen Aeusserung derselben unterbrochen sehen: löste
plötzlich eine unerwartete, etwa göttliche Hülfe die Umstrik-
kungen, so würden die jetzt Hülflosen sofort in ihrer früheren
Kraft wieder dastehen. Zugleich aber wird, wie Göthe in sei-
ner noch öfter zu erwähnenden Analyse der Gruppe (in den
Propylaeen) bemerkt, „durch dieses Mittel der Lähmung bei
1) Alt. Denkm. I, S. 327.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/498>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.