dern, wo uns vielleicht nur die Meisterschaft, die Virtuosität des Künstlers gefesselt hält, ist aber gerade bei einem Werke, wie der Laokoon, deshalb leicht möglich, weil wir uns der Meinung hinzugeben geneigt sind: der Künstler habe eben diese Art der Formengebung wählen müssen wegen des Gegenstan- des der Darstellung. Denn sehen wir auch noch ganz von dem geistigen Charakter desselben ab, so zeigt sich allerdings selbst äusserlich schon das Wesen dieser Gruppe in starker Bewegung und Anstrengung selbst bei den körperlich noch nicht zu voller Reife entwickelten Knaben, in der höchsten Erregung und Anspannung aller Kräfte in dem vom Greisenalter noch nirgends gebrochenen Organismus des Vaters. Die feindliche Macht, gegen welche sich der Kampf richtet, ist eine so ge- waltige, dass zu ihrer Ueberwindung die freieste, vollste Ent- wickelung aller Kräfte nothwendig wäre. Aber diese Freiheit ist keineswegs vorhanden: denn überall zeigen sich gerade die Werkzeuge des Kampfes gehemmt, recht eigentlich zusam- mengeschnürt, und eine auf einen einzigen Punkt concentrirte Kraftentwickelung ist geradezu unmöglich gemacht. Dadurch erhalten nothwendig alle Bewegungen etwas Gewaltsames; und es muss eine Menge von Einzelnheiten in der Gliederung der Theile an die Oberfläche treten, von deren Vorhandensein sich bei minder starker und gewaltsamer Bewegung kaum noch eine Spur zeigt. So könnte man versucht sein zu behaupten, dass hierin der Grund liege, weshalb der Laokoon mehr als fast irgend ein anderes Werk des Alterthums eine Fülle von ein- zelnen Formen zeigt, weshalb diese nicht übergangen werden konnten, ohne den gesammten Charakter des Werkes zu be- nachtheiligen. Ich leugne nicht, dass in dieser Beschaffenheit des Gegenstandes für die Künstler eine grosse Lockung lag, diejenige Art der Behandlung zu wählen, welcher sie gefolgt sind. Aber erinnern wir uns nur einmal der Werke älterer Künstler, eines Phidias, eines Myron. Sie mochten geringere wissenschaftliche Kenntnisse des menschlichen Körpers besitzen, als die Meister des Laokoon; aber ein feines Gefühl in ihrer Anschauung der Natur lehrte sie überall, in der Ruhe, wie in der höchsten Erregung, das Einzelne nur als Theil grösserer zu einem gemeinsamen Organismus vereinigter Massen und diesem untergeordnet zu fassen. Und so erscheint ein Torso des Phidias in behaglicher Ruhe, und obwohl manche Muskeln
dern, wo uns vielleicht nur die Meisterschaft, die Virtuosität des Künstlers gefesselt hält, ist aber gerade bei einem Werke, wie der Laokoon, deshalb leicht möglich, weil wir uns der Meinung hinzugeben geneigt sind: der Künstler habe eben diese Art der Formengebung wählen müssen wegen des Gegenstan- des der Darstellung. Denn sehen wir auch noch ganz von dem geistigen Charakter desselben ab, so zeigt sich allerdings selbst äusserlich schon das Wesen dieser Gruppe in starker Bewegung und Anstrengung selbst bei den körperlich noch nicht zu voller Reife entwickelten Knaben, in der höchsten Erregung und Anspannung aller Kräfte in dem vom Greisenalter noch nirgends gebrochenen Organismus des Vaters. Die feindliche Macht, gegen welche sich der Kampf richtet, ist eine so ge- waltige, dass zu ihrer Ueberwindung die freieste, vollste Ent- wickelung aller Kräfte nothwendig wäre. Aber diese Freiheit ist keineswegs vorhanden: denn überall zeigen sich gerade die Werkzeuge des Kampfes gehemmt, recht eigentlich zusam- mengeschnürt, und eine auf einen einzigen Punkt concentrirte Kraftentwickelung ist geradezu unmöglich gemacht. Dadurch erhalten nothwendig alle Bewegungen etwas Gewaltsames; und es muss eine Menge von Einzelnheiten in der Gliederung der Theile an die Oberfläche treten, von deren Vorhandensein sich bei minder starker und gewaltsamer Bewegung kaum noch eine Spur zeigt. So könnte man versucht sein zu behaupten, dass hierin der Grund liege, weshalb der Laokoon mehr als fast irgend ein anderes Werk des Alterthums eine Fülle von ein- zelnen Formen zeigt, weshalb diese nicht übergangen werden konnten, ohne den gesammten Charakter des Werkes zu be- nachtheiligen. Ich leugne nicht, dass in dieser Beschaffenheit des Gegenstandes für die Künstler eine grosse Lockung lag, diejenige Art der Behandlung zu wählen, welcher sie gefolgt sind. Aber erinnern wir uns nur einmal der Werke älterer Künstler, eines Phidias, eines Myron. Sie mochten geringere wissenschaftliche Kenntnisse des menschlichen Körpers besitzen, als die Meister des Laokoon; aber ein feines Gefühl in ihrer Anschauung der Natur lehrte sie überall, in der Ruhe, wie in der höchsten Erregung, das Einzelne nur als Theil grösserer zu einem gemeinsamen Organismus vereinigter Massen und diesem untergeordnet zu fassen. Und so erscheint ein Torso des Phidias in behaglicher Ruhe, und obwohl manche Muskeln
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dern, wo uns vielleicht nur die Meisterschaft, die Virtuosität
des Künstlers gefesselt hält, ist aber gerade bei einem Werke,
wie der Laokoon, deshalb leicht möglich, weil wir uns der
Meinung hinzugeben geneigt sind: der Künstler habe eben diese
Art der Formengebung wählen müssen wegen des Gegenstan-
des der Darstellung. Denn sehen wir auch noch ganz von
dem geistigen Charakter desselben ab, so zeigt sich allerdings
selbst äusserlich schon das Wesen dieser Gruppe in starker
Bewegung und Anstrengung selbst bei den körperlich noch nicht
zu voller Reife entwickelten Knaben, in der höchsten Erregung
und Anspannung aller Kräfte in dem vom Greisenalter noch
nirgends gebrochenen Organismus des Vaters. Die feindliche
Macht, gegen welche sich der Kampf richtet, ist eine so ge-
waltige, dass zu ihrer Ueberwindung die freieste, vollste Ent-
wickelung aller Kräfte nothwendig wäre. Aber diese Freiheit
ist keineswegs vorhanden: denn überall zeigen sich gerade die
Werkzeuge des Kampfes gehemmt, recht eigentlich zusam-
mengeschnürt, und eine auf einen einzigen Punkt concentrirte
Kraftentwickelung ist geradezu unmöglich gemacht. Dadurch
erhalten nothwendig alle Bewegungen etwas Gewaltsames; und
es muss eine Menge von Einzelnheiten in der Gliederung der
Theile an die Oberfläche treten, von deren Vorhandensein sich
bei minder starker und gewaltsamer Bewegung kaum noch eine
Spur zeigt. So könnte man versucht sein zu behaupten, dass
hierin der Grund liege, weshalb der Laokoon mehr als fast
irgend ein anderes Werk des Alterthums eine Fülle von ein-
zelnen Formen zeigt, weshalb diese nicht übergangen werden
konnten, ohne den gesammten Charakter des Werkes zu be-
nachtheiligen. Ich leugne nicht, dass in dieser Beschaffenheit
des Gegenstandes für die Künstler eine grosse Lockung lag,
diejenige Art der Behandlung zu wählen, welcher sie gefolgt
sind. Aber erinnern wir uns nur einmal der Werke älterer
Künstler, eines Phidias, eines Myron. Sie mochten geringere
wissenschaftliche Kenntnisse des menschlichen Körpers besitzen,
als die Meister des Laokoon; aber ein feines Gefühl in ihrer
Anschauung der Natur lehrte sie überall, in der Ruhe, wie in
der höchsten Erregung, das Einzelne nur als Theil grösserer
zu einem gemeinsamen Organismus vereinigter Massen und
diesem untergeordnet zu fassen. Und so erscheint ein Torso
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/495>, abgerufen am 22.11.2024.
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