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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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weicht dem Pathos, dem Leiden oder wenigstens der Passivi-
tät; selbst das Handeln ist weniger die Folge eines geistigen
Wollens, als äusserer Antriebe. Der orgiastische Taumel einer
Bakchantin entspringt nicht aus einem freien, selbstthätigen
Bewusstsein, sondern wird von einem Gotte erregt (ek theou
maneisthai). Die Melancholie, das Sehnen der Meergötter ist
ein Leiden und Dulden, von welchem keine Erlösung möglich
ist. Aus Alexanders Antlitz spricht der rastlos voranstür-
mende Eroberer. Die Ruhe eines Dionysos ist nicht ein sich
Sammeln zu neuer Thätigkeit, sondern eine Ruhe von vor-
hergegangenem Genuss. Selbst Herakles in der Auffassung,
wie ihn die farnesische Statue zeigt, steht ermattet da. Die
Aphrodite des Praxiteles aber ist nicht die homerische Göttin,
welche, wenn auch mit unglücklichem Erfolge, doch kühn ge-
nug ist, sich in den Kampf der Männer zu mischen. Fast in
allen diesen Darstellungen, an denen sich doch vorzugsweise
die Meisterschaft dieser Periode erprobt, waltet also keines-
wegs das Leben eines kräftigen Geistes in der Weise vor,
dass dadurch der Grundcharakter des Ganzen bestimmt würde,
sondern das Leben der Seele, des Gefühls. Die Darstellung
desselben setzt aber eine gänzlich verschiedene Anschauungs-
weise, ein durchaus verschiedenes Studium voraus. Die Thä-
tigkeit des Geistes ist eine streng geregelte, ewigen Gesetzen
unterworfene; Gefühl und Seelenleben gewähren dagegen der
besonderen Individualität eine grössere Freiheit der Bewe-
gung, finden aber ebendeshalb ihren Ausdruck in weniger
stätigen dauernden Formen. Das Studium wird sich daher von
der Erforschung des bleibenden festen Gesetzes ab- und auf
die Beobachtung der einzelnen Erscheinungen und Zustände
lenken; und an die Stelle der früheren ethischen Charaktere
werden Gestalten treten, welchen vorzugsweise ein psycholo-
gisches Interesse beiwohnt. Sehr bezeichnend für diese Rich-
tung der Kunst sind daher Werke, wie der Paris des Euphra-
nor, in welchem man nicht weniger den Richter der Göttinnen
und den Liebhaber der Helena, als den Mörder des Achilles
erkannte; oder wie das Bildniss des Apollodoros, in welchem
Silanion, so zu sagen, den Zorn verkörpert hatte. Hier musste
indessen immer noch das Hauptaugenmerk der Künstler darauf
gerichtet sein, bestimmte Persönlichkeiten in der vollen ihnen
inwohnenden Eigenthümlichkeit und Individualität zu zeigen

weicht dem Pathos, dem Leiden oder wenigstens der Passivi-
tät; selbst das Handeln ist weniger die Folge eines geistigen
Wollens, als äusserer Antriebe. Der orgiastische Taumel einer
Bakchantin entspringt nicht aus einem freien, selbstthätigen
Bewusstsein, sondern wird von einem Gotte erregt (ἐκ ϑεοῦ
μανεῖσϑαι). Die Melancholie, das Sehnen der Meergötter ist
ein Leiden und Dulden, von welchem keine Erlösung möglich
ist. Aus Alexanders Antlitz spricht der rastlos voranstür-
mende Eroberer. Die Ruhe eines Dionysos ist nicht ein sich
Sammeln zu neuer Thätigkeit, sondern eine Ruhe von vor-
hergegangenem Genuss. Selbst Herakles in der Auffassung,
wie ihn die farnesische Statue zeigt, steht ermattet da. Die
Aphrodite des Praxiteles aber ist nicht die homerische Göttin,
welche, wenn auch mit unglücklichem Erfolge, doch kühn ge-
nug ist, sich in den Kampf der Männer zu mischen. Fast in
allen diesen Darstellungen, an denen sich doch vorzugsweise
die Meisterschaft dieser Periode erprobt, waltet also keines-
wegs das Leben eines kräftigen Geistes in der Weise vor,
dass dadurch der Grundcharakter des Ganzen bestimmt würde,
sondern das Leben der Seele, des Gefühls. Die Darstellung
desselben setzt aber eine gänzlich verschiedene Anschauungs-
weise, ein durchaus verschiedenes Studium voraus. Die Thä-
tigkeit des Geistes ist eine streng geregelte, ewigen Gesetzen
unterworfene; Gefühl und Seelenleben gewähren dagegen der
besonderen Individualität eine grössere Freiheit der Bewe-
gung, finden aber ebendeshalb ihren Ausdruck in weniger
stätigen dauernden Formen. Das Studium wird sich daher von
der Erforschung des bleibenden festen Gesetzes ab- und auf
die Beobachtung der einzelnen Erscheinungen und Zustände
lenken; und an die Stelle der früheren ethischen Charaktere
werden Gestalten treten, welchen vorzugsweise ein psycholo-
gisches Interesse beiwohnt. Sehr bezeichnend für diese Rich-
tung der Kunst sind daher Werke, wie der Paris des Euphra-
nor, in welchem man nicht weniger den Richter der Göttinnen
und den Liebhaber der Helena, als den Mörder des Achilles
erkannte; oder wie das Bildniss des Apollodoros, in welchem
Silanion, so zu sagen, den Zorn verkörpert hatte. Hier musste
indessen immer noch das Hauptaugenmerk der Künstler darauf
gerichtet sein, bestimmte Persönlichkeiten in der vollen ihnen
inwohnenden Eigenthümlichkeit und Individualität zu zeigen

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[437/0450] weicht dem Pathos, dem Leiden oder wenigstens der Passivi- tät; selbst das Handeln ist weniger die Folge eines geistigen Wollens, als äusserer Antriebe. Der orgiastische Taumel einer Bakchantin entspringt nicht aus einem freien, selbstthätigen Bewusstsein, sondern wird von einem Gotte erregt (ἐκ ϑεοῦ μανεῖσϑαι). Die Melancholie, das Sehnen der Meergötter ist ein Leiden und Dulden, von welchem keine Erlösung möglich ist. Aus Alexanders Antlitz spricht der rastlos voranstür- mende Eroberer. Die Ruhe eines Dionysos ist nicht ein sich Sammeln zu neuer Thätigkeit, sondern eine Ruhe von vor- hergegangenem Genuss. Selbst Herakles in der Auffassung, wie ihn die farnesische Statue zeigt, steht ermattet da. Die Aphrodite des Praxiteles aber ist nicht die homerische Göttin, welche, wenn auch mit unglücklichem Erfolge, doch kühn ge- nug ist, sich in den Kampf der Männer zu mischen. Fast in allen diesen Darstellungen, an denen sich doch vorzugsweise die Meisterschaft dieser Periode erprobt, waltet also keines- wegs das Leben eines kräftigen Geistes in der Weise vor, dass dadurch der Grundcharakter des Ganzen bestimmt würde, sondern das Leben der Seele, des Gefühls. Die Darstellung desselben setzt aber eine gänzlich verschiedene Anschauungs- weise, ein durchaus verschiedenes Studium voraus. Die Thä- tigkeit des Geistes ist eine streng geregelte, ewigen Gesetzen unterworfene; Gefühl und Seelenleben gewähren dagegen der besonderen Individualität eine grössere Freiheit der Bewe- gung, finden aber ebendeshalb ihren Ausdruck in weniger stätigen dauernden Formen. Das Studium wird sich daher von der Erforschung des bleibenden festen Gesetzes ab- und auf die Beobachtung der einzelnen Erscheinungen und Zustände lenken; und an die Stelle der früheren ethischen Charaktere werden Gestalten treten, welchen vorzugsweise ein psycholo- gisches Interesse beiwohnt. Sehr bezeichnend für diese Rich- tung der Kunst sind daher Werke, wie der Paris des Euphra- nor, in welchem man nicht weniger den Richter der Göttinnen und den Liebhaber der Helena, als den Mörder des Achilles erkannte; oder wie das Bildniss des Apollodoros, in welchem Silanion, so zu sagen, den Zorn verkörpert hatte. Hier musste indessen immer noch das Hauptaugenmerk der Künstler darauf gerichtet sein, bestimmte Persönlichkeiten in der vollen ihnen inwohnenden Eigenthümlichkeit und Individualität zu zeigen

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/450>, abgerufen am 24.11.2024.