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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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angehenden Periode gegenüberstellen. Denn alle Eigenthüm-
lichkeiten sind ihrem inneren Wesen nach doch die Ausflüsse
eines und desselben Geistes, dessen Aeusserungen nur ver-
schieden sind je nach dem Boden, welchen er für seine Ein-
wirkung vorbereitet fand. Dieser Geist aber ist kein anderer,
als der seit dem peloponnesischen Kriege gänzlich veränderte
Zeitgeist des gesammten Griechenthums. Wenn sein Einfluss
in der Sculptur nicht unmittelbar nach demselben hervortrat,
so haben wir den Grund nur in der Beschränktheit der Mittel
zu suchen, welche dieser Kunst zu Gebote standen und eine
längere Uebung verlangten, um den Forderungen der neueren
Zeit gerecht zu werden. Das charakteristische Merkmal dieser
neuen Zeit aber war, um es kurz auszudrückeu, die Locke-
rung aller der Bande, welche bis dahin durch Gesetz, Religion
nnd Sitte geheiligt gewesen waren. Das Wesen der älteren
Kunst aber beruhte auf der Ehrfurcht vor der Erhabenheit und
Würde des Göttlichen, auf der Achtung vor der Strenge der
Sitte, auf der Freude an einer kräftigen, zu jeder Anstrengung
geschickten Entwickelung des Körpers. Solche Vorzüge konn-
ten unmöglich noch ferner den Beifall eines Geschlechtes fin-
den, welches nach allen Seiten hin das gerade Gegentheil er-
strebte. Der Glaube an die alten Götter war durch die Sophi-
stik untergraben; mit der Religiosität sank auch die Sitte im
häuslichen Leben. Im Staate aber gab nicht mehr, was recht
und gut, sondern was nutzbringend und angenehm war, den
Maassstab des Handelns ab. Egoismus und Leidenschaft traten
an die Stelle der Aufopferung und der Mässigung. Man suchte
nicht mehr Ehre und Ruhm in der Anstrengung, in jener Span-
nung aller Kräfte, durch welche allein die griechischen Freistaa-
ten sich zu einer so hohen Stufe der Macht erhoben hatten; man
wollte geniessen ohne Anstrengung, wollte die Lust der Sinne
ohne Zwang befriedigen: die Sinnlichkeit gewann die Herrschaft
über den Geist. Einzelne der älteren Zeit verwandte Charaktere
vermochten diese innere Umwälzung nicht aufzuhalten; und wie
sich dieselbe in der gesammten Litteratur dieser Epoche ab-
spiegelt, so musste sie auch auf dem Gebiete der bildenden
Kunst endlich den entschiedensten Einfluss gewinnen. Jene
geistige Gewalt, jene energische Thatkräftigkeit, wie sie sich in
den Gestalten des Phidias und Myron offenbart, aber auch
selbst in der Ruhe polykletischer Schöpfungen nicht verleugnet,

angehenden Periode gegenüberstellen. Denn alle Eigenthüm-
lichkeiten sind ihrem inneren Wesen nach doch die Ausflüsse
eines und desselben Geistes, dessen Aeusserungen nur ver-
schieden sind je nach dem Boden, welchen er für seine Ein-
wirkung vorbereitet fand. Dieser Geist aber ist kein anderer,
als der seit dem peloponnesischen Kriege gänzlich veränderte
Zeitgeist des gesammten Griechenthums. Wenn sein Einfluss
in der Sculptur nicht unmittelbar nach demselben hervortrat,
so haben wir den Grund nur in der Beschränktheit der Mittel
zu suchen, welche dieser Kunst zu Gebote standen und eine
längere Uebung verlangten, um den Forderungen der neueren
Zeit gerecht zu werden. Das charakteristische Merkmal dieser
neuen Zeit aber war, um es kurz auszudrückeu, die Locke-
rung aller der Bande, welche bis dahin durch Gesetz, Religion
nnd Sitte geheiligt gewesen waren. Das Wesen der älteren
Kunst aber beruhte auf der Ehrfurcht vor der Erhabenheit und
Würde des Göttlichen, auf der Achtung vor der Strenge der
Sitte, auf der Freude an einer kräftigen, zu jeder Anstrengung
geschickten Entwickelung des Körpers. Solche Vorzüge konn-
ten unmöglich noch ferner den Beifall eines Geschlechtes fin-
den, welches nach allen Seiten hin das gerade Gegentheil er-
strebte. Der Glaube an die alten Götter war durch die Sophi-
stik untergraben; mit der Religiosität sank auch die Sitte im
häuslichen Leben. Im Staate aber gab nicht mehr, was recht
und gut, sondern was nutzbringend und angenehm war, den
Maassstab des Handelns ab. Egoismus und Leidenschaft traten
an die Stelle der Aufopferung und der Mässigung. Man suchte
nicht mehr Ehre und Ruhm in der Anstrengung, in jener Span-
nung aller Kräfte, durch welche allein die griechischen Freistaa-
ten sich zu einer so hohen Stufe der Macht erhoben hatten; man
wollte geniessen ohne Anstrengung, wollte die Lust der Sinne
ohne Zwang befriedigen: die Sinnlichkeit gewann die Herrschaft
über den Geist. Einzelne der älteren Zeit verwandte Charaktere
vermochten diese innere Umwälzung nicht aufzuhalten; und wie
sich dieselbe in der gesammten Litteratur dieser Epoche ab-
spiegelt, so musste sie auch auf dem Gebiete der bildenden
Kunst endlich den entschiedensten Einfluss gewinnen. Jene
geistige Gewalt, jene energische Thatkräftigkeit, wie sie sich in
den Gestalten des Phidias und Myron offenbart, aber auch
selbst in der Ruhe polykletischer Schöpfungen nicht verleugnet,

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[436/0449] angehenden Periode gegenüberstellen. Denn alle Eigenthüm- lichkeiten sind ihrem inneren Wesen nach doch die Ausflüsse eines und desselben Geistes, dessen Aeusserungen nur ver- schieden sind je nach dem Boden, welchen er für seine Ein- wirkung vorbereitet fand. Dieser Geist aber ist kein anderer, als der seit dem peloponnesischen Kriege gänzlich veränderte Zeitgeist des gesammten Griechenthums. Wenn sein Einfluss in der Sculptur nicht unmittelbar nach demselben hervortrat, so haben wir den Grund nur in der Beschränktheit der Mittel zu suchen, welche dieser Kunst zu Gebote standen und eine längere Uebung verlangten, um den Forderungen der neueren Zeit gerecht zu werden. Das charakteristische Merkmal dieser neuen Zeit aber war, um es kurz auszudrückeu, die Locke- rung aller der Bande, welche bis dahin durch Gesetz, Religion nnd Sitte geheiligt gewesen waren. Das Wesen der älteren Kunst aber beruhte auf der Ehrfurcht vor der Erhabenheit und Würde des Göttlichen, auf der Achtung vor der Strenge der Sitte, auf der Freude an einer kräftigen, zu jeder Anstrengung geschickten Entwickelung des Körpers. Solche Vorzüge konn- ten unmöglich noch ferner den Beifall eines Geschlechtes fin- den, welches nach allen Seiten hin das gerade Gegentheil er- strebte. Der Glaube an die alten Götter war durch die Sophi- stik untergraben; mit der Religiosität sank auch die Sitte im häuslichen Leben. Im Staate aber gab nicht mehr, was recht und gut, sondern was nutzbringend und angenehm war, den Maassstab des Handelns ab. Egoismus und Leidenschaft traten an die Stelle der Aufopferung und der Mässigung. Man suchte nicht mehr Ehre und Ruhm in der Anstrengung, in jener Span- nung aller Kräfte, durch welche allein die griechischen Freistaa- ten sich zu einer so hohen Stufe der Macht erhoben hatten; man wollte geniessen ohne Anstrengung, wollte die Lust der Sinne ohne Zwang befriedigen: die Sinnlichkeit gewann die Herrschaft über den Geist. Einzelne der älteren Zeit verwandte Charaktere vermochten diese innere Umwälzung nicht aufzuhalten; und wie sich dieselbe in der gesammten Litteratur dieser Epoche ab- spiegelt, so musste sie auch auf dem Gebiete der bildenden Kunst endlich den entschiedensten Einfluss gewinnen. Jene geistige Gewalt, jene energische Thatkräftigkeit, wie sie sich in den Gestalten des Phidias und Myron offenbart, aber auch selbst in der Ruhe polykletischer Schöpfungen nicht verleugnet,

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/449>, abgerufen am 24.11.2024.