Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

uns die Alten hier über die wesentlichsten Punkte ohne Antwort.
Nur eine Besonderheit der Technik führen sie an: dass nemlich
Silanion in das Erz, aus welchem er das Gesicht der Iokaste
bildete, Silber mischte, um in der dadurch entstehenden Blässe
des Metalls die Bleichheit des Todes wiederzugeben. Wir ha-
ben bei seinen Zeitgenossen das Bestreben gefunden, in der
Behandlung des Marmors durch eine gesuchte Anwendung
der Farbe mit der Erscheinung der Wirklichkeit zu wetteifern.
Die Natur des Erzes musste ähnliche Versuche von vornher-
ein auszuschliessen scheinen. Denn das Einsetzen der Augen,
der Lippen u.s.w. aus verschiedenem Metall oder anderen Stof-
fen, darf hier nicht in Betracht kommen: es erweist sich schon
darum als auf einen durchaus verschiedenen Zweck berechnet,
weil es nur bei solchen Theilen Anwendung findet, welche
auch in der Wirklichkeit nicht etwa nur in der Farbe, sondern
in ihrem ganzen Wesen sich von der übrigen Masse des Kör-
pers bestimmt unterscheiden. Das Verfahren des Silanion er-
scheint demnach als ein durchaus neues Wagstück, welches
nur in einer ganz bestimmten Absicht, nemlich um Illusion zu
bewirken, unternommen sein konnte. Diese Absicht aber ist
für die Beurtheilung der Grundanschauung, von welcher der
Künstler in seinem Wirken ausging, von entscheidender Be-
deutung; denn sie lehrt uns, dass auch die Kunst des Silanion,
wie die der meisten Künstler seiner Zeit, nicht sowohl auf
einem tiefen Verständniss des inneren Wesens der Dinge, als
auf der Beobachtung ihrer äusseren Erscheinung beruhte und
aus dieser fast ausschliesslich ihre Nahrung zog. Wenn wir
also an dem Anfange unserer Untersuchung die Frage stellten,
ob sich zwischen Silanion als Autodidakten und Lysipp nicht
bestimmte Analogien nachweisen liessen, so wird es nicht nö-
thig sein, die gewonnenen Resultate nochmals im einzelnen
durchzugehen, um eine solche Verwandtschaft wenigstens in den
allgemeinen Grundanschauungen anzuerkennen. Nur kann es
uns eben so wenig verborgen bleiben, dass beide in ihrer be-
sonderen Entwickelung sich wieder vielfältig von einander tren-
nen. Lysipp als ein Glied der argivisch-sikyonischen Schule
bleibt vor allem auf die formelle Seite der künstlerischen Dar-
stellung bedacht, während Silanion sich in soweit der Rich-
tung seiner Landsleute anschliesst, als er auf die geistige Be-
deutung des darzustellenden Gegenstandes seine besondere

uns die Alten hier über die wesentlichsten Punkte ohne Antwort.
Nur eine Besonderheit der Technik führen sie an: dass nemlich
Silanion in das Erz, aus welchem er das Gesicht der Iokaste
bildete, Silber mischte, um in der dadurch entstehenden Blässe
des Metalls die Bleichheit des Todes wiederzugeben. Wir ha-
ben bei seinen Zeitgenossen das Bestreben gefunden, in der
Behandlung des Marmors durch eine gesuchte Anwendung
der Farbe mit der Erscheinung der Wirklichkeit zu wetteifern.
Die Natur des Erzes musste ähnliche Versuche von vornher-
ein auszuschliessen scheinen. Denn das Einsetzen der Augen,
der Lippen u.s.w. aus verschiedenem Metall oder anderen Stof-
fen, darf hier nicht in Betracht kommen: es erweist sich schon
darum als auf einen durchaus verschiedenen Zweck berechnet,
weil es nur bei solchen Theilen Anwendung findet, welche
auch in der Wirklichkeit nicht etwa nur in der Farbe, sondern
in ihrem ganzen Wesen sich von der übrigen Masse des Kör-
pers bestimmt unterscheiden. Das Verfahren des Silanion er-
scheint demnach als ein durchaus neues Wagstück, welches
nur in einer ganz bestimmten Absicht, nemlich um Illusion zu
bewirken, unternommen sein konnte. Diese Absicht aber ist
für die Beurtheilung der Grundanschauung, von welcher der
Künstler in seinem Wirken ausging, von entscheidender Be-
deutung; denn sie lehrt uns, dass auch die Kunst des Silanion,
wie die der meisten Künstler seiner Zeit, nicht sowohl auf
einem tiefen Verständniss des inneren Wesens der Dinge, als
auf der Beobachtung ihrer äusseren Erscheinung beruhte und
aus dieser fast ausschliesslich ihre Nahrung zog. Wenn wir
also an dem Anfange unserer Untersuchung die Frage stellten,
ob sich zwischen Silanion als Autodidakten und Lysipp nicht
bestimmte Analogien nachweisen liessen, so wird es nicht nö-
thig sein, die gewonnenen Resultate nochmals im einzelnen
durchzugehen, um eine solche Verwandtschaft wenigstens in den
allgemeinen Grundanschauungen anzuerkennen. Nur kann es
uns eben so wenig verborgen bleiben, dass beide in ihrer be-
sonderen Entwickelung sich wieder vielfältig von einander tren-
nen. Lysipp als ein Glied der argivisch-sikyonischen Schule
bleibt vor allem auf die formelle Seite der künstlerischen Dar-
stellung bedacht, während Silanion sich in soweit der Rich-
tung seiner Landsleute anschliesst, als er auf die geistige Be-
deutung des darzustellenden Gegenstandes seine besondere

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0410" n="397"/>
uns die Alten hier über die wesentlichsten Punkte ohne Antwort.<lb/>
Nur eine Besonderheit der Technik führen sie an: dass nemlich<lb/>
Silanion in das Erz, aus welchem er das Gesicht der Iokaste<lb/>
bildete, Silber mischte, um in der dadurch entstehenden Blässe<lb/>
des Metalls die Bleichheit des Todes wiederzugeben. Wir ha-<lb/>
ben bei seinen Zeitgenossen das Bestreben gefunden, in der<lb/>
Behandlung des Marmors durch eine gesuchte Anwendung<lb/>
der Farbe mit der Erscheinung der Wirklichkeit zu wetteifern.<lb/>
Die Natur des Erzes musste ähnliche Versuche von vornher-<lb/>
ein auszuschliessen scheinen. Denn das Einsetzen der Augen,<lb/>
der Lippen u.s.w. aus verschiedenem Metall oder anderen Stof-<lb/>
fen, darf hier nicht in Betracht kommen: es erweist sich schon<lb/>
darum als auf einen durchaus verschiedenen Zweck berechnet,<lb/>
weil es nur bei solchen Theilen Anwendung findet, welche<lb/>
auch in der Wirklichkeit nicht etwa nur in der Farbe, sondern<lb/>
in ihrem ganzen Wesen sich von der übrigen Masse des Kör-<lb/>
pers bestimmt unterscheiden. Das Verfahren des Silanion er-<lb/>
scheint demnach als ein durchaus neues Wagstück, welches<lb/>
nur in einer ganz bestimmten Absicht, nemlich um Illusion zu<lb/>
bewirken, unternommen sein konnte. Diese Absicht aber ist<lb/>
für die Beurtheilung der Grundanschauung, von welcher der<lb/>
Künstler in seinem Wirken ausging, von entscheidender Be-<lb/>
deutung; denn sie lehrt uns, dass auch die Kunst des Silanion,<lb/>
wie die der meisten Künstler seiner Zeit, nicht sowohl auf<lb/>
einem tiefen Verständniss des inneren Wesens der Dinge, als<lb/>
auf der Beobachtung ihrer äusseren Erscheinung beruhte und<lb/>
aus dieser fast ausschliesslich ihre Nahrung zog. Wenn wir<lb/>
also an dem Anfange unserer Untersuchung die Frage stellten,<lb/>
ob sich zwischen Silanion als Autodidakten und Lysipp nicht<lb/>
bestimmte Analogien nachweisen liessen, so wird es nicht nö-<lb/>
thig sein, die gewonnenen Resultate nochmals im einzelnen<lb/>
durchzugehen, um eine solche Verwandtschaft wenigstens in den<lb/>
allgemeinen Grundanschauungen anzuerkennen. Nur kann es<lb/>
uns eben so wenig verborgen bleiben, dass beide in ihrer be-<lb/>
sonderen Entwickelung sich wieder vielfältig von einander tren-<lb/>
nen. Lysipp als ein Glied der argivisch-sikyonischen Schule<lb/>
bleibt vor allem auf die formelle Seite der künstlerischen Dar-<lb/>
stellung bedacht, während Silanion sich in soweit der Rich-<lb/>
tung seiner Landsleute anschliesst, als er auf die geistige Be-<lb/>
deutung des darzustellenden Gegenstandes seine besondere<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[397/0410] uns die Alten hier über die wesentlichsten Punkte ohne Antwort. Nur eine Besonderheit der Technik führen sie an: dass nemlich Silanion in das Erz, aus welchem er das Gesicht der Iokaste bildete, Silber mischte, um in der dadurch entstehenden Blässe des Metalls die Bleichheit des Todes wiederzugeben. Wir ha- ben bei seinen Zeitgenossen das Bestreben gefunden, in der Behandlung des Marmors durch eine gesuchte Anwendung der Farbe mit der Erscheinung der Wirklichkeit zu wetteifern. Die Natur des Erzes musste ähnliche Versuche von vornher- ein auszuschliessen scheinen. Denn das Einsetzen der Augen, der Lippen u.s.w. aus verschiedenem Metall oder anderen Stof- fen, darf hier nicht in Betracht kommen: es erweist sich schon darum als auf einen durchaus verschiedenen Zweck berechnet, weil es nur bei solchen Theilen Anwendung findet, welche auch in der Wirklichkeit nicht etwa nur in der Farbe, sondern in ihrem ganzen Wesen sich von der übrigen Masse des Kör- pers bestimmt unterscheiden. Das Verfahren des Silanion er- scheint demnach als ein durchaus neues Wagstück, welches nur in einer ganz bestimmten Absicht, nemlich um Illusion zu bewirken, unternommen sein konnte. Diese Absicht aber ist für die Beurtheilung der Grundanschauung, von welcher der Künstler in seinem Wirken ausging, von entscheidender Be- deutung; denn sie lehrt uns, dass auch die Kunst des Silanion, wie die der meisten Künstler seiner Zeit, nicht sowohl auf einem tiefen Verständniss des inneren Wesens der Dinge, als auf der Beobachtung ihrer äusseren Erscheinung beruhte und aus dieser fast ausschliesslich ihre Nahrung zog. Wenn wir also an dem Anfange unserer Untersuchung die Frage stellten, ob sich zwischen Silanion als Autodidakten und Lysipp nicht bestimmte Analogien nachweisen liessen, so wird es nicht nö- thig sein, die gewonnenen Resultate nochmals im einzelnen durchzugehen, um eine solche Verwandtschaft wenigstens in den allgemeinen Grundanschauungen anzuerkennen. Nur kann es uns eben so wenig verborgen bleiben, dass beide in ihrer be- sonderen Entwickelung sich wieder vielfältig von einander tren- nen. Lysipp als ein Glied der argivisch-sikyonischen Schule bleibt vor allem auf die formelle Seite der künstlerischen Dar- stellung bedacht, während Silanion sich in soweit der Rich- tung seiner Landsleute anschliesst, als er auf die geistige Be- deutung des darzustellenden Gegenstandes seine besondere

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/410
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/410>, abgerufen am 22.11.2024.