Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

Schilderung diesen Theilen seine besondere Aufmerksamkeit
zuzuwenden pflegte, in lebhaftes Entzücken. Er preist nicht
nur die Eurhythmie zwischen den Schultern, die fein abgemes-
senen Rhythmen des Hüftgelenkes und der Schenkel bis herab
zum Fusse, sondern auch die Behandlung der fleischigen Theile,
die Linien ihrer Umrisse, ihre Anfügung an die Knochen, so-
wie ihre wohlberechnete Fülle und Rundung. -- Die zweite
Stelle ist dieselbe, welche uns schon mehrfach beschäftigt hat,
weil in ihr die einzelnen Schönheiten mehrerer anderen Muster-
werke griechischer Kunst angegeben werden 1). So heisst es
darin von der knidischen Aphrodite: "Von ihr möge zu dem
gewünschten Musterbilde nur der Kopf genommen werden, da
sich von dem übrigen Körper wegen der Nacktheit kein Gebrauch
machen lässt. Die Parthien um Haar und Stirn und die schöne
Zeichnung der Augenbrauen bilde man wie Praxiteles, und
ebenso befolge man in Darstellung des Feuchten, so wie des
hellen Glanzes und der Freundlichkeit der Augen dasselbe Vor-
bild ... Das Alter aber, nach welchem Maasse soll es wohl
angenommen werden? gerade wie bei der Knidierin; und dar-
um richte man sich auch hierin nach Praxiteles."

In diesen Schilderungen Lucians mögen wir immerhin von
der stark sinnlichen Färbung, namentlich bei Beschreibung der
hinteren Seite, etwas in Abzug bringen; dennoch bleiben sie be-
zeichnend genug, wenn wir sie mit den Lobsprüchen zusammen-
halten, welche den Werken eines Phidias, Myron, Polyklet,
selbst eines Skopas ertheilt werden. Da ist es die Gewalt der
Idee, lebendigste Naturwahrheit, schönstes Ebenmaass, die
höchste Begeisterung, was die Bewunderung hervorruft. Hier
ist es, um es zunächst kurz auszudrücken, die rein sinnliche
Erscheinung, welche durch sich selbst und allein Gefallen er-
wecken soll. Die ältere Idee einer Aphrodite Urania war auf-
gegeben; mit dem Gewande fiel auch die höhere geistige Auf-
fassung der Göttin; der Körper gewann eine selbstständige,
wesentliche, ja durchaus überwiegende Bedeutung. Dass die
Göttin dadurch sogleich zu einer Aphrodite Hetaera herabge-
sunken sei, soll indessen hiermit keineswegs gesagt sein; ja
selbst, wenn der Künstler, wie erzählt wird, das Bild einer
Phryne oder Kratine für seine Statue benutzt hat, dürfen wir

1) imag. 4.

Schilderung diesen Theilen seine besondere Aufmerksamkeit
zuzuwenden pflegte, in lebhaftes Entzücken. Er preist nicht
nur die Eurhythmie zwischen den Schultern, die fein abgemes-
senen Rhythmen des Hüftgelenkes und der Schenkel bis herab
zum Fusse, sondern auch die Behandlung der fleischigen Theile,
die Linien ihrer Umrisse, ihre Anfügung an die Knochen, so-
wie ihre wohlberechnete Fülle und Rundung. — Die zweite
Stelle ist dieselbe, welche uns schon mehrfach beschäftigt hat,
weil in ihr die einzelnen Schönheiten mehrerer anderen Muster-
werke griechischer Kunst angegeben werden 1). So heisst es
darin von der knidischen Aphrodite: „Von ihr möge zu dem
gewünschten Musterbilde nur der Kopf genommen werden, da
sich von dem übrigen Körper wegen der Nacktheit kein Gebrauch
machen lässt. Die Parthien um Haar und Stirn und die schöne
Zeichnung der Augenbrauen bilde man wie Praxiteles, und
ebenso befolge man in Darstellung des Feuchten, so wie des
hellen Glanzes und der Freundlichkeit der Augen dasselbe Vor-
bild ... Das Alter aber, nach welchem Maasse soll es wohl
angenommen werden? gerade wie bei der Knidierin; und dar-
um richte man sich auch hierin nach Praxiteles.”

In diesen Schilderungen Lucians mögen wir immerhin von
der stark sinnlichen Färbung, namentlich bei Beschreibung der
hinteren Seite, etwas in Abzug bringen; dennoch bleiben sie be-
zeichnend genug, wenn wir sie mit den Lobsprüchen zusammen-
halten, welche den Werken eines Phidias, Myron, Polyklet,
selbst eines Skopas ertheilt werden. Da ist es die Gewalt der
Idee, lebendigste Naturwahrheit, schönstes Ebenmaass, die
höchste Begeisterung, was die Bewunderung hervorruft. Hier
ist es, um es zunächst kurz auszudrücken, die rein sinnliche
Erscheinung, welche durch sich selbst und allein Gefallen er-
wecken soll. Die ältere Idee einer Aphrodite Urania war auf-
gegeben; mit dem Gewande fiel auch die höhere geistige Auf-
fassung der Göttin; der Körper gewann eine selbstständige,
wesentliche, ja durchaus überwiegende Bedeutung. Dass die
Göttin dadurch sogleich zu einer Aphrodite Hetaera herabge-
sunken sei, soll indessen hiermit keineswegs gesagt sein; ja
selbst, wenn der Künstler, wie erzählt wird, das Bild einer
Phryne oder Kratine für seine Statue benutzt hat, dürfen wir

1) imag. 4.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0360" n="347"/>
Schilderung diesen Theilen seine besondere Aufmerksamkeit<lb/>
zuzuwenden pflegte, in lebhaftes Entzücken. Er preist nicht<lb/>
nur die Eurhythmie zwischen den Schultern, die fein abgemes-<lb/>
senen Rhythmen des Hüftgelenkes und der Schenkel bis herab<lb/>
zum Fusse, sondern auch die Behandlung der fleischigen Theile,<lb/>
die Linien ihrer Umrisse, ihre Anfügung an die Knochen, so-<lb/>
wie ihre wohlberechnete Fülle und Rundung. &#x2014; Die zweite<lb/>
Stelle ist dieselbe, welche uns schon mehrfach beschäftigt hat,<lb/>
weil in ihr die einzelnen Schönheiten mehrerer anderen Muster-<lb/>
werke griechischer Kunst angegeben werden <note place="foot" n="1)">imag. 4.</note>. So heisst es<lb/>
darin von der knidischen Aphrodite: &#x201E;Von ihr möge zu dem<lb/>
gewünschten Musterbilde nur der Kopf genommen werden, da<lb/>
sich von dem übrigen Körper wegen der Nacktheit kein Gebrauch<lb/>
machen lässt. Die Parthien um Haar und Stirn und die schöne<lb/>
Zeichnung der Augenbrauen bilde man wie Praxiteles, und<lb/>
ebenso befolge man in Darstellung des Feuchten, so wie des<lb/>
hellen Glanzes und der Freundlichkeit der Augen dasselbe Vor-<lb/>
bild ... Das Alter aber, nach welchem Maasse soll es wohl<lb/>
angenommen werden? gerade wie bei der Knidierin; und dar-<lb/>
um richte man sich auch hierin nach Praxiteles.&#x201D;</p><lb/>
            <p>In diesen Schilderungen Lucians mögen wir immerhin von<lb/>
der stark sinnlichen Färbung, namentlich bei Beschreibung der<lb/>
hinteren Seite, etwas in Abzug bringen; dennoch bleiben sie be-<lb/>
zeichnend genug, wenn wir sie mit den Lobsprüchen zusammen-<lb/>
halten, welche den Werken eines Phidias, Myron, Polyklet,<lb/>
selbst eines Skopas ertheilt werden. Da ist es die Gewalt der<lb/>
Idee, lebendigste Naturwahrheit, schönstes Ebenmaass, die<lb/>
höchste Begeisterung, was die Bewunderung hervorruft. Hier<lb/>
ist es, um es zunächst kurz auszudrücken, die rein sinnliche<lb/>
Erscheinung, welche durch sich selbst und allein Gefallen er-<lb/>
wecken soll. Die ältere Idee einer Aphrodite Urania war auf-<lb/>
gegeben; mit dem Gewande fiel auch die höhere geistige Auf-<lb/>
fassung der Göttin; der Körper gewann eine selbstständige,<lb/>
wesentliche, ja durchaus überwiegende Bedeutung. Dass die<lb/>
Göttin dadurch sogleich zu einer Aphrodite Hetaera herabge-<lb/>
sunken sei, soll indessen hiermit keineswegs gesagt sein; ja<lb/>
selbst, wenn der Künstler, wie erzählt wird, das Bild einer<lb/>
Phryne oder Kratine für seine Statue benutzt hat, dürfen wir<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[347/0360] Schilderung diesen Theilen seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden pflegte, in lebhaftes Entzücken. Er preist nicht nur die Eurhythmie zwischen den Schultern, die fein abgemes- senen Rhythmen des Hüftgelenkes und der Schenkel bis herab zum Fusse, sondern auch die Behandlung der fleischigen Theile, die Linien ihrer Umrisse, ihre Anfügung an die Knochen, so- wie ihre wohlberechnete Fülle und Rundung. — Die zweite Stelle ist dieselbe, welche uns schon mehrfach beschäftigt hat, weil in ihr die einzelnen Schönheiten mehrerer anderen Muster- werke griechischer Kunst angegeben werden 1). So heisst es darin von der knidischen Aphrodite: „Von ihr möge zu dem gewünschten Musterbilde nur der Kopf genommen werden, da sich von dem übrigen Körper wegen der Nacktheit kein Gebrauch machen lässt. Die Parthien um Haar und Stirn und die schöne Zeichnung der Augenbrauen bilde man wie Praxiteles, und ebenso befolge man in Darstellung des Feuchten, so wie des hellen Glanzes und der Freundlichkeit der Augen dasselbe Vor- bild ... Das Alter aber, nach welchem Maasse soll es wohl angenommen werden? gerade wie bei der Knidierin; und dar- um richte man sich auch hierin nach Praxiteles.” In diesen Schilderungen Lucians mögen wir immerhin von der stark sinnlichen Färbung, namentlich bei Beschreibung der hinteren Seite, etwas in Abzug bringen; dennoch bleiben sie be- zeichnend genug, wenn wir sie mit den Lobsprüchen zusammen- halten, welche den Werken eines Phidias, Myron, Polyklet, selbst eines Skopas ertheilt werden. Da ist es die Gewalt der Idee, lebendigste Naturwahrheit, schönstes Ebenmaass, die höchste Begeisterung, was die Bewunderung hervorruft. Hier ist es, um es zunächst kurz auszudrücken, die rein sinnliche Erscheinung, welche durch sich selbst und allein Gefallen er- wecken soll. Die ältere Idee einer Aphrodite Urania war auf- gegeben; mit dem Gewande fiel auch die höhere geistige Auf- fassung der Göttin; der Körper gewann eine selbstständige, wesentliche, ja durchaus überwiegende Bedeutung. Dass die Göttin dadurch sogleich zu einer Aphrodite Hetaera herabge- sunken sei, soll indessen hiermit keineswegs gesagt sein; ja selbst, wenn der Künstler, wie erzählt wird, das Bild einer Phryne oder Kratine für seine Statue benutzt hat, dürfen wir 1) imag. 4.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/360
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/360>, abgerufen am 22.11.2024.