keine rein geschichtliche Darstellung wird unter seinen Wer- ken genannt. Götter, Halbgötter, seltener Heroen oder Hand- lungen der heroischen Geschlechter sind die Gegenstände, an welchen sich seine Kunst erprobt. Aber welche Götter, welche Heroen? Zwar finden wir die Ideale der einzelnen grossen Götter, des Apollo, Ares, der Aphrodite, Athene; ausserdem aber auch Figuren oder ganze Figurenreihen aus dem Kreise, aus der Umgebung der Aphrodite, des Apollo, Dionysos, Po- seidon, d. h. ausser den scharf ausgeprägten einzelnen Indivi- dualitäten ganze Gattungen, welche sich um jene ersteren gruppiren, das Wesen derselben in einzelnen Richtungen näher bezeichnen. Diese Thatsache, welcher wir noch bei keinem der früheren Künstler begegnet sind, mag hier als der zweite feste Punkt in der Erörterung über Skopas hinge- stellt sein.
Wir fragen jetzt weiter nach dem besonderen Charakter dieser Bildungen. Anstatt indessen, wie bisher, vom Allge- meinen, wollen wir jetzt vielmehr vom Besonderen, von einer einzelnen Statue ausgehen, und den Maassstab, welchen wir durch dieselbe gewinnen werden, an die übrigen Werke an- zulegen versuchen. Wir wählen dazu die rasende Bacchantin. Die Epigramme über dieses Bild bestreben sich auszudrücken, dass dasselbe von der höchsten Aufregung gleichsam durch- glüht war: Skopas, der Künstler, hatte seiner Bacchantin grössere Raserei verliehen, als Bakchos, der Gott selbst; er hatte dem Marmor Seele eingehaucht; das Bild schien über die Schwelle springen zu wollen. Ausführlicher ist Callistratus. Zwar leidet seine Beschreibung in hohem Grade an rhetorischem Schwulst. Da wir indessen bei dem Mangel anderer Quellen von ihr bei der weiteren Beurtheilung des Skopas ausgehen müssen, so scheint es nothwendig, um einem Jeden die Prüfung unserer eigenen Auffassung zu erleichtern, sie hier in ihrer ganzen Ausführlichkeit folgen zu lassen:
"Nicht blos die Kunstwerke der Dichter und Redner ath- men Leben, wenn Begeisterung von den Göttern sich auf ihre Zungen senkt, sondern auch die Hände der Bildner, von gött- licherem Hauche ergriffen, bringen Schöpfungen hervor, welche, so zu sagen, besessen und voll sind von Begeisterungsrausch (manias). So liess, wie von einem geistigen Hauche bewegt, Skopas dieses Erfülltsein von Gott bei dem Schaffen des Bil-
keine rein geschichtliche Darstellung wird unter seinen Wer- ken genannt. Götter, Halbgötter, seltener Heroen oder Hand- lungen der heroischen Geschlechter sind die Gegenstände, an welchen sich seine Kunst erprobt. Aber welche Götter, welche Heroen? Zwar finden wir die Ideale der einzelnen grossen Götter, des Apollo, Ares, der Aphrodite, Athene; ausserdem aber auch Figuren oder ganze Figurenreihen aus dem Kreise, aus der Umgebung der Aphrodite, des Apollo, Dionysos, Po- seidon, d. h. ausser den scharf ausgeprägten einzelnen Indivi- dualitäten ganze Gattungen, welche sich um jene ersteren gruppiren, das Wesen derselben in einzelnen Richtungen näher bezeichnen. Diese Thatsache, welcher wir noch bei keinem der früheren Künstler begegnet sind, mag hier als der zweite feste Punkt in der Erörterung über Skopas hinge- stellt sein.
Wir fragen jetzt weiter nach dem besonderen Charakter dieser Bildungen. Anstatt indessen, wie bisher, vom Allge- meinen, wollen wir jetzt vielmehr vom Besonderen, von einer einzelnen Statue ausgehen, und den Maassstab, welchen wir durch dieselbe gewinnen werden, an die übrigen Werke an- zulegen versuchen. Wir wählen dazu die rasende Bacchantin. Die Epigramme über dieses Bild bestreben sich auszudrücken, dass dasselbe von der höchsten Aufregung gleichsam durch- glüht war: Skopas, der Künstler, hatte seiner Bacchantin grössere Raserei verliehen, als Bakchos, der Gott selbst; er hatte dem Marmor Seele eingehaucht; das Bild schien über die Schwelle springen zu wollen. Ausführlicher ist Callistratus. Zwar leidet seine Beschreibung in hohem Grade an rhetorischem Schwulst. Da wir indessen bei dem Mangel anderer Quellen von ihr bei der weiteren Beurtheilung des Skopas ausgehen müssen, so scheint es nothwendig, um einem Jeden die Prüfung unserer eigenen Auffassung zu erleichtern, sie hier in ihrer ganzen Ausführlichkeit folgen zu lassen:
„Nicht blos die Kunstwerke der Dichter und Redner ath- men Leben, wenn Begeisterung von den Göttern sich auf ihre Zungen senkt, sondern auch die Hände der Bildner, von gött- licherem Hauche ergriffen, bringen Schöpfungen hervor, welche, so zu sagen, besessen und voll sind von Begeisterungsrausch (μανίας). So liess, wie von einem geistigen Hauche bewegt, Skopas dieses Erfülltsein von Gott bei dem Schaffen des Bil-
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keine rein geschichtliche Darstellung wird unter seinen Wer-
ken genannt. Götter, Halbgötter, seltener Heroen oder Hand-
lungen der heroischen Geschlechter sind die Gegenstände, an
welchen sich seine Kunst erprobt. Aber welche Götter, welche
Heroen? Zwar finden wir die Ideale der einzelnen grossen
Götter, des Apollo, Ares, der Aphrodite, Athene; ausserdem
aber auch Figuren oder ganze Figurenreihen aus dem Kreise,
aus der Umgebung der Aphrodite, des Apollo, Dionysos, Po-
seidon, d. h. ausser den scharf ausgeprägten einzelnen Indivi-
dualitäten ganze Gattungen, welche sich um jene ersteren
gruppiren, das Wesen derselben in einzelnen Richtungen
näher bezeichnen. Diese Thatsache, welcher wir noch bei
keinem der früheren Künstler begegnet sind, mag hier als
der zweite feste Punkt in der Erörterung über Skopas hinge-
stellt sein.
Wir fragen jetzt weiter nach dem besonderen Charakter
dieser Bildungen. Anstatt indessen, wie bisher, vom Allge-
meinen, wollen wir jetzt vielmehr vom Besonderen, von einer
einzelnen Statue ausgehen, und den Maassstab, welchen wir
durch dieselbe gewinnen werden, an die übrigen Werke an-
zulegen versuchen. Wir wählen dazu die rasende Bacchantin.
Die Epigramme über dieses Bild bestreben sich auszudrücken,
dass dasselbe von der höchsten Aufregung gleichsam durch-
glüht war: Skopas, der Künstler, hatte seiner Bacchantin
grössere Raserei verliehen, als Bakchos, der Gott selbst; er
hatte dem Marmor Seele eingehaucht; das Bild schien über
die Schwelle springen zu wollen. Ausführlicher ist Callistratus.
Zwar leidet seine Beschreibung in hohem Grade an rhetorischem
Schwulst. Da wir indessen bei dem Mangel anderer Quellen
von ihr bei der weiteren Beurtheilung des Skopas ausgehen
müssen, so scheint es nothwendig, um einem Jeden die Prüfung
unserer eigenen Auffassung zu erleichtern, sie hier in ihrer
ganzen Ausführlichkeit folgen zu lassen:
„Nicht blos die Kunstwerke der Dichter und Redner ath-
men Leben, wenn Begeisterung von den Göttern sich auf ihre
Zungen senkt, sondern auch die Hände der Bildner, von gött-
licherem Hauche ergriffen, bringen Schöpfungen hervor, welche,
so zu sagen, besessen und voll sind von Begeisterungsrausch
(μανίας). So liess, wie von einem geistigen Hauche bewegt,
Skopas dieses Erfülltsein von Gott bei dem Schaffen des Bil-
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/339>, abgerufen am 22.11.2024.
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