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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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die Persönlichkeit des Polyklet. Fast die Hälfte aller genann-
ten Künstler sind nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Alten
Schüler des Polyklet, die andere Hälfte arbeitet mit diesen
Schülern gemeinsam, oder es sind Schüler der Schüler. Kein
Einzelner unter ihnen ragt in solcher Weise hervor, dass er
wieder als Begründer einer neuen Schule von eigenthümlicher
Richtung gelten könnte. Als das wesentlichste Verdienst des
Polyklet haben wir aber oben hervorgehoben, dass er der
Kunst eine theoretische Grundlage gab, dass er durch Lehre
nicht weniger, als durch seine Werke darauf hinarbeitete, je-
der falschen Richtung, welche durch Unwissenheit oder durch
willkürliche, wenn auch geistreiche Laune sich etwa hätte gel-
tend machen wollen, allen weitergreifenden Einfluss abzu-
schneiden. Die Früchte dieses seines Strebens zeigen sich
nun an seinen Schülern. Nicht geniale Kühnheit, welche durch
lebendige Wahrheit die Natur zum Wettkampf herauszufor-
dern scheint, nicht gewaltige, grossartige Erhabenheit, welche
sich über das Irdische zu erheben strebt, bilden das Wesen
dieser Schule; wohl aber finden wir eine Reihe von tüchtigen
Werken, correct und ohne Makel bis ins Feinste durchgeführt.
Solchen Werken wird eine volle und lebhafte Anerkennung
in der Regel nur bei Sachverständigen, bei Künstlern zu Theil.
Der blosse Liebhaber freut sich daran, an der Reinheit, an
der ungetrübten Schönheit, empfindet aber mehr ein stilles
Behagen, welchem es schwer wird, Worte zu geben, weil
dazu das blosse, auch noch so richtige Gefühl nicht aus-
reicht, sondern ein bestimmtes künstlerisches Wissen noth-
wendig ist. Diesem Umstande mögen wir es zuschreiben, dass
die Werke dieser Schule weniger, als die freilich geistreiche-
ren der Attiker, Bewunderer in Worten gefunden haben, in
ähnlicher Weise, wie auch heute von manchen Werken, wel-
che die Künstler mit Eifer und unablässig studiren, in den
Büchern über Kunstgeschichte kaum ein Wort zu finden ist. --

Wir haben versucht, von den Eigenthümlichkeiten der atti-
schen und argivischen Kunstschulen ein Bild in wenigen ein-
fachen, aber möglichst klaren und bestimmten Zügen zu ent-
werfen; und sind dabei zu dem Ergebnisse gelangt, dass wir
es im Wesentlichen nur mit der Fortsetzung dessen zu thun
hatten, was durch Phidias, Myron, Polyklet anerkannte Gel-
tung gewonnen hatte. Wollen wir daher noch besonders auf

die Persönlichkeit des Polyklet. Fast die Hälfte aller genann-
ten Künstler sind nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Alten
Schüler des Polyklet, die andere Hälfte arbeitet mit diesen
Schülern gemeinsam, oder es sind Schüler der Schüler. Kein
Einzelner unter ihnen ragt in solcher Weise hervor, dass er
wieder als Begründer einer neuen Schule von eigenthümlicher
Richtung gelten könnte. Als das wesentlichste Verdienst des
Polyklet haben wir aber oben hervorgehoben, dass er der
Kunst eine theoretische Grundlage gab, dass er durch Lehre
nicht weniger, als durch seine Werke darauf hinarbeitete, je-
der falschen Richtung, welche durch Unwissenheit oder durch
willkürliche, wenn auch geistreiche Laune sich etwa hätte gel-
tend machen wollen, allen weitergreifenden Einfluss abzu-
schneiden. Die Früchte dieses seines Strebens zeigen sich
nun an seinen Schülern. Nicht geniale Kühnheit, welche durch
lebendige Wahrheit die Natur zum Wettkampf herauszufor-
dern scheint, nicht gewaltige, grossartige Erhabenheit, welche
sich über das Irdische zu erheben strebt, bilden das Wesen
dieser Schule; wohl aber finden wir eine Reihe von tüchtigen
Werken, correct und ohne Makel bis ins Feinste durchgeführt.
Solchen Werken wird eine volle und lebhafte Anerkennung
in der Regel nur bei Sachverständigen, bei Künstlern zu Theil.
Der blosse Liebhaber freut sich daran, an der Reinheit, an
der ungetrübten Schönheit, empfindet aber mehr ein stilles
Behagen, welchem es schwer wird, Worte zu geben, weil
dazu das blosse, auch noch so richtige Gefühl nicht aus-
reicht, sondern ein bestimmtes künstlerisches Wissen noth-
wendig ist. Diesem Umstande mögen wir es zuschreiben, dass
die Werke dieser Schule weniger, als die freilich geistreiche-
ren der Attiker, Bewunderer in Worten gefunden haben, in
ähnlicher Weise, wie auch heute von manchen Werken, wel-
che die Künstler mit Eifer und unablässig studiren, in den
Büchern über Kunstgeschichte kaum ein Wort zu finden ist. —

Wir haben versucht, von den Eigenthümlichkeiten der atti-
schen und argivischen Kunstschulen ein Bild in wenigen ein-
fachen, aber möglichst klaren und bestimmten Zügen zu ent-
werfen; und sind dabei zu dem Ergebnisse gelangt, dass wir
es im Wesentlichen nur mit der Fortsetzung dessen zu thun
hatten, was durch Phidias, Myron, Polyklet anerkannte Gel-
tung gewonnen hatte. Wollen wir daher noch besonders auf

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[308/0321] die Persönlichkeit des Polyklet. Fast die Hälfte aller genann- ten Künstler sind nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Alten Schüler des Polyklet, die andere Hälfte arbeitet mit diesen Schülern gemeinsam, oder es sind Schüler der Schüler. Kein Einzelner unter ihnen ragt in solcher Weise hervor, dass er wieder als Begründer einer neuen Schule von eigenthümlicher Richtung gelten könnte. Als das wesentlichste Verdienst des Polyklet haben wir aber oben hervorgehoben, dass er der Kunst eine theoretische Grundlage gab, dass er durch Lehre nicht weniger, als durch seine Werke darauf hinarbeitete, je- der falschen Richtung, welche durch Unwissenheit oder durch willkürliche, wenn auch geistreiche Laune sich etwa hätte gel- tend machen wollen, allen weitergreifenden Einfluss abzu- schneiden. Die Früchte dieses seines Strebens zeigen sich nun an seinen Schülern. Nicht geniale Kühnheit, welche durch lebendige Wahrheit die Natur zum Wettkampf herauszufor- dern scheint, nicht gewaltige, grossartige Erhabenheit, welche sich über das Irdische zu erheben strebt, bilden das Wesen dieser Schule; wohl aber finden wir eine Reihe von tüchtigen Werken, correct und ohne Makel bis ins Feinste durchgeführt. Solchen Werken wird eine volle und lebhafte Anerkennung in der Regel nur bei Sachverständigen, bei Künstlern zu Theil. Der blosse Liebhaber freut sich daran, an der Reinheit, an der ungetrübten Schönheit, empfindet aber mehr ein stilles Behagen, welchem es schwer wird, Worte zu geben, weil dazu das blosse, auch noch so richtige Gefühl nicht aus- reicht, sondern ein bestimmtes künstlerisches Wissen noth- wendig ist. Diesem Umstande mögen wir es zuschreiben, dass die Werke dieser Schule weniger, als die freilich geistreiche- ren der Attiker, Bewunderer in Worten gefunden haben, in ähnlicher Weise, wie auch heute von manchen Werken, wel- che die Künstler mit Eifer und unablässig studiren, in den Büchern über Kunstgeschichte kaum ein Wort zu finden ist. — Wir haben versucht, von den Eigenthümlichkeiten der atti- schen und argivischen Kunstschulen ein Bild in wenigen ein- fachen, aber möglichst klaren und bestimmten Zügen zu ent- werfen; und sind dabei zu dem Ergebnisse gelangt, dass wir es im Wesentlichen nur mit der Fortsetzung dessen zu thun hatten, was durch Phidias, Myron, Polyklet anerkannte Gel- tung gewonnen hatte. Wollen wir daher noch besonders auf

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/321>, abgerufen am 22.11.2024.