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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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beruhte, so genügte es, den Beweis des Gegentheils zu liefern.
Wir haben dies versucht, und es will uns bedünken, dass kaum
bei einem andern griechischen Künstler die überlieferten Nach-
richten sich so entschieden, wie bei Polyklet, zu einem klaren,
scharf abgegrenzten Bilde abrunden, in dem selbst die Mängel
sich mit den Vorzügen so innig verflechten, dass es dadurch
nur an lebensvoller Individualität gewinnt.

Entspricht aber dieses Bild dem hohen Begriffe, welchen
das Alterthum in der That von Polyklet hegte? Erscheint es
wirklich bedeutend genug, um Polyklet dem Phidias als eben-
bürtig an die Seite zu stellen? Wir nehmen keinen Anstand,
diese Fragen zu bejahen, sofern wir weniger die beiden Per-
sönlichkeiten für sich, als ihren Einfluss auf die fernere Ent-
wickelung der griechischen Kunst ins Auge fassen. Dass der
Geist des Phidias gewaltiger, seine Schöpfungen erhabener
waren, ist schon früher zugestanden worden. Aber leugnen
dürfen wir nicht, dass es leichter ist, den Phidias zu bewun-
dern, als ihm nachahmen zu wollen, ja sogar, dass es für
einen minder gewaltigen Geist gefährlich sein konnte, sich den
Phidias vorzugsweise als Muster der Nachahmung vorzusetzen:
denn eine hohe Genialität lässt sich nie erlernen. Lässt sich
auch der Vergleich in allem Uebrigen nicht durchführen, so
erinnere ich doch, dass das Beispiel des Michelangelo durch
falsche Nachahmung der Kunst sogar verderblich geworden ist.
Blicken wir bei dieser Gelegenheit auch auf den dritten der
Mitschüler, welche Ageladas zum Lehrer hatten, auf Myron.
Er kann recht wohl mit Phidias verglichen werden, indem
seine lebensvollen Gebilde nicht blos aus scharfer Beobachtung,
sondern noch vielmehr aus der lebendigsten Phantasie, aus dem
freiesten poetisch-künstlerischen Schöpfungsvermögen ent-
sprungen waren. Darf aber ein Künstler, welcher mit dieser
Gabe der Natur weniger reich ausgestattet ist, es wagen, den
Diskobol, den Ladas, sich ausschliesslich als Muster vorzu-
setzen, ohne in Gefahr zu kommen, die natürliche Lebendig-
keit in Uebertreibungen zu suchen? So erscheint nun Poly-
klet zwischen seinen Mitschülern in seiner vollsten und höch-
sten Bedeutung. Durch ihn hat der Spruch des Kleobulos,
metron ariston, auch auf die Kunst den grössten Einfluss ge-
wonnen. Gleich entfernt von übergewaltiger Kraft, wie

beruhte, so genügte es, den Beweis des Gegentheils zu liefern.
Wir haben dies versucht, und es will uns bedünken, dass kaum
bei einem andern griechischen Künstler die überlieferten Nach-
richten sich so entschieden, wie bei Polyklet, zu einem klaren,
scharf abgegrenzten Bilde abrunden, in dem selbst die Mängel
sich mit den Vorzügen so innig verflechten, dass es dadurch
nur an lebensvoller Individualität gewinnt.

Entspricht aber dieses Bild dem hohen Begriffe, welchen
das Alterthum in der That von Polyklet hegte? Erscheint es
wirklich bedeutend genug, um Polyklet dem Phidias als eben-
bürtig an die Seite zu stellen? Wir nehmen keinen Anstand,
diese Fragen zu bejahen, sofern wir weniger die beiden Per-
sönlichkeiten für sich, als ihren Einfluss auf die fernere Ent-
wickelung der griechischen Kunst ins Auge fassen. Dass der
Geist des Phidias gewaltiger, seine Schöpfungen erhabener
waren, ist schon früher zugestanden worden. Aber leugnen
dürfen wir nicht, dass es leichter ist, den Phidias zu bewun-
dern, als ihm nachahmen zu wollen, ja sogar, dass es für
einen minder gewaltigen Geist gefährlich sein konnte, sich den
Phidias vorzugsweise als Muster der Nachahmung vorzusetzen:
denn eine hohe Genialität lässt sich nie erlernen. Lässt sich
auch der Vergleich in allem Uebrigen nicht durchführen, so
erinnere ich doch, dass das Beispiel des Michelangelo durch
falsche Nachahmung der Kunst sogar verderblich geworden ist.
Blicken wir bei dieser Gelegenheit auch auf den dritten der
Mitschüler, welche Ageladas zum Lehrer hatten, auf Myron.
Er kann recht wohl mit Phidias verglichen werden, indem
seine lebensvollen Gebilde nicht blos aus scharfer Beobachtung,
sondern noch vielmehr aus der lebendigsten Phantasie, aus dem
freiesten poetisch-künstlerischen Schöpfungsvermögen ent-
sprungen waren. Darf aber ein Künstler, welcher mit dieser
Gabe der Natur weniger reich ausgestattet ist, es wagen, den
Diskobol, den Ladas, sich ausschliesslich als Muster vorzu-
setzen, ohne in Gefahr zu kommen, die natürliche Lebendig-
keit in Uebertreibungen zu suchen? So erscheint nun Poly-
klet zwischen seinen Mitschülern in seiner vollsten und höch-
sten Bedeutung. Durch ihn hat der Spruch des Kleobulos,
μέτρον ἄριστον, auch auf die Kunst den grössten Einfluss ge-
wonnen. Gleich entfernt von übergewaltiger Kraft, wie

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[232/0245] beruhte, so genügte es, den Beweis des Gegentheils zu liefern. Wir haben dies versucht, und es will uns bedünken, dass kaum bei einem andern griechischen Künstler die überlieferten Nach- richten sich so entschieden, wie bei Polyklet, zu einem klaren, scharf abgegrenzten Bilde abrunden, in dem selbst die Mängel sich mit den Vorzügen so innig verflechten, dass es dadurch nur an lebensvoller Individualität gewinnt. Entspricht aber dieses Bild dem hohen Begriffe, welchen das Alterthum in der That von Polyklet hegte? Erscheint es wirklich bedeutend genug, um Polyklet dem Phidias als eben- bürtig an die Seite zu stellen? Wir nehmen keinen Anstand, diese Fragen zu bejahen, sofern wir weniger die beiden Per- sönlichkeiten für sich, als ihren Einfluss auf die fernere Ent- wickelung der griechischen Kunst ins Auge fassen. Dass der Geist des Phidias gewaltiger, seine Schöpfungen erhabener waren, ist schon früher zugestanden worden. Aber leugnen dürfen wir nicht, dass es leichter ist, den Phidias zu bewun- dern, als ihm nachahmen zu wollen, ja sogar, dass es für einen minder gewaltigen Geist gefährlich sein konnte, sich den Phidias vorzugsweise als Muster der Nachahmung vorzusetzen: denn eine hohe Genialität lässt sich nie erlernen. Lässt sich auch der Vergleich in allem Uebrigen nicht durchführen, so erinnere ich doch, dass das Beispiel des Michelangelo durch falsche Nachahmung der Kunst sogar verderblich geworden ist. Blicken wir bei dieser Gelegenheit auch auf den dritten der Mitschüler, welche Ageladas zum Lehrer hatten, auf Myron. Er kann recht wohl mit Phidias verglichen werden, indem seine lebensvollen Gebilde nicht blos aus scharfer Beobachtung, sondern noch vielmehr aus der lebendigsten Phantasie, aus dem freiesten poetisch-künstlerischen Schöpfungsvermögen ent- sprungen waren. Darf aber ein Künstler, welcher mit dieser Gabe der Natur weniger reich ausgestattet ist, es wagen, den Diskobol, den Ladas, sich ausschliesslich als Muster vorzu- setzen, ohne in Gefahr zu kommen, die natürliche Lebendig- keit in Uebertreibungen zu suchen? So erscheint nun Poly- klet zwischen seinen Mitschülern in seiner vollsten und höch- sten Bedeutung. Durch ihn hat der Spruch des Kleobulos, μέτρον ἄριστον, auch auf die Kunst den grössten Einfluss ge- wonnen. Gleich entfernt von übergewaltiger Kraft, wie

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/245>, abgerufen am 22.11.2024.