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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Körpers, die ultima generis species, sich in ihnen auf das Schärf-
ste und Reinste ausgeprägt fand. Zeigte sich aber die Grund-
richtung des Polyklet in dem Streben nach dieser Idealität des
Körpers, war ihm diese Selbstzweck, so ist es damit schon ge-
geben, dass in der Wahl der geistigen Ideen der Künstler sich
auf einen gewissen Kreis beschränken musste, auf den nemlich,
welcher erlaubte, die körperliche Idealität im vollen Umfange
zur Anschauung zu bringen. Dies ist z. B. selbst bei einem
Zeus nicht der Fall: sein Körper geht über jenes mittlere Alter
und Maass hinaus, in welchem die Form sich in ihrer höchsten
Reinheit zeigt; bei dem höchsten der Götter ist der Körper
dem Geiste durchaus untergeordnet. Sollte es indessen schei-
nen, dass ich auf diese Weise der Kunst des Polyklet gar zu
enge Grenzen setze, so betrachte man nur, was wir von sei-
nen Werken wissen. Unter seinen männlichen Gestalten fin-
den wir keine, welche das Jünglingsalter überschritte. Man
wird mir vielleicht den Gegensatz zwischen dem viriliter puer
und molliter iuvenis entgegenhalten. Ich will zugeben, dass
diese beiden Figuren Gegenstücke waren, um zwei entgegen-
gesetzte Lebensrichtungen zu veranschaulichen. Aber nichts
berechtigt uns zu der Voraussetzung, dass der eine eine mus-
kulöse Figur, etwa wie der farnesische Herakles, der andere
eine weichliche Gestalt war, etwa wie manche der an das
Weibische streifenden Darstellungen des Dionysos. Vielmehr
glaube ich, dass der eine zeigen sollte, wie weit ein jugend-
licher Körper kräftig sein konnte, ohne plump und roh, der
andere, wie weich und zart, ohne weichlich oder weibisch zu
erscheinen. Die beiden Figuren bezeichneten also gewisser-
massen die Grenzen, innerhalb welcher sich die Idealität der
Körperbildung bewegen durfte. Als einen Beleg für diese Auf-
fassung darf ich wohl die noch erhaltenen Nachbildungen des
Diadumenos anführen, welche uns einen jugendlichen Körper,
allerdings nicht von einer vorzugsweise kräftigen Entwicke-
lung, aber auch weit entfernt von aller Verweichlichung zeigen.
Demnach wird es mir auch erlaubt sein, an der Welcker'schen
Deutung des Artemon Periphoretos zu zweifeln, derzufolge er
das Charakterbild eines liederlichen Menschen mit Ohrgehängen
und Sonnenschirm, also mit ganz weibischen Attributen, im
Gegensatz zum Herakles Ageter, gewissermassen dem Ur-
bilde des Kriegsmannes, sein soll. Denn abgesehen von der

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Körpers, die ultima generis species, sich in ihnen auf das Schärf-
ste und Reinste ausgeprägt fand. Zeigte sich aber die Grund-
richtung des Polyklet in dem Streben nach dieser Idealität des
Körpers, war ihm diese Selbstzweck, so ist es damit schon ge-
geben, dass in der Wahl der geistigen Ideen der Künstler sich
auf einen gewissen Kreis beschränken musste, auf den nemlich,
welcher erlaubte, die körperliche Idealität im vollen Umfange
zur Anschauung zu bringen. Dies ist z. B. selbst bei einem
Zeus nicht der Fall: sein Körper geht über jenes mittlere Alter
und Maass hinaus, in welchem die Form sich in ihrer höchsten
Reinheit zeigt; bei dem höchsten der Götter ist der Körper
dem Geiste durchaus untergeordnet. Sollte es indessen schei-
nen, dass ich auf diese Weise der Kunst des Polyklet gar zu
enge Grenzen setze, so betrachte man nur, was wir von sei-
nen Werken wissen. Unter seinen männlichen Gestalten fin-
den wir keine, welche das Jünglingsalter überschritte. Man
wird mir vielleicht den Gegensatz zwischen dem viriliter puer
und molliter iuvenis entgegenhalten. Ich will zugeben, dass
diese beiden Figuren Gegenstücke waren, um zwei entgegen-
gesetzte Lebensrichtungen zu veranschaulichen. Aber nichts
berechtigt uns zu der Voraussetzung, dass der eine eine mus-
kulöse Figur, etwa wie der farnesische Herakles, der andere
eine weichliche Gestalt war, etwa wie manche der an das
Weibische streifenden Darstellungen des Dionysos. Vielmehr
glaube ich, dass der eine zeigen sollte, wie weit ein jugend-
licher Körper kräftig sein konnte, ohne plump und roh, der
andere, wie weich und zart, ohne weichlich oder weibisch zu
erscheinen. Die beiden Figuren bezeichneten also gewisser-
massen die Grenzen, innerhalb welcher sich die Idealität der
Körperbildung bewegen durfte. Als einen Beleg für diese Auf-
fassung darf ich wohl die noch erhaltenen Nachbildungen des
Diadumenos anführen, welche uns einen jugendlichen Körper,
allerdings nicht von einer vorzugsweise kräftigen Entwicke-
lung, aber auch weit entfernt von aller Verweichlichung zeigen.
Demnach wird es mir auch erlaubt sein, an der Welcker’schen
Deutung des Artemon Periphoretos zu zweifeln, derzufolge er
das Charakterbild eines liederlichen Menschen mit Ohrgehängen
und Sonnenschirm, also mit ganz weibischen Attributen, im
Gegensatz zum Herakles Ageter, gewissermassen dem Ur-
bilde des Kriegsmannes, sein soll. Denn abgesehen von der

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[227/0240] Körpers, die ultima generis species, sich in ihnen auf das Schärf- ste und Reinste ausgeprägt fand. Zeigte sich aber die Grund- richtung des Polyklet in dem Streben nach dieser Idealität des Körpers, war ihm diese Selbstzweck, so ist es damit schon ge- geben, dass in der Wahl der geistigen Ideen der Künstler sich auf einen gewissen Kreis beschränken musste, auf den nemlich, welcher erlaubte, die körperliche Idealität im vollen Umfange zur Anschauung zu bringen. Dies ist z. B. selbst bei einem Zeus nicht der Fall: sein Körper geht über jenes mittlere Alter und Maass hinaus, in welchem die Form sich in ihrer höchsten Reinheit zeigt; bei dem höchsten der Götter ist der Körper dem Geiste durchaus untergeordnet. Sollte es indessen schei- nen, dass ich auf diese Weise der Kunst des Polyklet gar zu enge Grenzen setze, so betrachte man nur, was wir von sei- nen Werken wissen. Unter seinen männlichen Gestalten fin- den wir keine, welche das Jünglingsalter überschritte. Man wird mir vielleicht den Gegensatz zwischen dem viriliter puer und molliter iuvenis entgegenhalten. Ich will zugeben, dass diese beiden Figuren Gegenstücke waren, um zwei entgegen- gesetzte Lebensrichtungen zu veranschaulichen. Aber nichts berechtigt uns zu der Voraussetzung, dass der eine eine mus- kulöse Figur, etwa wie der farnesische Herakles, der andere eine weichliche Gestalt war, etwa wie manche der an das Weibische streifenden Darstellungen des Dionysos. Vielmehr glaube ich, dass der eine zeigen sollte, wie weit ein jugend- licher Körper kräftig sein konnte, ohne plump und roh, der andere, wie weich und zart, ohne weichlich oder weibisch zu erscheinen. Die beiden Figuren bezeichneten also gewisser- massen die Grenzen, innerhalb welcher sich die Idealität der Körperbildung bewegen durfte. Als einen Beleg für diese Auf- fassung darf ich wohl die noch erhaltenen Nachbildungen des Diadumenos anführen, welche uns einen jugendlichen Körper, allerdings nicht von einer vorzugsweise kräftigen Entwicke- lung, aber auch weit entfernt von aller Verweichlichung zeigen. Demnach wird es mir auch erlaubt sein, an der Welcker’schen Deutung des Artemon Periphoretos zu zweifeln, derzufolge er das Charakterbild eines liederlichen Menschen mit Ohrgehängen und Sonnenschirm, also mit ganz weibischen Attributen, im Gegensatz zum Herakles Ageter, gewissermassen dem Ur- bilde des Kriegsmannes, sein soll. Denn abgesehen von der 15 *

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/240>, abgerufen am 22.11.2024.