gung die vornehmste Stelle einnehmen, und hören wir dazu das Urtheil Quintilian's 1): dass Polyklet das gewichtigere Alter gemieden und nichts über glatte Wangen hinaus gewagt habe; so gelangen wir zu dem Schlusse: dass Polyklet's Stre- ben gewesen sei, absolute, ganz allgemein gültige Regeln über die Proportionen des menschlichen Körpers in seinem mittleren Durchschnitt nach Grösse, Alter u. s. w. aufzustellen. Von welcher Art dieselben sein mochten, können uns am besten die von Vitruv 2) angegebenen Maasse lehren, welche das Ver- hältniss der einzelnen Theile zum Ganzen in festen Zahlen ausdrücken. Er fügt hinzu, dass die alten Maler und berühmten Bildhauer sich an diese Maasse gehalten hätten, und es wäre demnach sogar möglich, dass er sie direct von Polyklet's Ka- non entlehnt hätte. Doch kann darüber nur eine eigene zu diesem Zwecke veranstaltete genaue Untersuchung noch er- haltener Denkmäler Aufschluss und Sicherheit gewähren.
Da nun aber ein vollkommener Körper in der gemeinen Wirklichkeit nicht existirt, jenes mittlere Maass also erst durch Beobachtung oder Berechnung gefunden werden muss, so kön- nen hier je nach der Annahme verschiedener Ausgangspunkte auch verschiedene Resultate erzielt werden, und unter diesen Voraussetzungen auch neben einander auf Gültigkeit Anspruch machen. Wir würden daher über den besonderen Charakter der polykletischen Proportionen noch immer in Ungewissheit sein, gäbe uns nicht ein Wort des Varro bei Plinius 3) einen Anhaltspunkt. Er nennt nemlich die Bildsäulen des Polyklet quadrata. In diesem Ausdrucke nun hat Thiersch einen schar- fen Tadel sehen wollen, der unmöglich dem Begründer der Proportionslehre zur Last fallen könne, und daher einem älte- ren Polyklet aufgebürdet werden müsse. Aber was bedeutet quadratum, das griechische tetragonon, auf den menschlichen Körper angewendet? neque gracile neque obesum 4), compactis firmisque membris 5); also gerade dasselbe, was Galen und Lucian vom Kanon des Polyklet aussagen. Dazu kommt aber, dass jenes Urtheil des Varro über Polyklet im engsten Zusammen- hange mit einem andern über Lysipp zu fassen ist. Polyklet's Figuren sind quadrata, "vierschrötig", wenn man sie mit denen des Lysipp vergleicht, welcher eine neue Proportionslehre auf-
1) XII, 10, 8.
2) III, 1.
3) 34, 56.
4) Cels. II, 1.
5) Suet. Vesp. 20.
gung die vornehmste Stelle einnehmen, und hören wir dazu das Urtheil Quintilian’s 1): dass Polyklet das gewichtigere Alter gemieden und nichts über glatte Wangen hinaus gewagt habe; so gelangen wir zu dem Schlusse: dass Polyklet’s Stre- ben gewesen sei, absolute, ganz allgemein gültige Regeln über die Proportionen des menschlichen Körpers in seinem mittleren Durchschnitt nach Grösse, Alter u. s. w. aufzustellen. Von welcher Art dieselben sein mochten, können uns am besten die von Vitruv 2) angegebenen Maasse lehren, welche das Ver- hältniss der einzelnen Theile zum Ganzen in festen Zahlen ausdrücken. Er fügt hinzu, dass die alten Maler und berühmten Bildhauer sich an diese Maasse gehalten hätten, und es wäre demnach sogar möglich, dass er sie direct von Polyklet’s Ka- non entlehnt hätte. Doch kann darüber nur eine eigene zu diesem Zwecke veranstaltete genaue Untersuchung noch er- haltener Denkmäler Aufschluss und Sicherheit gewähren.
Da nun aber ein vollkommener Körper in der gemeinen Wirklichkeit nicht existirt, jenes mittlere Maass also erst durch Beobachtung oder Berechnung gefunden werden muss, so kön- nen hier je nach der Annahme verschiedener Ausgangspunkte auch verschiedene Resultate erzielt werden, und unter diesen Voraussetzungen auch neben einander auf Gültigkeit Anspruch machen. Wir würden daher über den besonderen Charakter der polykletischen Proportionen noch immer in Ungewissheit sein, gäbe uns nicht ein Wort des Varro bei Plinius 3) einen Anhaltspunkt. Er nennt nemlich die Bildsäulen des Polyklet quadrata. In diesem Ausdrucke nun hat Thiersch einen schar- fen Tadel sehen wollen, der unmöglich dem Begründer der Proportionslehre zur Last fallen könne, und daher einem älte- ren Polyklet aufgebürdet werden müsse. Aber was bedeutet quadratum, das griechische τετράγωνον, auf den menschlichen Körper angewendet? neque gracile neque obesum 4), compactis firmisque membris 5); also gerade dasselbe, was Galen und Lucian vom Kanon des Polyklet aussagen. Dazu kommt aber, dass jenes Urtheil des Varro über Polyklet im engsten Zusammen- hange mit einem andern über Lysipp zu fassen ist. Polyklet’s Figuren sind quadrata, „vierschrötig”, wenn man sie mit denen des Lysipp vergleicht, welcher eine neue Proportionslehre auf-
1) XII, 10, 8.
2) III, 1.
3) 34, 56.
4) Cels. II, 1.
5) Suet. Vesp. 20.
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gung die vornehmste Stelle einnehmen, und hören wir dazu
das Urtheil Quintilian’s 1): dass Polyklet das gewichtigere
Alter gemieden und nichts über glatte Wangen hinaus gewagt
habe; so gelangen wir zu dem Schlusse: dass Polyklet’s Stre-
ben gewesen sei, absolute, ganz allgemein gültige Regeln über
die Proportionen des menschlichen Körpers in seinem mittleren
Durchschnitt nach Grösse, Alter u. s. w. aufzustellen. Von
welcher Art dieselben sein mochten, können uns am besten
die von Vitruv 2) angegebenen Maasse lehren, welche das Ver-
hältniss der einzelnen Theile zum Ganzen in festen Zahlen
ausdrücken. Er fügt hinzu, dass die alten Maler und berühmten
Bildhauer sich an diese Maasse gehalten hätten, und es wäre
demnach sogar möglich, dass er sie direct von Polyklet’s Ka-
non entlehnt hätte. Doch kann darüber nur eine eigene zu
diesem Zwecke veranstaltete genaue Untersuchung noch er-
haltener Denkmäler Aufschluss und Sicherheit gewähren.
Da nun aber ein vollkommener Körper in der gemeinen
Wirklichkeit nicht existirt, jenes mittlere Maass also erst durch
Beobachtung oder Berechnung gefunden werden muss, so kön-
nen hier je nach der Annahme verschiedener Ausgangspunkte
auch verschiedene Resultate erzielt werden, und unter diesen
Voraussetzungen auch neben einander auf Gültigkeit Anspruch
machen. Wir würden daher über den besonderen Charakter
der polykletischen Proportionen noch immer in Ungewissheit
sein, gäbe uns nicht ein Wort des Varro bei Plinius 3) einen
Anhaltspunkt. Er nennt nemlich die Bildsäulen des Polyklet
quadrata. In diesem Ausdrucke nun hat Thiersch einen schar-
fen Tadel sehen wollen, der unmöglich dem Begründer der
Proportionslehre zur Last fallen könne, und daher einem älte-
ren Polyklet aufgebürdet werden müsse. Aber was bedeutet
quadratum, das griechische τετράγωνον, auf den menschlichen
Körper angewendet? neque gracile neque obesum 4), compactis
firmisque membris 5); also gerade dasselbe, was Galen und Lucian
vom Kanon des Polyklet aussagen. Dazu kommt aber, dass
jenes Urtheil des Varro über Polyklet im engsten Zusammen-
hange mit einem andern über Lysipp zu fassen ist. Polyklet’s
Figuren sind quadrata, „vierschrötig”, wenn man sie mit denen
des Lysipp vergleicht, welcher eine neue Proportionslehre auf-
1) XII, 10, 8.
2) III, 1.
3) 34, 56.
4) Cels. II, 1.
5) Suet. Vesp. 20.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/233>, abgerufen am 22.11.2024.
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