Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

Leitung ausgeführt sein mag. Leider sind wir über das Ver-
hältniss, welches in dieser Beziehung zwischen Erfindung und
Ausführung stattfand, nur sehr ungenügend unterrichtet. Einen
Vergleichungspunkt bieten die Figuren am Fries des Erech-
theum. Sie sind zufolge der theilweise noch erhaltenen Rech-
nung einzeln von sonst unbekannten Künstlern ausgeführt 1).
Wir müssen also der Einheit des Werkes wegen nothwendig
eine einheitliche Leitung voraussetzen, durch welche der Ent-
wurf des Ganzen vorgezeichnet war. Jene Marmorarbeiter
höheren Ranges liehen dem erfindenden Künstler zunächst nur
ihre Hand. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass den vorzüg-
lichsten unter ihnen in der Modellirung und Ausführung des
Einzelnen eine gewisse Freiheit und Selbstständigkeit gewährt
war; andererseits aber eben so wenig, dass der eigentliche
Urheber des Ganzen zuweilen noch selbst die letzte Feile an-
legte, um die volle Harmonie aller Theile herzustellen. In
ähnlicher Weise, wie die Sculpturen des Erechtheum werden
auch die des Parthenon entstanden sein, und zwar so, dass
die Erfindung des Ganzen dem Phidias zuzuschreiben ist. Die
Ausführung mochte er seinen vorzüglichsten Schülern anver-
trauen, einem Alkamenes, der z. B. in Olympia den einen Tem-
pelgiebel mit Statuen schmückte; oder einem Agorakritos, der
zu seinem Lehrer in einem noch engeren Verhältnisse gestan-
den zu haben scheint. Dass sie nicht ausdrücklich diesem,
oder einem seiner Mitschüler zugeschrieben werden, mag darin
seinen Grund haben, dass ihm nicht der Ruhm der Erfindung
gebührt; dass sie dagegen auch nicht speciell Werke des Phi-
dias genannt werden, erklärt sich ebenso daraus, dass dieser,
wo er die Arbeit in sicheren Händen wusste, und noch dazu
stets unter Augen hatte, an der Ausführung so gut wie keinen
Antheil hatte. Wollten wir daher ihren Ursprung richtig be-
zeichnen; so würden wir sie kaum anders, als Werke aus der
Werkstatt des Phidias, nennen können. So erklärt sich auch,
wie die Nemesis zu Rhamnus, die Göttermutter in Athen von
den Einen dem Phidias, von den Anderen dem Agorakritos bei-
gelegt wird. Sie mochten eben von Agorakritos in der Werk-
statt des Phidias gearbeitet sein, ohne dass dieser einen an-
deren Antheil daran hatte, als dem Agorakritos mit seinem

1) Stephani in den Ann. dell' Inst. 1843, p. 286--327.

Leitung ausgeführt sein mag. Leider sind wir über das Ver-
hältniss, welches in dieser Beziehung zwischen Erfindung und
Ausführung stattfand, nur sehr ungenügend unterrichtet. Einen
Vergleichungspunkt bieten die Figuren am Fries des Erech-
theum. Sie sind zufolge der theilweise noch erhaltenen Rech-
nung einzeln von sonst unbekannten Künstlern ausgeführt 1).
Wir müssen also der Einheit des Werkes wegen nothwendig
eine einheitliche Leitung voraussetzen, durch welche der Ent-
wurf des Ganzen vorgezeichnet war. Jene Marmorarbeiter
höheren Ranges liehen dem erfindenden Künstler zunächst nur
ihre Hand. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass den vorzüg-
lichsten unter ihnen in der Modellirung und Ausführung des
Einzelnen eine gewisse Freiheit und Selbstständigkeit gewährt
war; andererseits aber eben so wenig, dass der eigentliche
Urheber des Ganzen zuweilen noch selbst die letzte Feile an-
legte, um die volle Harmonie aller Theile herzustellen. In
ähnlicher Weise, wie die Sculpturen des Erechtheum werden
auch die des Parthenon entstanden sein, und zwar so, dass
die Erfindung des Ganzen dem Phidias zuzuschreiben ist. Die
Ausführung mochte er seinen vorzüglichsten Schülern anver-
trauen, einem Alkamenes, der z. B. in Olympia den einen Tem-
pelgiebel mit Statuen schmückte; oder einem Agorakritos, der
zu seinem Lehrer in einem noch engeren Verhältnisse gestan-
den zu haben scheint. Dass sie nicht ausdrücklich diesem,
oder einem seiner Mitschüler zugeschrieben werden, mag darin
seinen Grund haben, dass ihm nicht der Ruhm der Erfindung
gebührt; dass sie dagegen auch nicht speciell Werke des Phi-
dias genannt werden, erklärt sich ebenso daraus, dass dieser,
wo er die Arbeit in sicheren Händen wusste, und noch dazu
stets unter Augen hatte, an der Ausführung so gut wie keinen
Antheil hatte. Wollten wir daher ihren Ursprung richtig be-
zeichnen; so würden wir sie kaum anders, als Werke aus der
Werkstatt des Phidias, nennen können. So erklärt sich auch,
wie die Nemesis zu Rhamnus, die Göttermutter in Athen von
den Einen dem Phidias, von den Anderen dem Agorakritos bei-
gelegt wird. Sie mochten eben von Agorakritos in der Werk-
statt des Phidias gearbeitet sein, ohne dass dieser einen an-
deren Antheil daran hatte, als dem Agorakritos mit seinem

1) Stephani in den Ann. dell’ Inst. 1843, p. 286—327.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0204" n="191"/>
Leitung ausgeführt sein mag. Leider sind wir über das Ver-<lb/>
hältniss, welches in dieser Beziehung zwischen Erfindung und<lb/>
Ausführung stattfand, nur sehr ungenügend unterrichtet. Einen<lb/>
Vergleichungspunkt bieten die Figuren am Fries des Erech-<lb/>
theum. Sie sind zufolge der theilweise noch erhaltenen Rech-<lb/>
nung einzeln von sonst unbekannten Künstlern ausgeführt <note place="foot" n="1)">Stephani in den Ann. dell&#x2019; Inst. 1843, p. 286&#x2014;327.</note>.<lb/>
Wir müssen also der Einheit des Werkes wegen nothwendig<lb/>
eine einheitliche Leitung voraussetzen, durch welche der Ent-<lb/>
wurf des Ganzen vorgezeichnet war. Jene Marmorarbeiter<lb/>
höheren Ranges liehen dem erfindenden Künstler zunächst nur<lb/>
ihre Hand. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass den vorzüg-<lb/>
lichsten unter ihnen in der Modellirung und Ausführung des<lb/>
Einzelnen eine gewisse Freiheit und Selbstständigkeit gewährt<lb/>
war; andererseits aber eben so wenig, dass der eigentliche<lb/>
Urheber des Ganzen zuweilen noch selbst die letzte Feile an-<lb/>
legte, um die volle Harmonie aller Theile herzustellen. In<lb/>
ähnlicher Weise, wie die Sculpturen des Erechtheum werden<lb/>
auch die des Parthenon entstanden sein, und zwar so, dass<lb/>
die Erfindung des Ganzen dem Phidias zuzuschreiben ist. Die<lb/>
Ausführung mochte er seinen vorzüglichsten Schülern anver-<lb/>
trauen, einem Alkamenes, der z. B. in Olympia den einen Tem-<lb/>
pelgiebel mit Statuen schmückte; oder einem Agorakritos, der<lb/>
zu seinem Lehrer in einem noch engeren Verhältnisse gestan-<lb/>
den zu haben scheint. Dass sie nicht ausdrücklich diesem,<lb/>
oder einem seiner Mitschüler zugeschrieben werden, mag darin<lb/>
seinen Grund haben, dass ihm nicht der Ruhm der Erfindung<lb/>
gebührt; dass sie dagegen auch nicht speciell Werke des Phi-<lb/>
dias genannt werden, erklärt sich ebenso daraus, dass dieser,<lb/>
wo er die Arbeit in sicheren Händen wusste, und noch dazu<lb/>
stets unter Augen hatte, an der Ausführung so gut wie keinen<lb/>
Antheil hatte. Wollten wir daher ihren Ursprung richtig be-<lb/>
zeichnen; so würden wir sie kaum anders, als Werke aus der<lb/>
Werkstatt des Phidias, nennen können. So erklärt sich auch,<lb/>
wie die Nemesis zu Rhamnus, die Göttermutter in Athen von<lb/>
den Einen dem Phidias, von den Anderen dem Agorakritos bei-<lb/>
gelegt wird. Sie mochten eben von Agorakritos in der Werk-<lb/>
statt des Phidias gearbeitet sein, ohne dass dieser einen an-<lb/>
deren Antheil daran hatte, als dem Agorakritos mit seinem<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0204] Leitung ausgeführt sein mag. Leider sind wir über das Ver- hältniss, welches in dieser Beziehung zwischen Erfindung und Ausführung stattfand, nur sehr ungenügend unterrichtet. Einen Vergleichungspunkt bieten die Figuren am Fries des Erech- theum. Sie sind zufolge der theilweise noch erhaltenen Rech- nung einzeln von sonst unbekannten Künstlern ausgeführt 1). Wir müssen also der Einheit des Werkes wegen nothwendig eine einheitliche Leitung voraussetzen, durch welche der Ent- wurf des Ganzen vorgezeichnet war. Jene Marmorarbeiter höheren Ranges liehen dem erfindenden Künstler zunächst nur ihre Hand. Dies schliesst jedoch nicht aus, dass den vorzüg- lichsten unter ihnen in der Modellirung und Ausführung des Einzelnen eine gewisse Freiheit und Selbstständigkeit gewährt war; andererseits aber eben so wenig, dass der eigentliche Urheber des Ganzen zuweilen noch selbst die letzte Feile an- legte, um die volle Harmonie aller Theile herzustellen. In ähnlicher Weise, wie die Sculpturen des Erechtheum werden auch die des Parthenon entstanden sein, und zwar so, dass die Erfindung des Ganzen dem Phidias zuzuschreiben ist. Die Ausführung mochte er seinen vorzüglichsten Schülern anver- trauen, einem Alkamenes, der z. B. in Olympia den einen Tem- pelgiebel mit Statuen schmückte; oder einem Agorakritos, der zu seinem Lehrer in einem noch engeren Verhältnisse gestan- den zu haben scheint. Dass sie nicht ausdrücklich diesem, oder einem seiner Mitschüler zugeschrieben werden, mag darin seinen Grund haben, dass ihm nicht der Ruhm der Erfindung gebührt; dass sie dagegen auch nicht speciell Werke des Phi- dias genannt werden, erklärt sich ebenso daraus, dass dieser, wo er die Arbeit in sicheren Händen wusste, und noch dazu stets unter Augen hatte, an der Ausführung so gut wie keinen Antheil hatte. Wollten wir daher ihren Ursprung richtig be- zeichnen; so würden wir sie kaum anders, als Werke aus der Werkstatt des Phidias, nennen können. So erklärt sich auch, wie die Nemesis zu Rhamnus, die Göttermutter in Athen von den Einen dem Phidias, von den Anderen dem Agorakritos bei- gelegt wird. Sie mochten eben von Agorakritos in der Werk- statt des Phidias gearbeitet sein, ohne dass dieser einen an- deren Antheil daran hatte, als dem Agorakritos mit seinem 1) Stephani in den Ann. dell’ Inst. 1843, p. 286—327.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/204
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/204>, abgerufen am 22.11.2024.