die mögliche Verwechselung mit der Wirklichkeit nicht genug hervorzuheben. Ein Löwe will die Kuh zerreissen, ein Stier sie bespringen, ein Kalb an ihr saugen, die übrige Heerde schliesst sich an sie an, der Hirt wirft einen Stein nach ihr, um sie von der Stelle zu bewegen, er schlägt nach ihr, er peitscht sie, er tutet sie an; der Ackersmann bringt Kummet und Pflug sie einzuspannen, ein Dieb will sie stehlen, eine Bremse setzt sich auf ihr Fell, ja Myron selbst verwechselt sie mit den übrigen Thieren seiner Heerde" (Goethe). Nament- lich wiederholt sich zur Bezeichnung des höchsten Lebens mehrmals der Ausdruck empnoun, lebensvoll: das Werk schien athmen zu können. In ähnlicher Weise nennt Properz die Stiere auf dem Palatin vivida signa. Lesen wir weiter das Epigramm auf die Statue des Ladas, so heisst es wiederum: empnoe Lada; ihm soll der Rest des Odems gleichsam nur noch auf den äussersten Lippen sitzen, und gerade, wie von der Kuh befürchtet wird, sie werde entlaufen, wenn sie nicht an der Basis befestigt wäre, so schien es, als wolle Ladas von der Basis herabspringen, um den Siegeskranz zu empfan- gen. Ein ganz ähnliches Gefühl aber haben wir selbst, wenn wir nur eine gute Wiederholung des Diskobolos anschauen: wir glauben den Moment erleben zu müssen, wenn er vor- springt, und der Diskos, wie der Pfeil von der Sehne des Bo- gens, seinem Ziele zufliegt. Hiernach müssen wir als das vorzüglichste Kennzeichen myronischer Kunst die lebensvoll- ste Naturwahrheit betrachten.
Während nun aber von seinem Nebenbuhler Pythagoras gerühmt wird, dass dieser Nerven, Adern und das Haar feiner ausgebildet habe, wodurch doch natürlich eine möglichst ge- treue Nachahmung der Natur bezweckt wird, berichtet Pli- nius 1) von Myron gerade im Gegentheil: er habe das Haar an Haupt und Schaam nicht vollendeter gebildet, als es im roheren Alterthum hergebracht gewesen sei; ferner, nur bedacht auf den Körper, habe er den geistigen Ausdruck nicht zur Darstellung gebracht (corporum tenus curiosus animi sen- sus non expressisse). Diese mehr negativen Angaben gewäh- ren uns die Möglichkeit, das Verdienst, welches wir so eben
1) 34, 58.
die mögliche Verwechselung mit der Wirklichkeit nicht genug hervorzuheben. Ein Löwe will die Kuh zerreissen, ein Stier sie bespringen, ein Kalb an ihr saugen, die übrige Heerde schliesst sich an sie an, der Hirt wirft einen Stein nach ihr, um sie von der Stelle zu bewegen, er schlägt nach ihr, er peitscht sie, er tutet sie an; der Ackersmann bringt Kummet und Pflug sie einzuspannen, ein Dieb will sie stehlen, eine Bremse setzt sich auf ihr Fell, ja Myron selbst verwechselt sie mit den übrigen Thieren seiner Heerde” (Goethe). Nament- lich wiederholt sich zur Bezeichnung des höchsten Lebens mehrmals der Ausdruck ἔμπνουν, lebensvoll: das Werk schien athmen zu können. In ähnlicher Weise nennt Properz die Stiere auf dem Palatin vivida signa. Lesen wir weiter das Epigramm auf die Statue des Ladas, so heisst es wiederum: ἔμπνοε Λάδα; ihm soll der Rest des Odems gleichsam nur noch auf den äussersten Lippen sitzen, und gerade, wie von der Kuh befürchtet wird, sie werde entlaufen, wenn sie nicht an der Basis befestigt wäre, so schien es, als wolle Ladas von der Basis herabspringen, um den Siegeskranz zu empfan- gen. Ein ganz ähnliches Gefühl aber haben wir selbst, wenn wir nur eine gute Wiederholung des Diskobolos anschauen: wir glauben den Moment erleben zu müssen, wenn er vor- springt, und der Diskos, wie der Pfeil von der Sehne des Bo- gens, seinem Ziele zufliegt. Hiernach müssen wir als das vorzüglichste Kennzeichen myronischer Kunst die lebensvoll- ste Naturwahrheit betrachten.
Während nun aber von seinem Nebenbuhler Pythagoras gerühmt wird, dass dieser Nerven, Adern und das Haar feiner ausgebildet habe, wodurch doch natürlich eine möglichst ge- treue Nachahmung der Natur bezweckt wird, berichtet Pli- nius 1) von Myron gerade im Gegentheil: er habe das Haar an Haupt und Schaam nicht vollendeter gebildet, als es im roheren Alterthum hergebracht gewesen sei; ferner, nur bedacht auf den Körper, habe er den geistigen Ausdruck nicht zur Darstellung gebracht (corporum tenus curiosus animi sen- sus non expressisse). Diese mehr negativen Angaben gewäh- ren uns die Möglichkeit, das Verdienst, welches wir so eben
1) 34, 58.
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die mögliche Verwechselung mit der Wirklichkeit nicht genug
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sie bespringen, ein Kalb an ihr saugen, die übrige Heerde
schliesst sich an sie an, der Hirt wirft einen Stein nach ihr,
um sie von der Stelle zu bewegen, er schlägt nach ihr, er
peitscht sie, er tutet sie an; der Ackersmann bringt Kummet
und Pflug sie einzuspannen, ein Dieb will sie stehlen, eine
Bremse setzt sich auf ihr Fell, ja Myron selbst verwechselt
sie mit den übrigen Thieren seiner Heerde” (Goethe). Nament-
lich wiederholt sich zur Bezeichnung des höchsten Lebens
mehrmals der Ausdruck ἔμπνουν, lebensvoll: das Werk schien
athmen zu können. In ähnlicher Weise nennt Properz die
Stiere auf dem Palatin vivida signa. Lesen wir weiter das
Epigramm auf die Statue des Ladas, so heisst es wiederum:
ἔμπνοε Λάδα; ihm soll der Rest des Odems gleichsam nur
noch auf den äussersten Lippen sitzen, und gerade, wie von
der Kuh befürchtet wird, sie werde entlaufen, wenn sie nicht
an der Basis befestigt wäre, so schien es, als wolle Ladas
von der Basis herabspringen, um den Siegeskranz zu empfan-
gen. Ein ganz ähnliches Gefühl aber haben wir selbst, wenn
wir nur eine gute Wiederholung des Diskobolos anschauen:
wir glauben den Moment erleben zu müssen, wenn er vor-
springt, und der Diskos, wie der Pfeil von der Sehne des Bo-
gens, seinem Ziele zufliegt. Hiernach müssen wir als das
vorzüglichste Kennzeichen myronischer Kunst die lebensvoll-
ste Naturwahrheit betrachten.
Während nun aber von seinem Nebenbuhler Pythagoras
gerühmt wird, dass dieser Nerven, Adern und das Haar feiner
ausgebildet habe, wodurch doch natürlich eine möglichst ge-
treue Nachahmung der Natur bezweckt wird, berichtet Pli-
nius 1) von Myron gerade im Gegentheil: er habe das Haar
an Haupt und Schaam nicht vollendeter gebildet, als es
im roheren Alterthum hergebracht gewesen sei; ferner, nur
bedacht auf den Körper, habe er den geistigen Ausdruck nicht
zur Darstellung gebracht (corporum tenus curiosus animi sen-
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ren uns die Möglichkeit, das Verdienst, welches wir so eben
1) 34, 58.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/161>, abgerufen am 22.11.2024.
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