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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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und deshalb die Stufe hoher Vollendung erreicht, lässt sich
in der Bildung der Menschengestalt durch die Vorurtheile, das
Herkommen seiner Zeit, noch Fesseln anlegen. Aber so wie
in einer Zeit, welche dem Verfalle der Kunst durch die Rück-
kehr zur Kindheit derselben einen Damm entgegensetzen will,
der Künstler sich nie die alte Einfalt ganz anzueignen vermag,
sondern sich durch eine Menge einzelner Züge verrathen wird,
welche nur einer vollkommen ausgebildeten Kunst angehören
können; so wird in einer Zeit, welche einer höheren Entwicke-
lung zustrebt, trotz alles Festhaltens am Hergebrachten der
Künstler sich getrieben fühlen, auf die Verfeinerung, sei es
der Form, sei es des Ausdrucks, eine stets wachsende Sorg-
falt zu verwenden. In welcher Richtung dies bei Kalamis der
Fall war, ist bei Gelegenheit der Worte Lucians bereits an-
gedeutet. Eine weitere Bestätigung gewährt uns Dionys von
Halikarnass. In seiner Schrift über Isokrates1) vergleicht er
diesen Redner mit Phidias und Polyklet in Hinsicht auf Ernst,
Würde und Erhabenheit, und setzt ihn dem Lysias entgegen,
der wegen seiner Zierlichkeit und Anmuth (tes leptotetos
eneka kai tes kharitos) mit Kalamis und Kallimachos2) auf einer
Stufe stehe: jene seien glücklicher im Grossartigen und Gött-
lichen, dem Charakter der letzteren entspreche dagegen die
minder hohe Sphäre des Menschlichen. -- Darin also stim-
men Dionys und Lucian vollkommen überein, dass sie die Ei-
genthümlichkeit des Kalamis nicht in einem hohen Schöpfungs-
vermögen erblicken, welches gewagt hätte, die höchsten, so-
wohl physischen als geistigen Kräfte durch die freieste Ge-
staltung aller Formen zur Darstellung zu bringen, und in sol-
chen freien Bildungen die höchste Aufgabe der Kunst zu er-
kennen. Was an ihm in verschiedener Weise als Vorzug
anerkannt wird, deutet vielmehr auf eine vorwiegende Thätig-
keit der Empfindung und des Gefühls, welche durch sinnige
Beobachtung dem Leben diejenigen Züge und Bewegungen ab-
zulauschen sucht, in denen der individuelle Ausdruck am be-
deutsamsten zur Erscheinung kommt. Eine gewisse Strenge

1) p. 95 Sylb.
2) Diese beiden Künstler werden auch bei Gregor von
Nazianz (in Tollii Itiner. Ital. p. 66) zusammengestellt, wo offenbar für den
gänzlich unbekannten Kalais Kalamis zu schreiben ist, sofern nicht der Irr-
thum schon von Gregor herrührt, der in dieser Stelle hinsichtlich der Künstler
überhaupt sich schlecht unterrichtet zeigt.
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und deshalb die Stufe hoher Vollendung erreicht, lässt sich
in der Bildung der Menschengestalt durch die Vorurtheile, das
Herkommen seiner Zeit, noch Fesseln anlegen. Aber so wie
in einer Zeit, welche dem Verfalle der Kunst durch die Rück-
kehr zur Kindheit derselben einen Damm entgegensetzen will,
der Künstler sich nie die alte Einfalt ganz anzueignen vermag,
sondern sich durch eine Menge einzelner Züge verrathen wird,
welche nur einer vollkommen ausgebildeten Kunst angehören
können; so wird in einer Zeit, welche einer höheren Entwicke-
lung zustrebt, trotz alles Festhaltens am Hergebrachten der
Künstler sich getrieben fühlen, auf die Verfeinerung, sei es
der Form, sei es des Ausdrucks, eine stets wachsende Sorg-
falt zu verwenden. In welcher Richtung dies bei Kalamis der
Fall war, ist bei Gelegenheit der Worte Lucians bereits an-
gedeutet. Eine weitere Bestätigung gewährt uns Dionys von
Halikarnass. In seiner Schrift über Isokrates1) vergleicht er
diesen Redner mit Phidias und Polyklet in Hinsicht auf Ernst,
Würde und Erhabenheit, und setzt ihn dem Lysias entgegen,
der wegen seiner Zierlichkeit und Anmuth (τῆς λεπτότητος
ἕνεκα καὶ τῆς χάριτος) mit Kalamis und Kallimachos2) auf einer
Stufe stehe: jene seien glücklicher im Grossartigen und Gött-
lichen, dem Charakter der letzteren entspreche dagegen die
minder hohe Sphäre des Menschlichen. — Darin also stim-
men Dionys und Lucian vollkommen überein, dass sie die Ei-
genthümlichkeit des Kalamis nicht in einem hohen Schöpfungs-
vermögen erblicken, welches gewagt hätte, die höchsten, so-
wohl physischen als geistigen Kräfte durch die freieste Ge-
staltung aller Formen zur Darstellung zu bringen, und in sol-
chen freien Bildungen die höchste Aufgabe der Kunst zu er-
kennen. Was an ihm in verschiedener Weise als Vorzug
anerkannt wird, deutet vielmehr auf eine vorwiegende Thätig-
keit der Empfindung und des Gefühls, welche durch sinnige
Beobachtung dem Leben diejenigen Züge und Bewegungen ab-
zulauschen sucht, in denen der individuelle Ausdruck am be-
deutsamsten zur Erscheinung kommt. Eine gewisse Strenge

1) p. 95 Sylb.
2) Diese beiden Künstler werden auch bei Gregor von
Nazianz (in Tollii Itiner. Ital. p. 66) zusammengestellt, wo offenbar für den
gänzlich unbekannten Κάλαϊς Κάλαμις zu schreiben ist, sofern nicht der Irr-
thum schon von Gregor herrührt, der in dieser Stelle hinsichtlich der Künstler
überhaupt sich schlecht unterrichtet zeigt.
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[131/0144] und deshalb die Stufe hoher Vollendung erreicht, lässt sich in der Bildung der Menschengestalt durch die Vorurtheile, das Herkommen seiner Zeit, noch Fesseln anlegen. Aber so wie in einer Zeit, welche dem Verfalle der Kunst durch die Rück- kehr zur Kindheit derselben einen Damm entgegensetzen will, der Künstler sich nie die alte Einfalt ganz anzueignen vermag, sondern sich durch eine Menge einzelner Züge verrathen wird, welche nur einer vollkommen ausgebildeten Kunst angehören können; so wird in einer Zeit, welche einer höheren Entwicke- lung zustrebt, trotz alles Festhaltens am Hergebrachten der Künstler sich getrieben fühlen, auf die Verfeinerung, sei es der Form, sei es des Ausdrucks, eine stets wachsende Sorg- falt zu verwenden. In welcher Richtung dies bei Kalamis der Fall war, ist bei Gelegenheit der Worte Lucians bereits an- gedeutet. Eine weitere Bestätigung gewährt uns Dionys von Halikarnass. In seiner Schrift über Isokrates 1) vergleicht er diesen Redner mit Phidias und Polyklet in Hinsicht auf Ernst, Würde und Erhabenheit, und setzt ihn dem Lysias entgegen, der wegen seiner Zierlichkeit und Anmuth (τῆς λεπτότητος ἕνεκα καὶ τῆς χάριτος) mit Kalamis und Kallimachos 2) auf einer Stufe stehe: jene seien glücklicher im Grossartigen und Gött- lichen, dem Charakter der letzteren entspreche dagegen die minder hohe Sphäre des Menschlichen. — Darin also stim- men Dionys und Lucian vollkommen überein, dass sie die Ei- genthümlichkeit des Kalamis nicht in einem hohen Schöpfungs- vermögen erblicken, welches gewagt hätte, die höchsten, so- wohl physischen als geistigen Kräfte durch die freieste Ge- staltung aller Formen zur Darstellung zu bringen, und in sol- chen freien Bildungen die höchste Aufgabe der Kunst zu er- kennen. Was an ihm in verschiedener Weise als Vorzug anerkannt wird, deutet vielmehr auf eine vorwiegende Thätig- keit der Empfindung und des Gefühls, welche durch sinnige Beobachtung dem Leben diejenigen Züge und Bewegungen ab- zulauschen sucht, in denen der individuelle Ausdruck am be- deutsamsten zur Erscheinung kommt. Eine gewisse Strenge 1) p. 95 Sylb. 2) Diese beiden Künstler werden auch bei Gregor von Nazianz (in Tollii Itiner. Ital. p. 66) zusammengestellt, wo offenbar für den gänzlich unbekannten Κάλαϊς Κάλαμις zu schreiben ist, sofern nicht der Irr- thum schon von Gregor herrührt, der in dieser Stelle hinsichtlich der Künstler überhaupt sich schlecht unterrichtet zeigt. 9 *

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/144>, abgerufen am 22.11.2024.