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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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seine Freiheit unverkümmert gelassen ist, bietet sich ihm die
Gelegenheit dar, seine Kenntniss der Natur, der wirklichen
Erscheinung in vollem Maasse zu zeigen. So ist es bei Ka-
lamis der Fall. Seine Rosse sind semper sine aemulo ex-
pressi1); sie sind von einer Vollkommenheit, welche sich über
den Stand der damaligen Kunst weit erheben musste, wenn,
wie Plinius berichtet, "auf ein Viergespann des Kalamis Praxi-
teles einen Wagenlenker von seiner eigenen Hand setzte, da-
mit Kalamis, vorzüglicher in der Bildung der Rosse, nicht für
unfähig bei der menschlichen Gestalt gehalten werde." Wie
reimt sich aber mit dieser Erzählung das Urtheil, welches Pli-
nius unmittelbar daran anknüpft? "Aber damit er nicht bei
der Darstellung der Menschen in der That schwächer zu sein
scheine, so nenne ich seine Alkmene, die Niemand edler ge-
bildet haben würde." Um diesen Widerspruch in den Worten
des Plinius zu lösen, müssen wir das Lob genauer prüfen,
welches Lucian an zwei Stellen einem andern Werke des Ka-
lamis, der Sosandra, spendet. In der ersten2) ist von dem
Tanze einer Hetaere Thais die Rede: "Diphilos lobte das Har-
monische und Chormässige der Bewegung, dass der Fuss wohl-
stehe zur Cither, und wie schön der Knöchel sei, gleich als
ob er die Sosandra des Kalamis preise und nicht diese Thais,
die du ja vom Bade her kennst." Auf welche Verdienste bei
der Statue der Sosandra Lucian eigentlich ziele, ist hier nicht
mit besonderer Bestimmtheit ausgesprochen. Nehmen wir je-
doch die Aeusserung hinzu, dass Thais, ziemlich unbesorgt
um keuschen Anstand, ihr Gewand hoch aufnimmt, um ihren
Fuss zu zeigen, dass eine andere Hetaere Philinna den Spöt-
tereien über die Magerkeit ihrer Schenkel zu begegnen sucht,
indem sie sich ebenfalls zum Tanze anschickt; so scheint die-
ser Schilderung gegenüber das Wesen der Sosandra in einer
anstandsvollen, keuschen und züchtigen Haltung gesucht wer-
den zu müssen. Und diese Auffassung bewährt sich als die
richtige durch die Betrachtung der zweiten Stelle Lucians3),
in welcher er nach Art der Caracci eine Frauenschönheit aus
Bruchtheilen der berühmtesten Meisterwerke zusammensetzt.
Dabei wird der Sosandra in folgender Weise gedacht: "So-

1) Plin. 34, 71; vgl. Prop. III, 9, 10. Ovid. Pont. IV, 1, 33.
2) Dial.
meretr. III, 3.
3) Imagg. 6.
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 9

seine Freiheit unverkümmert gelassen ist, bietet sich ihm die
Gelegenheit dar, seine Kenntniss der Natur, der wirklichen
Erscheinung in vollem Maasse zu zeigen. So ist es bei Ka-
lamis der Fall. Seine Rosse sind semper sine aemulo ex-
pressi1); sie sind von einer Vollkommenheit, welche sich über
den Stand der damaligen Kunst weit erheben musste, wenn,
wie Plinius berichtet, „auf ein Viergespann des Kalamis Praxi-
teles einen Wagenlenker von seiner eigenen Hand setzte, da-
mit Kalamis, vorzüglicher in der Bildung der Rosse, nicht für
unfähig bei der menschlichen Gestalt gehalten werde.” Wie
reimt sich aber mit dieser Erzählung das Urtheil, welches Pli-
nius unmittelbar daran anknüpft? „Aber damit er nicht bei
der Darstellung der Menschen in der That schwächer zu sein
scheine, so nenne ich seine Alkmene, die Niemand edler ge-
bildet haben würde.” Um diesen Widerspruch in den Worten
des Plinius zu lösen, müssen wir das Lob genauer prüfen,
welches Lucian an zwei Stellen einem andern Werke des Ka-
lamis, der Sosandra, spendet. In der ersten2) ist von dem
Tanze einer Hetaere Thaïs die Rede: „Diphilos lobte das Har-
monische und Chormässige der Bewegung, dass der Fuss wohl-
stehe zur Cither, und wie schön der Knöchel sei, gleich als
ob er die Sosandra des Kalamis preise und nicht diese Thaïs,
die du ja vom Bade her kennst.” Auf welche Verdienste bei
der Statue der Sosandra Lucian eigentlich ziele, ist hier nicht
mit besonderer Bestimmtheit ausgesprochen. Nehmen wir je-
doch die Aeusserung hinzu, dass Thaïs, ziemlich unbesorgt
um keuschen Anstand, ihr Gewand hoch aufnimmt, um ihren
Fuss zu zeigen, dass eine andere Hetaere Philinna den Spöt-
tereien über die Magerkeit ihrer Schenkel zu begegnen sucht,
indem sie sich ebenfalls zum Tanze anschickt; so scheint die-
ser Schilderung gegenüber das Wesen der Sosandra in einer
anstandsvollen, keuschen und züchtigen Haltung gesucht wer-
den zu müssen. Und diese Auffassung bewährt sich als die
richtige durch die Betrachtung der zweiten Stelle Lucians3),
in welcher er nach Art der Caracci eine Frauenschönheit aus
Bruchtheilen der berühmtesten Meisterwerke zusammensetzt.
Dabei wird der Sosandra in folgender Weise gedacht: „So-

1) Plin. 34, 71; vgl. Prop. III, 9, 10. Ovid. Pont. IV, 1, 33.
2) Dial.
meretr. III, 3.
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[129/0142] seine Freiheit unverkümmert gelassen ist, bietet sich ihm die Gelegenheit dar, seine Kenntniss der Natur, der wirklichen Erscheinung in vollem Maasse zu zeigen. So ist es bei Ka- lamis der Fall. Seine Rosse sind semper sine aemulo ex- pressi 1); sie sind von einer Vollkommenheit, welche sich über den Stand der damaligen Kunst weit erheben musste, wenn, wie Plinius berichtet, „auf ein Viergespann des Kalamis Praxi- teles einen Wagenlenker von seiner eigenen Hand setzte, da- mit Kalamis, vorzüglicher in der Bildung der Rosse, nicht für unfähig bei der menschlichen Gestalt gehalten werde.” Wie reimt sich aber mit dieser Erzählung das Urtheil, welches Pli- nius unmittelbar daran anknüpft? „Aber damit er nicht bei der Darstellung der Menschen in der That schwächer zu sein scheine, so nenne ich seine Alkmene, die Niemand edler ge- bildet haben würde.” Um diesen Widerspruch in den Worten des Plinius zu lösen, müssen wir das Lob genauer prüfen, welches Lucian an zwei Stellen einem andern Werke des Ka- lamis, der Sosandra, spendet. In der ersten 2) ist von dem Tanze einer Hetaere Thaïs die Rede: „Diphilos lobte das Har- monische und Chormässige der Bewegung, dass der Fuss wohl- stehe zur Cither, und wie schön der Knöchel sei, gleich als ob er die Sosandra des Kalamis preise und nicht diese Thaïs, die du ja vom Bade her kennst.” Auf welche Verdienste bei der Statue der Sosandra Lucian eigentlich ziele, ist hier nicht mit besonderer Bestimmtheit ausgesprochen. Nehmen wir je- doch die Aeusserung hinzu, dass Thaïs, ziemlich unbesorgt um keuschen Anstand, ihr Gewand hoch aufnimmt, um ihren Fuss zu zeigen, dass eine andere Hetaere Philinna den Spöt- tereien über die Magerkeit ihrer Schenkel zu begegnen sucht, indem sie sich ebenfalls zum Tanze anschickt; so scheint die- ser Schilderung gegenüber das Wesen der Sosandra in einer anstandsvollen, keuschen und züchtigen Haltung gesucht wer- den zu müssen. Und diese Auffassung bewährt sich als die richtige durch die Betrachtung der zweiten Stelle Lucians 3), in welcher er nach Art der Caracci eine Frauenschönheit aus Bruchtheilen der berühmtesten Meisterwerke zusammensetzt. Dabei wird der Sosandra in folgender Weise gedacht: „So- 1) Plin. 34, 71; vgl. Prop. III, 9, 10. Ovid. Pont. IV, 1, 33. 2) Dial. meretr. III, 3. 3) Imagg. 6. Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 9

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/142>, abgerufen am 22.11.2024.