Nahe bey der Mündung der Wolga, auf der Jvans-Jnsel (oder Johannis-Jnsel) stehet ein Thurm, worauf sich immer eine Wache befindet, die beständig Achtung geben muß, ob das Seewasser steigt oder fällt. Allein sie hat noch nicht den ge- ringsten Unterschied entdecken können; daher also wohl gewiß ist, daß es auf dem Caspischen Meere weder Ebbe noch Fluth giebt. Was dieses noch son- derbarer macht, ist, daß im Frühlinge, wenn der Schnee und das Eis schmelzen, und sich von den Bergen ergießen, und alle große und unzählig kleine Flüsse so angeschwollen sind, daß sie aus ihren Ufern treten, und alle wie eine Sündfluth in dieses Meer fallen, es auch zu der Zeit nicht im geringsten an- wächst, daher es ein großes Geheimniß ist, wo alles Wasser bleibt oder hinkommt, das beständig aus den Wolken und den Flüssen hinein fällt. Das Wasser ist so gesalzen, als im Ocean, ausgenommen nahe bey den Mündungen der Flüsse, wo es wegen der Vermischung mit so vielem frischen Wasser nur ein wenig salzig schmeckt.
Jch muß gestehen, daß dieses meine angenehm- ste Fahrt gewesen ist, die ich in meinem Leben ge- macht habe. Wir hatten beständig Ueberfluß an Le- bensmitteln, und fiengen über dieses so viel Vögel und Fische, daß wir sie kaum verzehren konnten, hat- ten auch die ganze Reise durch, ob es gleich sehr heiß war, nicht mehr als sieben Kranke. Sie würde mir noch angenehmer gewesen seyn, wenn ich mich mit den Turkomannischen und Usbeckischen Tartarn hätte unterreden und folglich eine Beschreibung von ihnen machen können; allein alle Tartarn lassen, ob sie
gleich
Wachthurm auf der Jo- hannisinſel.
Nahe bey der Muͤndung der Wolga, auf der Jvans-Jnſel (oder Johannis-Jnſel) ſtehet ein Thurm, worauf ſich immer eine Wache befindet, die beſtaͤndig Achtung geben muß, ob das Seewaſſer ſteigt oder faͤllt. Allein ſie hat noch nicht den ge- ringſten Unterſchied entdecken koͤnnen; daher alſo wohl gewiß iſt, daß es auf dem Caspiſchen Meere weder Ebbe noch Fluth giebt. Was dieſes noch ſon- derbarer macht, iſt, daß im Fruͤhlinge, wenn der Schnee und das Eis ſchmelzen, und ſich von den Bergen ergießen, und alle große und unzaͤhlig kleine Fluͤſſe ſo angeſchwollen ſind, daß ſie aus ihren Ufern treten, und alle wie eine Suͤndfluth in dieſes Meer fallen, es auch zu der Zeit nicht im geringſten an- waͤchſt, daher es ein großes Geheimniß iſt, wo alles Waſſer bleibt oder hinkommt, das beſtaͤndig aus den Wolken und den Fluͤſſen hinein faͤllt. Das Waſſer iſt ſo geſalzen, als im Ocean, ausgenommen nahe bey den Muͤndungen der Fluͤſſe, wo es wegen der Vermiſchung mit ſo vielem friſchen Waſſer nur ein wenig ſalzig ſchmeckt.
Jch muß geſtehen, daß dieſes meine angenehm- ſte Fahrt geweſen iſt, die ich in meinem Leben ge- macht habe. Wir hatten beſtaͤndig Ueberfluß an Le- bensmitteln, und fiengen uͤber dieſes ſo viel Voͤgel und Fiſche, daß wir ſie kaum verzehren konnten, hat- ten auch die ganze Reiſe durch, ob es gleich ſehr heiß war, nicht mehr als ſieben Kranke. Sie wuͤrde mir noch angenehmer geweſen ſeyn, wenn ich mich mit den Turkomanniſchen und Usbeckiſchen Tartarn haͤtte unterreden und folglich eine Beſchreibung von ihnen machen koͤnnen; allein alle Tartarn laſſen, ob ſie
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Nahe bey der Muͤndung der Wolga, auf der
Jvans-Jnſel (oder Johannis-Jnſel) ſtehet ein
Thurm, worauf ſich immer eine Wache befindet, die
beſtaͤndig Achtung geben muß, ob das Seewaſſer
ſteigt oder faͤllt. Allein ſie hat noch nicht den ge-
ringſten Unterſchied entdecken koͤnnen; daher alſo
wohl gewiß iſt, daß es auf dem Caspiſchen Meere
weder Ebbe noch Fluth giebt. Was dieſes noch ſon-
derbarer macht, iſt, daß im Fruͤhlinge, wenn der
Schnee und das Eis ſchmelzen, und ſich von den
Bergen ergießen, und alle große und unzaͤhlig kleine
Fluͤſſe ſo angeſchwollen ſind, daß ſie aus ihren Ufern
treten, und alle wie eine Suͤndfluth in dieſes Meer
fallen, es auch zu der Zeit nicht im geringſten an-
waͤchſt, daher es ein großes Geheimniß iſt, wo alles
Waſſer bleibt oder hinkommt, das beſtaͤndig aus den
Wolken und den Fluͤſſen hinein faͤllt. Das Waſſer
iſt ſo geſalzen, als im Ocean, ausgenommen nahe
bey den Muͤndungen der Fluͤſſe, wo es wegen der
Vermiſchung mit ſo vielem friſchen Waſſer nur ein
wenig ſalzig ſchmeckt.
Jch muß geſtehen, daß dieſes meine angenehm-
ſte Fahrt geweſen iſt, die ich in meinem Leben ge-
macht habe. Wir hatten beſtaͤndig Ueberfluß an Le-
bensmitteln, und fiengen uͤber dieſes ſo viel Voͤgel
und Fiſche, daß wir ſie kaum verzehren konnten, hat-
ten auch die ganze Reiſe durch, ob es gleich ſehr heiß
war, nicht mehr als ſieben Kranke. Sie wuͤrde mir
noch angenehmer geweſen ſeyn, wenn ich mich mit
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Bruce, Peter Henry: Des Herrn Peter Heinrich Bruce [...] Nachrichten von seinen Reisen in Deutschland, Rußland, die Tartarey, Türkey, Westindien u. s. f. Leipzig, 1784, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bruce_reisen_1784/392>, abgerufen am 22.11.2024.
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