Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Anleitung

Flieht sie; eilet man ihr nach: fällt sie; hänget man
ihr an.

Oefters hat die Welt durch Lust uns vom Schöpfer ab-
gezogen,

Jtzt ist sie so voller Leid, daß man von ihr sagen kann,
Sie schick' uns dem Schöpfer zu. Laßt uns denn, da-
durch bewogen,

Gehn, da wir gesendet werden! gehen, da man gehen
muß!

Da der Kerker sich eröffnet, warum faßt man nicht den
Schluß,

Jhn mit Freuden zu verlassen? warum lassen wir uns
doch

Wider Willen aus ihm reißen? weil wir, leider! unser
Joch,

Unsre Plag- und Ketten lieben: und, durch Meynungen
verführt,

Deren Falschheit wir doch kennen, man sich mehrentheils
vergnüget,

Daß wir andere betriegen, oder daß man uns betrieget.
Es wird, wie wir es erfahren, solche Lieb' in uns ver-
spürt

Auch zum jämmerlichsten Leben, daß man vor der Ar-
zeney

Selbst erschrickt, und nicht verlangt, daß uns ausgeholfen
sey.

Möchte man mit Seneca sich entschließen, so zu sagen:
"O wie wenig kennen die ihren Jammer, ihre Plagen,
"Die den Tod, wodurch wir uns von so vielem Kummer
trennen,

"Als die herrlichste Erfindung der Natur, nicht aner-
kennen!

Dieses

Anleitung

Flieht ſie; eilet man ihr nach: faͤllt ſie; haͤnget man
ihr an.

Oefters hat die Welt durch Luſt uns vom Schoͤpfer ab-
gezogen,

Jtzt iſt ſie ſo voller Leid, daß man von ihr ſagen kann,
Sie ſchick’ uns dem Schoͤpfer zu. Laßt uns denn, da-
durch bewogen,

Gehn, da wir geſendet werden! gehen, da man gehen
muß!

Da der Kerker ſich eroͤffnet, warum faßt man nicht den
Schluß,

Jhn mit Freuden zu verlaſſen? warum laſſen wir uns
doch

Wider Willen aus ihm reißen? weil wir, leider! unſer
Joch,

Unſre Plag- und Ketten lieben: und, durch Meynungen
verfuͤhrt,

Deren Falſchheit wir doch kennen, man ſich mehrentheils
vergnuͤget,

Daß wir andere betriegen, oder daß man uns betrieget.
Es wird, wie wir es erfahren, ſolche Lieb’ in uns ver-
ſpuͤrt

Auch zum jaͤmmerlichſten Leben, daß man vor der Ar-
zeney

Selbſt erſchrickt, und nicht verlangt, daß uns ausgeholfen
ſey.

Moͤchte man mit Seneca ſich entſchließen, ſo zu ſagen:
„O wie wenig kennen die ihren Jammer, ihre Plagen,
„Die den Tod, wodurch wir uns von ſo vielem Kummer
trennen,

„Als die herrlichſte Erfindung der Natur, nicht aner-
kennen!

Dieſes
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg>
              <l>
                <pb facs="#f0598" n="578"/>
                <fw place="top" type="header">Anleitung</fw>
              </l><lb/>
              <l>Flieht &#x017F;ie; eilet man ihr nach: fa&#x0364;llt &#x017F;ie; ha&#x0364;nget man<lb/><hi rendition="#et">ihr an.</hi></l><lb/>
              <l>Oefters hat die Welt durch Lu&#x017F;t uns vom Scho&#x0364;pfer ab-<lb/><hi rendition="#et">gezogen,</hi></l><lb/>
              <l>Jtzt i&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;o voller Leid, daß man von ihr &#x017F;agen kann,</l><lb/>
              <l>Sie &#x017F;chick&#x2019; uns dem Scho&#x0364;pfer zu. Laßt uns denn, da-<lb/><hi rendition="#et">durch bewogen,</hi></l><lb/>
              <l>Gehn, da wir ge&#x017F;endet werden! gehen, da man gehen<lb/><hi rendition="#et">muß!</hi></l><lb/>
              <l>Da der Kerker &#x017F;ich ero&#x0364;ffnet, warum faßt man nicht den<lb/><hi rendition="#et">Schluß,</hi></l><lb/>
              <l>Jhn mit Freuden zu verla&#x017F;&#x017F;en? warum la&#x017F;&#x017F;en wir uns<lb/><hi rendition="#et">doch</hi></l><lb/>
              <l>Wider Willen aus ihm reißen? weil wir, leider! un&#x017F;er<lb/><hi rendition="#et">Joch,</hi></l><lb/>
              <l>Un&#x017F;re Plag- und Ketten lieben: und, durch Meynungen<lb/><hi rendition="#et">verfu&#x0364;hrt,</hi></l><lb/>
              <l>Deren Fal&#x017F;chheit wir doch kennen, man &#x017F;ich mehrentheils<lb/><hi rendition="#et">vergnu&#x0364;get,</hi></l><lb/>
              <l>Daß wir andere betriegen, oder daß man uns betrieget.</l><lb/>
              <l>Es wird, wie wir es erfahren, &#x017F;olche Lieb&#x2019; in uns ver-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;pu&#x0364;rt</hi></l><lb/>
              <l>Auch zum ja&#x0364;mmerlich&#x017F;ten Leben, daß man vor der Ar-<lb/><hi rendition="#et">zeney</hi></l><lb/>
              <l>Selb&#x017F;t er&#x017F;chrickt, und nicht verlangt, daß uns ausgeholfen<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;ey.</hi></l><lb/>
              <l>Mo&#x0364;chte man mit Seneca &#x017F;ich ent&#x017F;chließen, &#x017F;o zu &#x017F;agen:<lb/>
&#x201E;O wie wenig kennen die ihren Jammer, ihre Plagen,<lb/>
&#x201E;Die den Tod, wodurch wir uns von &#x017F;o vielem Kummer<lb/><hi rendition="#et">trennen,</hi></l><lb/>
              <l>&#x201E;Als die herrlich&#x017F;te Erfindung der Natur, nicht aner-<lb/><hi rendition="#et">kennen!</hi></l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Die&#x017F;es</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[578/0598] Anleitung Flieht ſie; eilet man ihr nach: faͤllt ſie; haͤnget man ihr an. Oefters hat die Welt durch Luſt uns vom Schoͤpfer ab- gezogen, Jtzt iſt ſie ſo voller Leid, daß man von ihr ſagen kann, Sie ſchick’ uns dem Schoͤpfer zu. Laßt uns denn, da- durch bewogen, Gehn, da wir geſendet werden! gehen, da man gehen muß! Da der Kerker ſich eroͤffnet, warum faßt man nicht den Schluß, Jhn mit Freuden zu verlaſſen? warum laſſen wir uns doch Wider Willen aus ihm reißen? weil wir, leider! unſer Joch, Unſre Plag- und Ketten lieben: und, durch Meynungen verfuͤhrt, Deren Falſchheit wir doch kennen, man ſich mehrentheils vergnuͤget, Daß wir andere betriegen, oder daß man uns betrieget. Es wird, wie wir es erfahren, ſolche Lieb’ in uns ver- ſpuͤrt Auch zum jaͤmmerlichſten Leben, daß man vor der Ar- zeney Selbſt erſchrickt, und nicht verlangt, daß uns ausgeholfen ſey. Moͤchte man mit Seneca ſich entſchließen, ſo zu ſagen: „O wie wenig kennen die ihren Jammer, ihre Plagen, „Die den Tod, wodurch wir uns von ſo vielem Kummer trennen, „Als die herrlichſte Erfindung der Natur, nicht aner- kennen! Dieſes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/598
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/598>, abgerufen am 25.11.2024.