Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748.
Wenn mancher sich auf diese Art die Wollust vorzu- stellen wüßte, Und säh sie seine Phantasey mit allen schlimmen Folgen an, So weis ich nicht, ob er wohl sollte den Gift so unglück- selger Lüste, So eifrig, als anjetzt, verlangen; obwohl, wie jetzo jedermann, Da wir sie uns nicht wie sie sind, nur wie sie scheinen, vorgestellt, Sie ärger denn vermeiden würde, als das Gefährlichste der Welt? So geht es auch mit andern Lastern, die alle dadurch ganz allein, Daß sie in unsrer Phantasey viel anders scheinen, als sie seyn, So süß, so angenehm uns scheinen. Ach, daß man dieß nicht überlegt: Daß jedes Laster seine Strafe wahrhaftig auf dem Rü- cken trägt! Dem allen tritt noch dieses bey, daß uns, bey der Unwissenheit Von ihrem Greul, nach der darinn von uns geglaubten Süßigkeit, Fast das Verbot die Lust noch mehret, indem uns die Erfahrung lehrt, Daß wir nach dem Verbotnen streben, wovon der Grund denn leicht zu finden, Weil wir in dem, was uns verboten, das Schädliche nicht leicht ergründen. Das
Wenn mancher ſich auf dieſe Art die Wolluſt vorzu- ſtellen wuͤßte, Und ſaͤh ſie ſeine Phantaſey mit allen ſchlimmen Folgen an, So weis ich nicht, ob er wohl ſollte den Gift ſo ungluͤck- ſelger Luͤſte, So eifrig, als anjetzt, verlangen; obwohl, wie jetzo jedermann, Da wir ſie uns nicht wie ſie ſind, nur wie ſie ſcheinen, vorgeſtellt, Sie aͤrger denn vermeiden wuͤrde, als das Gefaͤhrlichſte der Welt? So geht es auch mit andern Laſtern, die alle dadurch ganz allein, Daß ſie in unſrer Phantaſey viel anders ſcheinen, als ſie ſeyn, So ſuͤß, ſo angenehm uns ſcheinen. Ach, daß man dieß nicht uͤberlegt: Daß jedes Laſter ſeine Strafe wahrhaftig auf dem Ruͤ- cken traͤgt! Dem allen tritt noch dieſes bey, daß uns, bey der Unwiſſenheit Von ihrem Greul, nach der darinn von uns geglaubten Suͤßigkeit, Faſt das Verbot die Luſt noch mehret, indem uns die Erfahrung lehrt, Daß wir nach dem Verbotnen ſtreben, wovon der Grund denn leicht zu finden, Weil wir in dem, was uns verboten, das Schaͤdliche nicht leicht ergruͤnden. Das
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg n="30"> <l> <pb facs="#f0502" n="482"/> <fw place="top" type="header">Vermiſchte Gedichte</fw> </l><lb/> <l>Durch ſein verdorbnes Blut das Blut der Kindeskin-<lb/><hi rendition="#et">der noch verdirbet,</hi></l><lb/> <l>Daß dieß nicht minder, wie der Vater, in Schmerzen<lb/><hi rendition="#et">lebt, und elend ſtirbet.</hi></l> </lg><lb/> <lg n="31"> <l>Wenn mancher ſich auf dieſe Art die Wolluſt vorzu-<lb/><hi rendition="#et">ſtellen wuͤßte,</hi></l><lb/> <l>Und ſaͤh ſie ſeine Phantaſey mit allen ſchlimmen Folgen an,</l><lb/> <l>So weis ich nicht, ob er wohl ſollte den Gift ſo ungluͤck-<lb/><hi rendition="#et">ſelger Luͤſte,</hi></l><lb/> <l>So eifrig, als anjetzt, verlangen; obwohl, wie jetzo<lb/><hi rendition="#et">jedermann,</hi></l><lb/> <l>Da wir ſie uns nicht wie ſie ſind, nur wie ſie ſcheinen,<lb/><hi rendition="#et">vorgeſtellt,</hi></l><lb/> <l>Sie aͤrger denn vermeiden wuͤrde, als das Gefaͤhrlichſte<lb/><hi rendition="#et">der Welt?</hi></l><lb/> <l>So geht es auch mit andern Laſtern, die alle dadurch<lb/><hi rendition="#et">ganz allein,</hi></l><lb/> <l>Daß ſie in unſrer Phantaſey viel anders ſcheinen, als ſie<lb/><hi rendition="#et">ſeyn,</hi></l><lb/> <l>So ſuͤß, ſo angenehm uns ſcheinen. Ach, daß man dieß<lb/><hi rendition="#et">nicht uͤberlegt:</hi></l><lb/> <l>Daß jedes Laſter ſeine Strafe wahrhaftig auf dem Ruͤ-<lb/><hi rendition="#et">cken traͤgt!</hi></l> </lg><lb/> <lg n="32"> <l>Dem allen tritt noch dieſes bey, daß uns, bey der<lb/><hi rendition="#et">Unwiſſenheit</hi></l><lb/> <l>Von ihrem Greul, nach der darinn von uns geglaubten<lb/><hi rendition="#et">Suͤßigkeit,</hi></l><lb/> <l>Faſt das Verbot die Luſt noch mehret, indem uns die<lb/><hi rendition="#et">Erfahrung lehrt,</hi></l><lb/> <l>Daß wir nach dem Verbotnen ſtreben, wovon der Grund<lb/><hi rendition="#et">denn leicht zu finden,</hi></l><lb/> <l>Weil wir in dem, was uns verboten, das Schaͤdliche<lb/><hi rendition="#et">nicht leicht ergruͤnden.</hi><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Das</fw><lb/></l> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [482/0502]
Vermiſchte Gedichte
Durch ſein verdorbnes Blut das Blut der Kindeskin-
der noch verdirbet,
Daß dieß nicht minder, wie der Vater, in Schmerzen
lebt, und elend ſtirbet.
Wenn mancher ſich auf dieſe Art die Wolluſt vorzu-
ſtellen wuͤßte,
Und ſaͤh ſie ſeine Phantaſey mit allen ſchlimmen Folgen an,
So weis ich nicht, ob er wohl ſollte den Gift ſo ungluͤck-
ſelger Luͤſte,
So eifrig, als anjetzt, verlangen; obwohl, wie jetzo
jedermann,
Da wir ſie uns nicht wie ſie ſind, nur wie ſie ſcheinen,
vorgeſtellt,
Sie aͤrger denn vermeiden wuͤrde, als das Gefaͤhrlichſte
der Welt?
So geht es auch mit andern Laſtern, die alle dadurch
ganz allein,
Daß ſie in unſrer Phantaſey viel anders ſcheinen, als ſie
ſeyn,
So ſuͤß, ſo angenehm uns ſcheinen. Ach, daß man dieß
nicht uͤberlegt:
Daß jedes Laſter ſeine Strafe wahrhaftig auf dem Ruͤ-
cken traͤgt!
Dem allen tritt noch dieſes bey, daß uns, bey der
Unwiſſenheit
Von ihrem Greul, nach der darinn von uns geglaubten
Suͤßigkeit,
Faſt das Verbot die Luſt noch mehret, indem uns die
Erfahrung lehrt,
Daß wir nach dem Verbotnen ſtreben, wovon der Grund
denn leicht zu finden,
Weil wir in dem, was uns verboten, das Schaͤdliche
nicht leicht ergruͤnden.
Das
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |