Vermeynt, in dem erwählten Bösen, sey für ihn wirklich noch ein Gut. Zum Beyspiel: Wollust oder Rache sucht einer nimmer auszuüben, Zumal wo er es sträflich hält, fänd' er, durch eine Süs- sigkeit, Die sich in beyden für ihn findet, und die ihm gut scheint, nicht getrieben, Ein gegenwärtig scheinend Gut dem künftgen Guten vor- zuziehn, Er thät es sonst wahrhaftig nicht, und würd' ein künftig Uebel fliehn.
Wer ist, der wohl mit kaltem Blut sucht einen Men- schen umzubringen? Wer wird mit Vorsatz, bloß zur Lust, in süßem Weine Gift verschlingen? Die Laster scheinen alle schön, und dieses macht, daß wir sie wählen, Entlarvten wir sie durch Vernunft und durch die Bil- dungskraft der Seelen, Ja stellten uns das wahre Bild, die wahre Scheußlich- keit von ihr, Sammt Strafe, Reu und Scham, als ihren Begleiterin- nen, lebhaft für, Wir würden einen Abscheu fühlen, wir würden nicht so öfters fehlen; Man würde sie nicht wählen wollen. Bey der erkannten Eigenschaft Würd' unsers ganzen Willens Kraft Nicht einmal auf die Probe kommen. Jn wie viel größ- rer Sicherheit,
Würd'
Vermiſchte Gedichte
Vermeynt, in dem erwaͤhlten Boͤſen, ſey fuͤr ihn wirklich noch ein Gut. Zum Beyſpiel: Wolluſt oder Rache ſucht einer nimmer auszuuͤben, Zumal wo er es ſtraͤflich haͤlt, faͤnd’ er, durch eine Suͤſ- ſigkeit, Die ſich in beyden fuͤr ihn findet, und die ihm gut ſcheint, nicht getrieben, Ein gegenwaͤrtig ſcheinend Gut dem kuͤnftgen Guten vor- zuziehn, Er thaͤt es ſonſt wahrhaftig nicht, und wuͤrd’ ein kuͤnftig Uebel fliehn.
Wer iſt, der wohl mit kaltem Blut ſucht einen Men- ſchen umzubringen? Wer wird mit Vorſatz, bloß zur Luſt, in ſuͤßem Weine Gift verſchlingen? Die Laſter ſcheinen alle ſchoͤn, und dieſes macht, daß wir ſie waͤhlen, Entlarvten wir ſie durch Vernunft und durch die Bil- dungskraft der Seelen, Ja ſtellten uns das wahre Bild, die wahre Scheußlich- keit von ihr, Sammt Strafe, Reu und Scham, als ihren Begleiterin- nen, lebhaft fuͤr, Wir wuͤrden einen Abſcheu fuͤhlen, wir wuͤrden nicht ſo oͤfters fehlen; Man wuͤrde ſie nicht waͤhlen wollen. Bey der erkannten Eigenſchaft Wuͤrd’ unſers ganzen Willens Kraft Nicht einmal auf die Probe kommen. Jn wie viel groͤß- rer Sicherheit,
Wuͤrd’
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Vermiſchte Gedichte
Vermeynt, in dem erwaͤhlten Boͤſen, ſey fuͤr ihn wirklich
noch ein Gut.
Zum Beyſpiel: Wolluſt oder Rache ſucht einer nimmer
auszuuͤben,
Zumal wo er es ſtraͤflich haͤlt, faͤnd’ er, durch eine Suͤſ-
ſigkeit,
Die ſich in beyden fuͤr ihn findet, und die ihm gut ſcheint,
nicht getrieben,
Ein gegenwaͤrtig ſcheinend Gut dem kuͤnftgen Guten vor-
zuziehn,
Er thaͤt es ſonſt wahrhaftig nicht, und wuͤrd’ ein kuͤnftig
Uebel fliehn.
Wer iſt, der wohl mit kaltem Blut ſucht einen Men-
ſchen umzubringen?
Wer wird mit Vorſatz, bloß zur Luſt, in ſuͤßem Weine
Gift verſchlingen?
Die Laſter ſcheinen alle ſchoͤn, und dieſes macht, daß wir
ſie waͤhlen,
Entlarvten wir ſie durch Vernunft und durch die Bil-
dungskraft der Seelen,
Ja ſtellten uns das wahre Bild, die wahre Scheußlich-
keit von ihr,
Sammt Strafe, Reu und Scham, als ihren Begleiterin-
nen, lebhaft fuͤr,
Wir wuͤrden einen Abſcheu fuͤhlen, wir wuͤrden nicht ſo
oͤfters fehlen;
Man wuͤrde ſie nicht waͤhlen wollen. Bey der erkannten
Eigenſchaft
Wuͤrd’ unſers ganzen Willens Kraft
Nicht einmal auf die Probe kommen. Jn wie viel groͤß-
rer Sicherheit,
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Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/492>, abgerufen am 22.11.2024.
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