Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746.

Bild:
<< vorherige Seite
Unordentliche Selbst-Liebe.
Es glaubt der Mensch, er liebe sich.
Allein er liebt sich in der That nicht so, wie er es
selbst vermeynet.

Es läßt, ob unterscheid' er sich von sich zuweilen, und es
scheinet,

Ob sey er stets derselbe nicht. Es hasset oft sein heutigs
Jch

Sein gestriges. Jch irrte mich,
Giebt er noch wohl von gestern zu;
Heut aber liebt er sich so sehr,
Daß, wenn auch du
Jhn noch so deutlich überführtest, verachtet er doch deine
Lehr,

Er giebt nicht nach, er weichet nicht. Sein heutigs Jch
kann nicht vertragen,

Daß man ihn eines Fehlers zeiht; viel minder wird ers
selber sagen,

Wie er vom gestrigen doch noch zuweilen selbst thut, oder
leidet,

So daß er sich fast alle Tage, von den verfloßnen, unter-
scheidet.
Allein, bedenke, lieber Mensch, der heute sich so heftig
streubet,

Daß dein, dem Schein nach, festes Heute gewiß nicht
immer heute bleibet.

Als
Unordentliche Selbſt-Liebe.
Es glaubt der Menſch, er liebe ſich.
Allein er liebt ſich in der That nicht ſo, wie er es
ſelbſt vermeynet.

Es laͤßt, ob unterſcheid’ er ſich von ſich zuweilen, und es
ſcheinet,

Ob ſey er ſtets derſelbe nicht. Es haſſet oft ſein heutigs
Jch

Sein geſtriges. Jch irrte mich,
Giebt er noch wohl von geſtern zu;
Heut aber liebt er ſich ſo ſehr,
Daß, wenn auch du
Jhn noch ſo deutlich uͤberfuͤhrteſt, verachtet er doch deine
Lehr,

Er giebt nicht nach, er weichet nicht. Sein heutigs Jch
kann nicht vertragen,

Daß man ihn eines Fehlers zeiht; viel minder wird ers
ſelber ſagen,

Wie er vom geſtrigen doch noch zuweilen ſelbſt thut, oder
leidet,

So daß er ſich faſt alle Tage, von den verfloßnen, unter-
ſcheidet.
Allein, bedenke, lieber Menſch, der heute ſich ſo heftig
ſtreubet,

Daß dein, dem Schein nach, feſtes Heute gewiß nicht
immer heute bleibet.

Als
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0617" n="603"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Unordentliche Selb&#x017F;t-Liebe.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <lg n="1">
                <l><hi rendition="#in">E</hi>s glaubt der Men&#x017F;ch, er liebe &#x017F;ich.</l><lb/>
                <l>Allein er liebt &#x017F;ich in der That nicht &#x017F;o, wie er es<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;elb&#x017F;t vermeynet.</hi></l><lb/>
                <l>Es la&#x0364;ßt, ob unter&#x017F;cheid&#x2019; er &#x017F;ich von &#x017F;ich zuweilen, und es<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;cheinet,</hi></l><lb/>
                <l>Ob &#x017F;ey er &#x017F;tets der&#x017F;elbe nicht. Es ha&#x017F;&#x017F;et oft &#x017F;ein heutigs<lb/><hi rendition="#et">Jch</hi></l><lb/>
                <l>Sein ge&#x017F;triges. Jch irrte mich,</l><lb/>
                <l>Giebt er noch wohl von ge&#x017F;tern zu;</l><lb/>
                <l>Heut aber liebt er &#x017F;ich &#x017F;o &#x017F;ehr,</l><lb/>
                <l>Daß, wenn auch du</l><lb/>
                <l>Jhn noch &#x017F;o deutlich u&#x0364;berfu&#x0364;hrte&#x017F;t, verachtet er doch deine<lb/><hi rendition="#et">Lehr,</hi></l><lb/>
                <l>Er giebt nicht nach, er weichet nicht. Sein heutigs Jch<lb/><hi rendition="#et">kann nicht vertragen,</hi></l><lb/>
                <l>Daß man ihn eines Fehlers zeiht; viel minder wird ers<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;elber &#x017F;agen,</hi></l><lb/>
                <l>Wie er vom ge&#x017F;trigen doch noch zuweilen &#x017F;elb&#x017F;t thut, oder<lb/><hi rendition="#et">leidet,</hi></l><lb/>
                <l>So daß er &#x017F;ich fa&#x017F;t alle Tage, von den verfloßnen, unter-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;cheidet.</hi></l>
              </lg><lb/>
              <lg n="2">
                <l>Allein, bedenke, lieber Men&#x017F;ch, der heute &#x017F;ich &#x017F;o heftig<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;treubet,</hi></l><lb/>
                <l>Daß dein, dem Schein nach, fe&#x017F;tes Heute gewiß nicht<lb/><hi rendition="#et">immer heute bleibet.</hi></l><lb/>
                <fw place="bottom" type="catch">Als</fw><lb/>
              </lg>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[603/0617] Unordentliche Selbſt-Liebe. Es glaubt der Menſch, er liebe ſich. Allein er liebt ſich in der That nicht ſo, wie er es ſelbſt vermeynet. Es laͤßt, ob unterſcheid’ er ſich von ſich zuweilen, und es ſcheinet, Ob ſey er ſtets derſelbe nicht. Es haſſet oft ſein heutigs Jch Sein geſtriges. Jch irrte mich, Giebt er noch wohl von geſtern zu; Heut aber liebt er ſich ſo ſehr, Daß, wenn auch du Jhn noch ſo deutlich uͤberfuͤhrteſt, verachtet er doch deine Lehr, Er giebt nicht nach, er weichet nicht. Sein heutigs Jch kann nicht vertragen, Daß man ihn eines Fehlers zeiht; viel minder wird ers ſelber ſagen, Wie er vom geſtrigen doch noch zuweilen ſelbſt thut, oder leidet, So daß er ſich faſt alle Tage, von den verfloßnen, unter- ſcheidet. Allein, bedenke, lieber Menſch, der heute ſich ſo heftig ſtreubet, Daß dein, dem Schein nach, feſtes Heute gewiß nicht immer heute bleibet. Als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/617
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/617>, abgerufen am 26.11.2024.