Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746.Der in Weihnachten grünende Linden-Zweig. Ein kleines Knöspchen saß. Die Blätter an der Spitzen Sah ich, annoch verhüllt, in kleinen Hülsen sitzen; Wovon ein einziges, das recht unglaublich klein, Noch unentwickelt, schien ein Embryo zu seyn. Jch konnte mich nicht satt, an diesem Wunder, sehen. Allein, es blieb mein Geist dabey nicht lange stehen. Jch fragte: Wie man es mit diesem Zweig gemacht, Und wodurch man ihn doch zum frühen Wuchs gebracht? Die Antwort war: Man hätt' ihn, durch ein Scheiben- Glas, Jn eine warme Stub' allmählich eingeleitet, Wodurch er sich, von selbst, belaubt und ausgebreitet. Wie, dacht ich, steckt im Stamm', im Frost, noch so viel Kraft? Wie, oder zog der Zweig des Wachsthums Eigenschaft Aus einer warmen Luft? Jch faßte beydes nicht. Dennoch nahm ich daher so viel zum Unterricht: Daß der Natur Trieb sich, in Pflanzen, nicht vermindre, Und daß die Kälte bloß den steten Wachsthum hindre. Dieß hast du, liebster Zweig, mich nun, mit Lust, gelehrt: Du hast mich auch zugleich, voll Andacht, hingekehrt Zum Herrn der Creatur; da Er mir gönnen wollte, Daß ich mich, Jhm zum Ruhm, an dir vergnügen sollte. Von
Der in Weihnachten gruͤnende Linden-Zweig. Ein kleines Knoͤſpchen ſaß. Die Blaͤtter an der Spitzen Sah ich, annoch verhuͤllt, in kleinen Huͤlſen ſitzen; Wovon ein einziges, das recht unglaublich klein, Noch unentwickelt, ſchien ein Embryo zu ſeyn. Jch konnte mich nicht ſatt, an dieſem Wunder, ſehen. Allein, es blieb mein Geiſt dabey nicht lange ſtehen. Jch fragte: Wie man es mit dieſem Zweig gemacht, Und wodurch man ihn doch zum fruͤhen Wuchs gebracht? Die Antwort war: Man haͤtt’ ihn, durch ein Scheiben- Glas, Jn eine warme Stub’ allmaͤhlich eingeleitet, Wodurch er ſich, von ſelbſt, belaubt und ausgebreitet. Wie, dacht ich, ſteckt im Stamm’, im Froſt, noch ſo viel Kraft? Wie, oder zog der Zweig des Wachsthums Eigenſchaft Aus einer warmen Luft? Jch faßte beydes nicht. Dennoch nahm ich daher ſo viel zum Unterricht: Daß der Natur Trieb ſich, in Pflanzen, nicht vermindre, Und daß die Kaͤlte bloß den ſteten Wachsthum hindre. Dieß haſt du, liebſter Zweig, mich nun, mit Luſt, gelehrt: Du haſt mich auch zugleich, voll Andacht, hingekehrt Zum Herrn der Creatur; da Er mir goͤnnen wollte, Daß ich mich, Jhm zum Ruhm, an dir vergnuͤgen ſollte. Von
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Der in Weihnachten gruͤnende Linden-Zweig.
Ein kleines Knoͤſpchen ſaß. Die Blaͤtter an der Spitzen
Sah ich, annoch verhuͤllt, in kleinen Huͤlſen ſitzen;
Wovon ein einziges, das recht unglaublich klein,
Noch unentwickelt, ſchien ein Embryo zu ſeyn.
Jch konnte mich nicht ſatt, an dieſem Wunder, ſehen.
Allein, es blieb mein Geiſt dabey nicht lange ſtehen.
Jch fragte: Wie man es mit dieſem Zweig gemacht,
Und wodurch man ihn doch zum fruͤhen Wuchs gebracht?
Die Antwort war: Man haͤtt’ ihn, durch ein Scheiben-
Glas,
Jn eine warme Stub’ allmaͤhlich eingeleitet,
Wodurch er ſich, von ſelbſt, belaubt und ausgebreitet.
Wie, dacht ich, ſteckt im Stamm’, im Froſt, noch
ſo viel Kraft?
Wie, oder zog der Zweig des Wachsthums Eigenſchaft
Aus einer warmen Luft? Jch faßte beydes nicht.
Dennoch nahm ich daher ſo viel zum Unterricht:
Daß der Natur Trieb ſich, in Pflanzen, nicht vermindre,
Und daß die Kaͤlte bloß den ſteten Wachsthum hindre.
Dieß haſt du, liebſter Zweig, mich nun, mit Luſt,
gelehrt:
Du haſt mich auch zugleich, voll Andacht, hingekehrt
Zum Herrn der Creatur; da Er mir goͤnnen wollte,
Daß ich mich, Jhm zum Ruhm, an dir vergnuͤgen
ſollte.
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