Uns scheinet der Verstand geschenkt, was uns der Schöpfer wollen gönnen, Bloß im vernünftigen Genuß, und im Bewundern zu er- kennen. So aber sieht man uns recht sträflich den angewies'nen Weg verlassen, Um die verborgne Spur der Dinge, und wie sie GOtt gewirkt, zu fassen. Es scheinet wahr, und mehr als glaublich, daß, wenn ein Pferd sein Futter frißt, Es fast vernünftiger geschehe, als wie vom Menschen, wenn er ißt. Denn hat es nicht so scharfe Geister, als wir; so sind sie auch hingegen So unvernünftig nicht zerstreut, als unsre, die, ohn' Ueber- legen, Jndem sie stets was anders denken, was sie geniessen nicht erwegen. Da es unwidersprechlich wahr, daß unser Auge gar nichts sieht, Und unsre Ohren nichts vernehmen, wenn unser denkendes Gemüht Mit anderm Vorwurf sich beschäftigt. Die Leidenschaf- ten helfen zwar Die Geister gleichfalls zu zerstreuen, und von den Sinnen abzuziehn. Allein die Wissens-Sucht, da wir, was wir doch nicht begreifen sollen, Jm Geistlichen und Weltlichen, ergrübeln und begreifen wollen, Hat noch die allergrößte Schuld. Wie viele sieht man sich bemühn,
Ge-
Wider den Hochmuht.
Uns ſcheinet der Verſtand geſchenkt, was uns der Schoͤpfer wollen goͤnnen, Bloß im vernuͤnftigen Genuß, und im Bewundern zu er- kennen. So aber ſieht man uns recht ſtraͤflich den angewieſ’nen Weg verlaſſen, Um die verborgne Spur der Dinge, und wie ſie GOtt gewirkt, zu faſſen. Es ſcheinet wahr, und mehr als glaublich, daß, wenn ein Pferd ſein Futter frißt, Es faſt vernuͤnftiger geſchehe, als wie vom Menſchen, wenn er ißt. Denn hat es nicht ſo ſcharfe Geiſter, als wir; ſo ſind ſie auch hingegen So unvernuͤnftig nicht zerſtreut, als unſre, die, ohn’ Ueber- legen, Jndem ſie ſtets was anders denken, was ſie genieſſen nicht erwegen. Da es unwiderſprechlich wahr, daß unſer Auge gar nichts ſieht, Und unſre Ohren nichts vernehmen, wenn unſer denkendes Gemuͤht Mit anderm Vorwurf ſich beſchaͤftigt. Die Leidenſchaf- ten helfen zwar Die Geiſter gleichfalls zu zerſtreuen, und von den Sinnen abzuziehn. Allein die Wiſſens-Sucht, da wir, was wir doch nicht begreifen ſollen, Jm Geiſtlichen und Weltlichen, ergruͤbeln und begreifen wollen, Hat noch die allergroͤßte Schuld. Wie viele ſieht man ſich bemuͤhn,
Ge-
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Wider den Hochmuht.
Uns ſcheinet der Verſtand geſchenkt, was uns der Schoͤpfer
wollen goͤnnen,
Bloß im vernuͤnftigen Genuß, und im Bewundern zu er-
kennen.
So aber ſieht man uns recht ſtraͤflich den angewieſ’nen
Weg verlaſſen,
Um die verborgne Spur der Dinge, und wie ſie GOtt gewirkt,
zu faſſen.
Es ſcheinet wahr, und mehr als glaublich, daß, wenn ein
Pferd ſein Futter frißt,
Es faſt vernuͤnftiger geſchehe, als wie vom Menſchen,
wenn er ißt.
Denn hat es nicht ſo ſcharfe Geiſter, als wir; ſo ſind ſie auch
hingegen
So unvernuͤnftig nicht zerſtreut, als unſre, die, ohn’ Ueber-
legen,
Jndem ſie ſtets was anders denken, was ſie genieſſen nicht
erwegen.
Da es unwiderſprechlich wahr, daß unſer Auge gar nichts
ſieht,
Und unſre Ohren nichts vernehmen, wenn unſer denkendes
Gemuͤht
Mit anderm Vorwurf ſich beſchaͤftigt. Die Leidenſchaf-
ten helfen zwar
Die Geiſter gleichfalls zu zerſtreuen, und von den Sinnen
abzuziehn.
Allein die Wiſſens-Sucht, da wir, was wir doch nicht
begreifen ſollen,
Jm Geiſtlichen und Weltlichen, ergruͤbeln und begreifen
wollen,
Hat noch die allergroͤßte Schuld. Wie viele ſieht man
ſich bemuͤhn,
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 7. Hamburg, 1743, S. 702. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen07_1743/720>, abgerufen am 22.11.2024.
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