Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740.

Bild:
<< vorherige Seite

in der Betrachtung vom Nichts.
"Triegt sie uns, kann man durch sie das, was wahr und
falsch, nicht fassen,
"Kann man sich auf ihre Einsicht, Schlüß und Gründe nicht
verlassen;

"Würde sie uns fast nicht brauchbar, und nicht dieses nur
allein,

"Sondern uns vielmehr ein böses schädliches Geschenke seyn.
"Sie würd uns zu lauter Jrrthum, Sünde, thorheit, Zanken,
Streiten,

"Zweifel, Un- und Aberglauben, Anlaß geben und verleiten.
"Würde mancher sich dadurch nicht vermessen unterstehn,
"Selbst den Geber für den Ursprung dieses Jrrthums anzu-
sehn?

Aber hör, im Augenblick, da du so denkst, zeigt dein Jrren,
Wie so leicht sich die Gedanken, durch Vernunft verführt, ver-
wirren.

Du beweisest selbst, was ich zu beweisen schuldig wär;
Nemlich, daß dein kluger Geist von gesunden Schlüssen leer,
Und nicht das sey, was er glaubt; sondern, daß du selbst die
Maaße

Deines Geists dir zugemessen, daß dein Stolz sich so vergasse,
Und von dem, was von dem Schöpfer dir Vortreffliches ge-
schenkt,

Daß es fast unendlich sey, weil du es besitzest, denkt.
Jst dein Nächster auch kein Mensch? So wird er dieselben
Gaben,

Wenn du redlich denken willt, auch von Gott empfangen ha-
ben,

Und du hälst dich dennoch klüger, siehest ihre Seelen an,
Als wenn man sie mit der Deinen nicht mit Recht verglei-
chen kann.
Dieses

in der Betrachtung vom Nichts.
„Triegt ſie uns, kann man durch ſie das, was wahr und
falſch, nicht faſſen,
„Kann man ſich auf ihre Einſicht, Schluͤß und Gruͤnde nicht
verlaſſen;

„Wuͤrde ſie uns faſt nicht brauchbar, und nicht dieſes nur
allein,

„Sondern uns vielmehr ein boͤſes ſchaͤdliches Geſchenke ſeyn.
„Sie wuͤrd uns zu lauter Jrrthum, Suͤnde, thorheit, Zanken,
Streiten,

„Zweifel, Un- und Aberglauben, Anlaß geben und verleiten.
„Wuͤrde mancher ſich dadurch nicht vermeſſen unterſtehn,
„Selbſt den Geber fuͤr den Urſprung dieſes Jrrthums anzu-
ſehn?

Aber hoͤr, im Augenblick, da du ſo denkſt, zeigt dein Jrren,
Wie ſo leicht ſich die Gedanken, durch Vernunft verfuͤhrt, ver-
wirren.

Du beweiſeſt ſelbſt, was ich zu beweiſen ſchuldig waͤr;
Nemlich, daß dein kluger Geiſt von geſunden Schluͤſſen leer,
Und nicht das ſey, was er glaubt; ſondern, daß du ſelbſt die
Maaße

Deines Geiſts dir zugemeſſen, daß dein Stolz ſich ſo vergaſſe,
Und von dem, was von dem Schoͤpfer dir Vortreffliches ge-
ſchenkt,

Daß es faſt unendlich ſey, weil du es beſitzeſt, denkt.
Jſt dein Naͤchſter auch kein Menſch? So wird er dieſelben
Gaben,

Wenn du redlich denken willt, auch von Gott empfangen ha-
ben,

Und du haͤlſt dich dennoch kluͤger, ſieheſt ihre Seelen an,
Als wenn man ſie mit der Deinen nicht mit Recht verglei-
chen kann.
Dieſes
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg n="27">
            <l><pb facs="#f0709" n="685"/><fw place="top" type="header">in der Betrachtung vom Nichts.</fw><lb/>
&#x201E;Triegt &#x017F;ie uns, kann man durch &#x017F;ie das, was wahr und<lb/><hi rendition="#et">fal&#x017F;ch, nicht fa&#x017F;&#x017F;en,</hi></l><lb/>
            <l>&#x201E;Kann man &#x017F;ich auf ihre Ein&#x017F;icht, Schlu&#x0364;ß und Gru&#x0364;nde nicht<lb/><hi rendition="#et">verla&#x017F;&#x017F;en;</hi></l><lb/>
            <l>&#x201E;Wu&#x0364;rde &#x017F;ie uns fa&#x017F;t nicht brauchbar, und nicht die&#x017F;es nur<lb/><hi rendition="#et">allein,</hi></l><lb/>
            <l>&#x201E;Sondern uns vielmehr ein bo&#x0364;&#x017F;es &#x017F;cha&#x0364;dliches Ge&#x017F;chenke &#x017F;eyn.</l><lb/>
            <l>&#x201E;Sie wu&#x0364;rd uns zu lauter Jrrthum, Su&#x0364;nde, thorheit, Zanken,<lb/><hi rendition="#et">Streiten,</hi></l><lb/>
            <l>&#x201E;Zweifel, Un- und Aberglauben, Anlaß geben und verleiten.</l><lb/>
            <l>&#x201E;Wu&#x0364;rde mancher &#x017F;ich dadurch nicht verme&#x017F;&#x017F;en unter&#x017F;tehn,</l><lb/>
            <l>&#x201E;Selb&#x017F;t den Geber fu&#x0364;r den Ur&#x017F;prung die&#x017F;es Jrrthums anzu-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;ehn?</hi></l>
          </lg><lb/>
          <lg n="28">
            <l>Aber ho&#x0364;r, im Augenblick, da du &#x017F;o denk&#x017F;t, zeigt dein Jrren,</l><lb/>
            <l>Wie &#x017F;o leicht &#x017F;ich die Gedanken, durch Vernunft verfu&#x0364;hrt, ver-<lb/><hi rendition="#et">wirren.</hi></l><lb/>
            <l>Du bewei&#x017F;e&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t, was ich zu bewei&#x017F;en &#x017F;chuldig wa&#x0364;r;</l><lb/>
            <l>Nemlich, daß dein kluger Gei&#x017F;t von ge&#x017F;unden Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en leer,</l><lb/>
            <l>Und nicht das &#x017F;ey, was er glaubt; &#x017F;ondern, daß du &#x017F;elb&#x017F;t die<lb/><hi rendition="#et">Maaße</hi></l><lb/>
            <l>Deines Gei&#x017F;ts dir zugeme&#x017F;&#x017F;en, daß dein Stolz &#x017F;ich &#x017F;o verga&#x017F;&#x017F;e,</l><lb/>
            <l>Und von dem, was von dem Scho&#x0364;pfer dir Vortreffliches ge-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;chenkt,</hi></l><lb/>
            <l>Daß es fa&#x017F;t unendlich &#x017F;ey, weil du es be&#x017F;itze&#x017F;t, denkt.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="29">
            <l>J&#x017F;t dein Na&#x0364;ch&#x017F;ter auch kein Men&#x017F;ch? So wird er die&#x017F;elben<lb/><hi rendition="#et">Gaben,</hi></l><lb/>
            <l>Wenn du redlich denken willt, auch von Gott empfangen ha-<lb/><hi rendition="#et">ben,</hi></l><lb/>
            <l>Und du ha&#x0364;l&#x017F;t dich dennoch klu&#x0364;ger, &#x017F;iehe&#x017F;t ihre Seelen an,</l><lb/>
            <l>Als wenn man &#x017F;ie mit der Deinen nicht mit Recht verglei-<lb/><hi rendition="#et">chen kann.</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Die&#x017F;es</fw><lb/></l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[685/0709] in der Betrachtung vom Nichts. „Triegt ſie uns, kann man durch ſie das, was wahr und falſch, nicht faſſen, „Kann man ſich auf ihre Einſicht, Schluͤß und Gruͤnde nicht verlaſſen; „Wuͤrde ſie uns faſt nicht brauchbar, und nicht dieſes nur allein, „Sondern uns vielmehr ein boͤſes ſchaͤdliches Geſchenke ſeyn. „Sie wuͤrd uns zu lauter Jrrthum, Suͤnde, thorheit, Zanken, Streiten, „Zweifel, Un- und Aberglauben, Anlaß geben und verleiten. „Wuͤrde mancher ſich dadurch nicht vermeſſen unterſtehn, „Selbſt den Geber fuͤr den Urſprung dieſes Jrrthums anzu- ſehn? Aber hoͤr, im Augenblick, da du ſo denkſt, zeigt dein Jrren, Wie ſo leicht ſich die Gedanken, durch Vernunft verfuͤhrt, ver- wirren. Du beweiſeſt ſelbſt, was ich zu beweiſen ſchuldig waͤr; Nemlich, daß dein kluger Geiſt von geſunden Schluͤſſen leer, Und nicht das ſey, was er glaubt; ſondern, daß du ſelbſt die Maaße Deines Geiſts dir zugemeſſen, daß dein Stolz ſich ſo vergaſſe, Und von dem, was von dem Schoͤpfer dir Vortreffliches ge- ſchenkt, Daß es faſt unendlich ſey, weil du es beſitzeſt, denkt. Jſt dein Naͤchſter auch kein Menſch? So wird er dieſelben Gaben, Wenn du redlich denken willt, auch von Gott empfangen ha- ben, Und du haͤlſt dich dennoch kluͤger, ſieheſt ihre Seelen an, Als wenn man ſie mit der Deinen nicht mit Recht verglei- chen kann. Dieſes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/709
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740, S. 685. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/709>, abgerufen am 24.11.2024.