Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Hirsche.
Jn des offnen Maules Stellung sieht man deutlich, daß er
fühle,

Wie die feucht und frische Kost ihn mit Anmuth nähr und
kühle.

Doch sein Auge zeigt zugleich, daß sein prächtiges Geweih,
So der Wiederschein ihm zeiget, seiner Blicke Vorwurf sey.
Wer bewundert, der dieß siehet, nicht des Künstlers kluge
Hand?

Jeder Punkt zeigt einen Geist, jede Linie Verstand.
Aber hört! erkennt dabey, wenn euch sein Gemälde rühret,
Daß er uns, durch die Copie, zum weit schönern Urbild führet.
No. 9.
Wie so wild ist dieser Wald! sehet, wie sich Licht und Schatten,
Hier mit einem holden Schrecken, und in wilder Anmuth, gatten!
Sind die Aeste, die so knorrig, nicht fast ungeheuer schön?
Seht die krumm - verwachsnen Wurzeln uns fast recht entgegen
stehn.
Aber, wie erblick ich hier, in so kläglicher Gestalt,
Einen sonst so muthgen Hirsch! Der verzehrnden Brunst Gewalt
Schauet man in seinen Augen. Ein verfinstert schwaches Licht
Glimmt in seinem trüben Blick; seine Zunge starrt, er lechzet;
Und mein Auge höret fast, wie er schnaufet, keicht und ächzet.
Ja, mich deucht, als wenn er gleichsam, durch sein Keichen, zu
mir spricht,

Aus dem schlammigten Morast: Schau, in mir, die
Wut der Triebe,

Jhr den Leib verzehrend Feur: Kurz, ein Bild
misbrauchter Liebe.
No. 10.
Die Hirſche.
Jn des offnen Maules Stellung ſieht man deutlich, daß er
fuͤhle,

Wie die feucht und friſche Koſt ihn mit Anmuth naͤhr und
kuͤhle.

Doch ſein Auge zeigt zugleich, daß ſein praͤchtiges Geweih,
So der Wiederſchein ihm zeiget, ſeiner Blicke Vorwurf ſey.
Wer bewundert, der dieß ſiehet, nicht des Kuͤnſtlers kluge
Hand?

Jeder Punkt zeigt einen Geiſt, jede Linie Verſtand.
Aber hoͤrt! erkennt dabey, wenn euch ſein Gemaͤlde ruͤhret,
Daß er uns, durch die Copie, zum weit ſchoͤnern Urbild fuͤhret.
No. 9.
Wie ſo wild iſt dieſer Wald! ſehet, wie ſich Licht und Schatten,
Hier mit einem holden Schrecken, und in wilder Anmuth, gatten!
Sind die Aeſte, die ſo knorrig, nicht faſt ungeheuer ſchoͤn?
Seht die krumm - verwachſnen Wurzeln uns faſt recht entgegen
ſtehn.
Aber, wie erblick ich hier, in ſo klaͤglicher Geſtalt,
Einen ſonſt ſo muthgen Hirſch! Der verzehrnden Brunſt Gewalt
Schauet man in ſeinen Augen. Ein verfinſtert ſchwaches Licht
Glimmt in ſeinem truͤben Blick; ſeine Zunge ſtarrt, er lechzet;
Und mein Auge hoͤret faſt, wie er ſchnaufet, keicht und aͤchzet.
Ja, mich deucht, als wenn er gleichſam, durch ſein Keichen, zu
mir ſpricht,

Aus dem ſchlammigten Moraſt: Schau, in mir, die
Wut der Triebe,

Jhr den Leib verzehrend Feur: Kurz, ein Bild
misbrauchter Liebe.
No. 10.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <pb facs="#f0246" n="222"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Die Hir&#x017F;che.</hi> </fw><lb/>
              <l>Jn des offnen Maules Stellung &#x017F;ieht man deutlich, daß er<lb/><hi rendition="#et">fu&#x0364;hle,</hi></l><lb/>
              <l>Wie die feucht und fri&#x017F;che Ko&#x017F;t ihn mit Anmuth na&#x0364;hr und<lb/><hi rendition="#et">ku&#x0364;hle.</hi></l><lb/>
              <l>Doch &#x017F;ein Auge zeigt zugleich, daß &#x017F;ein pra&#x0364;chtiges Geweih,</l><lb/>
              <l>So der Wieder&#x017F;chein ihm zeiget, &#x017F;einer Blicke Vorwurf &#x017F;ey.</l><lb/>
              <l>Wer bewundert, der dieß &#x017F;iehet, nicht des Ku&#x0364;n&#x017F;tlers kluge<lb/><hi rendition="#et">Hand?</hi></l><lb/>
              <l>Jeder Punkt zeigt einen Gei&#x017F;t, jede Linie Ver&#x017F;tand.</l><lb/>
              <l>Aber ho&#x0364;rt! erkennt dabey, wenn euch &#x017F;ein Gema&#x0364;lde ru&#x0364;hret,</l><lb/>
              <l>Daß er uns, durch die Copie, zum weit &#x017F;cho&#x0364;nern Urbild fu&#x0364;hret.</l>
            </lg>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#aq">No.</hi> 9.</head><lb/>
            <lg n="1">
              <l><hi rendition="#in">W</hi>ie &#x017F;o wild i&#x017F;t die&#x017F;er Wald! &#x017F;ehet, wie &#x017F;ich Licht und Schatten,</l><lb/>
              <l>Hier mit einem holden Schrecken, und in wilder Anmuth, gatten!</l><lb/>
              <l>Sind die Ae&#x017F;te, die &#x017F;o knorrig, nicht fa&#x017F;t ungeheuer &#x017F;cho&#x0364;n?</l><lb/>
              <l>Seht die krumm - verwach&#x017F;nen Wurzeln uns fa&#x017F;t recht entgegen<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;tehn.</hi></l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Aber, wie erblick ich hier, in &#x017F;o kla&#x0364;glicher Ge&#x017F;talt,</l><lb/>
              <l>Einen &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;o muthgen Hir&#x017F;ch! Der verzehrnden Brun&#x017F;t Gewalt</l><lb/>
              <l>Schauet man in &#x017F;einen Augen. Ein verfin&#x017F;tert &#x017F;chwaches Licht</l><lb/>
              <l>Glimmt in &#x017F;einem tru&#x0364;ben Blick; &#x017F;eine Zunge &#x017F;tarrt, er lechzet;</l><lb/>
              <l>Und mein Auge ho&#x0364;ret fa&#x017F;t, wie er &#x017F;chnaufet, keicht und a&#x0364;chzet.</l><lb/>
              <l>Ja, mich deucht, als wenn er gleich&#x017F;am, durch &#x017F;ein Keichen, zu<lb/><hi rendition="#et">mir &#x017F;pricht,</hi></l><lb/>
              <l>Aus dem &#x017F;chlammigten Mora&#x017F;t: <hi rendition="#fr">Schau, in mir, die<lb/><hi rendition="#et">Wut der Triebe,</hi></hi></l><lb/>
              <l> <hi rendition="#fr">Jhr den Leib verzehrend Feur: Kurz, ein Bild<lb/><hi rendition="#et">misbrauchter Liebe.</hi></hi> </l>
            </lg>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">No.</hi> 10.</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[222/0246] Die Hirſche. Jn des offnen Maules Stellung ſieht man deutlich, daß er fuͤhle, Wie die feucht und friſche Koſt ihn mit Anmuth naͤhr und kuͤhle. Doch ſein Auge zeigt zugleich, daß ſein praͤchtiges Geweih, So der Wiederſchein ihm zeiget, ſeiner Blicke Vorwurf ſey. Wer bewundert, der dieß ſiehet, nicht des Kuͤnſtlers kluge Hand? Jeder Punkt zeigt einen Geiſt, jede Linie Verſtand. Aber hoͤrt! erkennt dabey, wenn euch ſein Gemaͤlde ruͤhret, Daß er uns, durch die Copie, zum weit ſchoͤnern Urbild fuͤhret. No. 9. Wie ſo wild iſt dieſer Wald! ſehet, wie ſich Licht und Schatten, Hier mit einem holden Schrecken, und in wilder Anmuth, gatten! Sind die Aeſte, die ſo knorrig, nicht faſt ungeheuer ſchoͤn? Seht die krumm - verwachſnen Wurzeln uns faſt recht entgegen ſtehn. Aber, wie erblick ich hier, in ſo klaͤglicher Geſtalt, Einen ſonſt ſo muthgen Hirſch! Der verzehrnden Brunſt Gewalt Schauet man in ſeinen Augen. Ein verfinſtert ſchwaches Licht Glimmt in ſeinem truͤben Blick; ſeine Zunge ſtarrt, er lechzet; Und mein Auge hoͤret faſt, wie er ſchnaufet, keicht und aͤchzet. Ja, mich deucht, als wenn er gleichſam, durch ſein Keichen, zu mir ſpricht, Aus dem ſchlammigten Moraſt: Schau, in mir, die Wut der Triebe, Jhr den Leib verzehrend Feur: Kurz, ein Bild misbrauchter Liebe. No. 10.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/246
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/246>, abgerufen am 21.11.2024.