Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736.

Bild:
<< vorherige Seite
(***)
Betrachtungen über das Gewissen.
Bey der Gelegenheit der Fabel von der Sirene
im 1. Theil, p. 561.
A.
Da es mehr nun als zu wahr, daß die Dinge die-
ser Welt,

Wie gesagt, zwo Seiten haben, und daß wir sie mei-
stens drehn

Nach dem Zustand unsers Wesens, da die Liebe plötz-
lich fällt

Und uns die genossne Schönheit wiedrig deucht, und
nicht mehr schön,

Minder, durch des Vorwurfs Schuld, welcher ja der-
selbe bleibet,

Als durch Abnahm' unsers Feuers, das vorher in Adern
brannt';

Jst es eine grosse Frag', ob, was uns zur Reue treibet,
Und was insgemein Gewissen von dem Menschen wird
genannt

Dieses nicht zur Ursach habe? folglich ob's so fürchter-
lich,

Als man es sonst glaubet, sey? ob mans nicht mit Un-
recht sich

So verdammend vorgestellt? ob vielmehr nicht eigent-
lich,

Durch des Cörpers Aenderung, oder durch empfundnes
Jrren

Ueber die gehofte Lust, die Gedancken uns verwirren,
Und wir durch ein eingebildet, irrig so genannt Gewis-
sen

Uns nicht, mehr als nöhtig wäre, fürchten und uns
qvälen müssen?
Eben
(***)
Betrachtungen uͤber das Gewiſſen.
Bey der Gelegenheit der Fabel von der Sirene
im 1. Theil, p. 561.
A.
Da es mehr nun als zu wahr, daß die Dinge die-
ſer Welt,

Wie geſagt, zwo Seiten haben, und daß wir ſie mei-
ſtens drehn

Nach dem Zuſtand unſers Weſens, da die Liebe ploͤtz-
lich faͤllt

Und uns die genoſſne Schoͤnheit wiedrig deucht, und
nicht mehr ſchoͤn,

Minder, durch des Vorwurfs Schuld, welcher ja der-
ſelbe bleibet,

Als durch Abnahm’ unſers Feuers, das vorher in Adern
brannt’;

Jſt es eine groſſe Frag’, ob, was uns zur Reue treibet,
Und was insgemein Gewiſſen von dem Menſchen wird
genannt

Dieſes nicht zur Urſach habe? folglich ob’s ſo fuͤrchter-
lich,

Als man es ſonſt glaubet, ſey? ob mans nicht mit Un-
recht ſich

So verdammend vorgeſtellt? ob vielmehr nicht eigent-
lich,

Durch des Coͤrpers Aenderung, oder durch empfundnes
Jrren

Ueber die gehofte Luſt, die Gedancken uns verwirren,
Und wir durch ein eingebildet, irrig ſo genannt Gewiſ-
ſen

Uns nicht, mehr als noͤhtig waͤre, fuͤrchten und uns
qvaͤlen muͤſſen?
Eben
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0118" n="102"/>
        <fw place="top" type="header">(***)</fw><lb/>
        <lg type="poem">
          <head> <hi rendition="#b">Betrachtungen u&#x0364;ber das Gewi&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Bey der Gelegenheit der Fabel von der Sirene<lb/>
im 1. Theil, <hi rendition="#aq">p.</hi> 561.</hi> </head><lb/>
          <lg n="1">
            <head> <hi rendition="#aq">A.</hi> </head>
            <l><hi rendition="#in">D</hi>a es mehr nun als zu wahr, daß die Dinge die-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;er Welt,</hi></l><lb/>
            <l>Wie ge&#x017F;agt, zwo Seiten haben, und daß wir &#x017F;ie mei-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;tens drehn</hi></l><lb/>
            <l>Nach dem Zu&#x017F;tand un&#x017F;ers We&#x017F;ens, da die Liebe plo&#x0364;tz-<lb/><hi rendition="#et">lich fa&#x0364;llt</hi></l><lb/>
            <l>Und uns die geno&#x017F;&#x017F;ne Scho&#x0364;nheit wiedrig deucht, und<lb/><hi rendition="#et">nicht mehr &#x017F;cho&#x0364;n,</hi></l><lb/>
            <l>Minder, durch des Vorwurfs Schuld, welcher ja der-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;elbe bleibet,</hi></l><lb/>
            <l>Als durch Abnahm&#x2019; un&#x017F;ers Feuers, das vorher in Adern<lb/><hi rendition="#et">brannt&#x2019;;</hi></l><lb/>
            <l>J&#x017F;t es eine gro&#x017F;&#x017F;e Frag&#x2019;, ob, was uns zur Reue treibet,</l><lb/>
            <l>Und was insgemein Gewi&#x017F;&#x017F;en von dem Men&#x017F;chen wird<lb/><hi rendition="#et">genannt</hi></l><lb/>
            <l>Die&#x017F;es nicht zur Ur&#x017F;ach habe? folglich ob&#x2019;s &#x017F;o fu&#x0364;rchter-<lb/><hi rendition="#et">lich,</hi></l><lb/>
            <l>Als man es &#x017F;on&#x017F;t glaubet, &#x017F;ey? ob mans nicht mit Un-<lb/><hi rendition="#et">recht &#x017F;ich</hi></l><lb/>
            <l>So verdammend vorge&#x017F;tellt? ob vielmehr nicht eigent-<lb/><hi rendition="#et">lich,</hi></l><lb/>
            <l>Durch des Co&#x0364;rpers Aenderung, oder durch empfundnes<lb/><hi rendition="#et">Jrren</hi></l><lb/>
            <l>Ueber die gehofte Lu&#x017F;t, die Gedancken uns verwirren,</l><lb/>
            <l>Und wir durch ein eingebildet, irrig &#x017F;o genannt Gewi&#x017F;-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;en</hi></l><lb/>
            <l>Uns nicht, mehr als no&#x0364;htig wa&#x0364;re, fu&#x0364;rchten und uns<lb/><hi rendition="#et">qva&#x0364;len mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en?</hi></l>
          </lg><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Eben</fw><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[102/0118] (***) Betrachtungen uͤber das Gewiſſen. Bey der Gelegenheit der Fabel von der Sirene im 1. Theil, p. 561. A. Da es mehr nun als zu wahr, daß die Dinge die- ſer Welt, Wie geſagt, zwo Seiten haben, und daß wir ſie mei- ſtens drehn Nach dem Zuſtand unſers Weſens, da die Liebe ploͤtz- lich faͤllt Und uns die genoſſne Schoͤnheit wiedrig deucht, und nicht mehr ſchoͤn, Minder, durch des Vorwurfs Schuld, welcher ja der- ſelbe bleibet, Als durch Abnahm’ unſers Feuers, das vorher in Adern brannt’; Jſt es eine groſſe Frag’, ob, was uns zur Reue treibet, Und was insgemein Gewiſſen von dem Menſchen wird genannt Dieſes nicht zur Urſach habe? folglich ob’s ſo fuͤrchter- lich, Als man es ſonſt glaubet, ſey? ob mans nicht mit Un- recht ſich So verdammend vorgeſtellt? ob vielmehr nicht eigent- lich, Durch des Coͤrpers Aenderung, oder durch empfundnes Jrren Ueber die gehofte Luſt, die Gedancken uns verwirren, Und wir durch ein eingebildet, irrig ſo genannt Gewiſ- ſen Uns nicht, mehr als noͤhtig waͤre, fuͤrchten und uns qvaͤlen muͤſſen? Eben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/118
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/118>, abgerufen am 24.11.2024.