Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 4. 2. Aufl. Hamburg, 1735.

Bild:
<< vorherige Seite

Natur und Kunst.
Der nach so netter Maaß sein künstlich Werck bezirckt,
Und der, nach Linien, so nicht verhanden, wirckt.

Dieß führet uns gewiß viel tieffer, als es scheinet.
Es zeigt uns eine Krafft, die gantz auf andre Weise,
Zu des allmächtigen Lieb-reichen Schöpfers Preise,
Verfährt und wirckt, als wir. Wir werden überführet,
Daß, vor der unsrigen, ihr weit der Preis gebühret.
Wir thun dadurch zugleich
Jn der beschäfftigten Natur
Sonst unerkanntes Reich
Gar einen scharffen Blick. Wir kommen auf die Spur,
Daß wir uns künfftighin nicht mehr so sehr vergessen,
Und alle Kräffte bloß nach unserm Leisten messen.
Es ist vielmehr, was Menschen hier verrichten,
Allein nur eine Art von Kräfften, der die Welt
Vielleicht viel tausend in sich hält,
Und kann die unsrige mit nichten
Der andern Richtschnur seyn.
Was der Menschen Seele wircket, heisst man Kunst,
und unterscheidet

Sie von dem, was die Natur wirckt, bereitet, ziert und
kleidet,

Als wenn, sonder alle Kunst, sonder Zweck, ein Ungefehr
Von den Wercken der Natur bloß ein blinder Leiter wär.
Dieser vorgefasste Wahn schadet uns mehr, als man meinet,
Weil dadurch der Mensch allein künstlich und vernünftig
scheinet:

So daß er, fast eifersüchtig, kaum mit gutem Auge sieht,
Wann die bildende Natur, sonder ihn, was künstlichs zieht.
Ar-

Natur und Kunſt.
Der nach ſo netter Maaß ſein kuͤnſtlich Werck bezirckt,
Und der, nach Linien, ſo nicht verhanden, wirckt.

Dieß fuͤhret uns gewiß viel tieffer, als es ſcheinet.
Es zeigt uns eine Krafft, die gantz auf andre Weiſe,
Zu des allmaͤchtigen Lieb-reichen Schoͤpfers Preiſe,
Verfaͤhrt und wirckt, als wir. Wir werden uͤberfuͤhret,
Daß, vor der unſrigen, ihr weit der Preis gebuͤhret.
Wir thun dadurch zugleich
Jn der beſchaͤfftigten Natur
Sonſt unerkanntes Reich
Gar einen ſcharffen Blick. Wir kommen auf die Spur,
Daß wir uns kuͤnfftighin nicht mehr ſo ſehr vergeſſen,
Und alle Kraͤffte bloß nach unſerm Leiſten meſſen.
Es iſt vielmehr, was Menſchen hier verrichten,
Allein nur eine Art von Kraͤfften, der die Welt
Vielleicht viel tauſend in ſich haͤlt,
Und kann die unſrige mit nichten
Der andern Richtſchnur ſeyn.
Was der Menſchen Seele wircket, heiſſt man Kunſt,
und unterſcheidet

Sie von dem, was die Natur wirckt, bereitet, ziert und
kleidet,

Als wenn, ſonder alle Kunſt, ſonder Zweck, ein Ungefehr
Von den Wercken der Natur bloß ein blinder Leiter waͤr.
Dieſer vorgefaſſte Wahn ſchadet uns mehr, als man meinet,
Weil dadurch der Menſch allein kuͤnſtlich und vernuͤnftig
ſcheinet:

So daß er, faſt eiferſuͤchtig, kaum mit gutem Auge ſieht,
Wann die bildende Natur, ſonder ihn, was kuͤnſtlichs zieht.
Ar-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="4">
              <pb facs="#f0202" n="170"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Natur und Kun&#x017F;t.</hi> </fw><lb/>
              <l>Der nach &#x017F;o netter Maaß &#x017F;ein ku&#x0364;n&#x017F;tlich Werck bezirckt,</l><lb/>
              <l>Und der, nach Linien, &#x017F;o nicht verhanden, wirckt.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="5">
              <l>Dieß fu&#x0364;hret uns gewiß viel tieffer, als es &#x017F;cheinet.</l><lb/>
              <l>Es zeigt uns eine Krafft, die gantz auf andre Wei&#x017F;e,</l><lb/>
              <l>Zu des allma&#x0364;chtigen Lieb-reichen Scho&#x0364;pfers Prei&#x017F;e,</l><lb/>
              <l>Verfa&#x0364;hrt und wirckt, als wir. Wir werden u&#x0364;berfu&#x0364;hret,</l><lb/>
              <l>Daß, vor der un&#x017F;rigen, ihr weit der Preis gebu&#x0364;hret.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="6">
              <l>Wir thun dadurch zugleich</l><lb/>
              <l>Jn der be&#x017F;cha&#x0364;fftigten Natur</l><lb/>
              <l>Son&#x017F;t unerkanntes Reich</l><lb/>
              <l>Gar einen &#x017F;charffen Blick. Wir kommen auf die Spur,</l><lb/>
              <l>Daß wir uns ku&#x0364;nfftighin nicht mehr &#x017F;o &#x017F;ehr verge&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Und alle Kra&#x0364;ffte bloß nach un&#x017F;erm Lei&#x017F;ten me&#x017F;&#x017F;en.</l><lb/>
              <l>Es i&#x017F;t vielmehr, was Men&#x017F;chen hier verrichten,</l><lb/>
              <l>Allein nur eine Art von Kra&#x0364;fften, der die Welt</l><lb/>
              <l>Vielleicht viel tau&#x017F;end in &#x017F;ich ha&#x0364;lt,</l><lb/>
              <l>Und kann die un&#x017F;rige mit nichten</l><lb/>
              <l>Der andern Richt&#x017F;chnur &#x017F;eyn.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="7">
              <l>Was der Men&#x017F;chen Seele wircket, hei&#x017F;&#x017F;t man Kun&#x017F;t,<lb/><hi rendition="#et">und unter&#x017F;cheidet</hi></l><lb/>
              <l>Sie von dem, was die Natur wirckt, bereitet, ziert und<lb/><hi rendition="#et">kleidet,</hi></l><lb/>
              <l>Als wenn, &#x017F;onder alle Kun&#x017F;t, &#x017F;onder Zweck, ein Ungefehr</l><lb/>
              <l>Von den Wercken der Natur bloß ein blinder Leiter wa&#x0364;r.</l><lb/>
              <l>Die&#x017F;er vorgefa&#x017F;&#x017F;te Wahn &#x017F;chadet uns mehr, als man meinet,</l><lb/>
              <l>Weil dadurch der Men&#x017F;ch allein ku&#x0364;n&#x017F;tlich und vernu&#x0364;nftig<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;cheinet:</hi></l><lb/>
              <l>So daß er, fa&#x017F;t eifer&#x017F;u&#x0364;chtig, kaum mit gutem Auge &#x017F;ieht,</l><lb/>
              <l>Wann die bildende Natur, &#x017F;onder ihn, was ku&#x0364;n&#x017F;tlichs zieht.</l>
            </lg><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Ar-</fw><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0202] Natur und Kunſt. Der nach ſo netter Maaß ſein kuͤnſtlich Werck bezirckt, Und der, nach Linien, ſo nicht verhanden, wirckt. Dieß fuͤhret uns gewiß viel tieffer, als es ſcheinet. Es zeigt uns eine Krafft, die gantz auf andre Weiſe, Zu des allmaͤchtigen Lieb-reichen Schoͤpfers Preiſe, Verfaͤhrt und wirckt, als wir. Wir werden uͤberfuͤhret, Daß, vor der unſrigen, ihr weit der Preis gebuͤhret. Wir thun dadurch zugleich Jn der beſchaͤfftigten Natur Sonſt unerkanntes Reich Gar einen ſcharffen Blick. Wir kommen auf die Spur, Daß wir uns kuͤnfftighin nicht mehr ſo ſehr vergeſſen, Und alle Kraͤffte bloß nach unſerm Leiſten meſſen. Es iſt vielmehr, was Menſchen hier verrichten, Allein nur eine Art von Kraͤfften, der die Welt Vielleicht viel tauſend in ſich haͤlt, Und kann die unſrige mit nichten Der andern Richtſchnur ſeyn. Was der Menſchen Seele wircket, heiſſt man Kunſt, und unterſcheidet Sie von dem, was die Natur wirckt, bereitet, ziert und kleidet, Als wenn, ſonder alle Kunſt, ſonder Zweck, ein Ungefehr Von den Wercken der Natur bloß ein blinder Leiter waͤr. Dieſer vorgefaſſte Wahn ſchadet uns mehr, als man meinet, Weil dadurch der Menſch allein kuͤnſtlich und vernuͤnftig ſcheinet: So daß er, faſt eiferſuͤchtig, kaum mit gutem Auge ſieht, Wann die bildende Natur, ſonder ihn, was kuͤnſtlichs zieht. Ar-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735/202
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 4. 2. Aufl. Hamburg, 1735, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen04_1735/202>, abgerufen am 22.11.2024.