Brockes, Barthold Heinrich: Herrn B. H. Brockes, [...] verdeutschte Grund-Sätze der Welt-Weisheit, des Herrn Abts Genest. Bd. 3. 2. Aufl. Hamburg, 1730.Von dem Gesicht. Und, eh' er durch ein übereilt Bewegen Sich selbst entführen lässt, erst selber überlegen, Auf welche Weis er siehet, was er sieht, Und was sein Werckzeug sey: wo er sich nicht bemüht Dergleichen wol zu unterscheiden; So ist die Folge schlimm. So, wann uns, nach dem Schein Ein Thurm, der viereckt ist, von fern scheint rund zu seyn. Wenn ein gerader Stock, den wir ins Wasser sencken, Gekrümmt scheint, ohn daß man durchs Aug' kan anders dencken: So spricht man zwar, es muß ein Sinn den andern lehren, Die Füsse dürffen uns zum Thurm nur näher führen, Man darf ja nur den Stock berühren: Allein, Wo soll denn endlich doch der Wahrheit Richtschnur seyn? Jst es nicht bloß der Geist, der sich bemüht und lernet Die Ursach, wodurch er vom Wahren sich entfernet? Jn jeder edlen Kunst und Wissenschafft, Gebraucht man allerdings der Augen rege Krafft, Jn allen nützlichen Experimenten Sind sie nothwendige Agenten. Allein, Spricht man darum mit Recht, daß sie vernünfftig seyn? Wenn von der Bau-Kunst wir ein Meister-Stück erhöhn, Und wenn wir Stein und Tuch, durch Kunst belebet sehn; Besteht es in der Hand, besteht es in den Augen, Daß wir solch künstlich Werck wohl anzugeben taugen? Von dem Geſicht. Und, eh’ er durch ein uͤbereilt Bewegen Sich ſelbſt entfuͤhren laͤſſt, erſt ſelber uͤberlegen, Auf welche Weis er ſiehet, was er ſieht, Und was ſein Werckzeug ſey: wo er ſich nicht bemuͤht Dergleichen wol zu unterſcheiden; So iſt die Folge ſchlimm. So, wann uns, nach dem Schein Ein Thurm, der viereckt iſt, von fern ſcheint rund zu ſeyn. Wenn ein gerader Stock, den wir ins Waſſer ſencken, Gekruͤmmt ſcheint, ohn daß man durchs Aug’ kan anders dencken: So ſpricht man zwar, es muß ein Sinn den andern lehren, Die Fuͤſſe duͤrffen uns zum Thurm nur naͤher fuͤhren, Man darf ja nur den Stock beruͤhren: Allein, Wo ſoll denn endlich doch der Wahrheit Richtſchnur ſeyn? Jſt es nicht bloß der Geiſt, der ſich bemuͤht und lernet Die Urſach, wodurch er vom Wahren ſich entfernet? Jn jeder edlen Kunſt und Wiſſenſchafft, Gebraucht man allerdings der Augen rege Krafft, Jn allen nuͤtzlichen Experimenten Sind ſie nothwendige Agenten. Allein, Spricht man darum mit Recht, daß ſie vernuͤnfftig ſeyn? Wenn von der Bau-Kunſt wir ein Meiſter-Stuͤck erhoͤhn, Und wenn wir Stein und Tuch, durch Kunſt belebet ſehn; Beſteht es in der Hand, beſteht es in den Augen, Daß wir ſolch kuͤnſtlich Werck wohl anzugeben taugen? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0509" n="479"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Von dem Geſicht.</hi> </fw><lb/> <lg type="poem"> <l>Und, eh’ er durch ein uͤbereilt Bewegen</l><lb/> <l>Sich ſelbſt entfuͤhren laͤſſt, erſt ſelber uͤberlegen,</l><lb/> <l>Auf welche Weis er ſiehet, was er ſieht,</l><lb/> <l>Und was ſein Werckzeug ſey: wo er ſich nicht bemuͤht</l><lb/> <l>Dergleichen wol zu unterſcheiden;</l><lb/> <l>So iſt die Folge ſchlimm. So, wann uns, nach dem Schein</l><lb/> <l>Ein Thurm, der viereckt iſt, von fern ſcheint rund zu ſeyn.</l><lb/> <l>Wenn ein gerader Stock, den wir ins Waſſer ſencken,</l><lb/> <l>Gekruͤmmt ſcheint, ohn daß man durchs Aug’ kan anders</l><lb/> <l> <hi rendition="#et">dencken:</hi> </l><lb/> <l>So ſpricht man zwar, es muß ein Sinn den andern lehren,</l><lb/> <l>Die Fuͤſſe duͤrffen uns zum Thurm nur naͤher fuͤhren,</l><lb/> <l>Man darf ja nur den Stock beruͤhren:</l><lb/> <l>Allein,</l><lb/> <l>Wo ſoll denn endlich doch der Wahrheit Richtſchnur ſeyn?</l><lb/> <l>Jſt es nicht bloß der Geiſt, der ſich bemuͤht und lernet</l><lb/> <l>Die Urſach, wodurch er vom Wahren ſich entfernet?</l> </lg><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <lg type="poem"> <l><hi rendition="#in">J</hi>n jeder edlen Kunſt und Wiſſenſchafft,</l><lb/> <l>Gebraucht man allerdings der Augen rege Krafft,</l><lb/> <l>Jn allen nuͤtzlichen Experimenten</l><lb/> <l>Sind ſie nothwendige Agenten.</l><lb/> <l>Allein,</l><lb/> <l>Spricht man darum mit Recht, daß ſie vernuͤnfftig ſeyn?</l><lb/> <l>Wenn von der Bau-Kunſt wir ein Meiſter-Stuͤck erhoͤhn,</l><lb/> <l>Und wenn wir Stein und Tuch, durch Kunſt belebet ſehn;</l><lb/> <l>Beſteht es in der Hand, beſteht es in den Augen,</l><lb/> <l>Daß wir ſolch kuͤnſtlich Werck wohl anzugeben taugen?</l> </lg><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [479/0509]
Von dem Geſicht.
Und, eh’ er durch ein uͤbereilt Bewegen
Sich ſelbſt entfuͤhren laͤſſt, erſt ſelber uͤberlegen,
Auf welche Weis er ſiehet, was er ſieht,
Und was ſein Werckzeug ſey: wo er ſich nicht bemuͤht
Dergleichen wol zu unterſcheiden;
So iſt die Folge ſchlimm. So, wann uns, nach dem Schein
Ein Thurm, der viereckt iſt, von fern ſcheint rund zu ſeyn.
Wenn ein gerader Stock, den wir ins Waſſer ſencken,
Gekruͤmmt ſcheint, ohn daß man durchs Aug’ kan anders
dencken:
So ſpricht man zwar, es muß ein Sinn den andern lehren,
Die Fuͤſſe duͤrffen uns zum Thurm nur naͤher fuͤhren,
Man darf ja nur den Stock beruͤhren:
Allein,
Wo ſoll denn endlich doch der Wahrheit Richtſchnur ſeyn?
Jſt es nicht bloß der Geiſt, der ſich bemuͤht und lernet
Die Urſach, wodurch er vom Wahren ſich entfernet?
Jn jeder edlen Kunſt und Wiſſenſchafft,
Gebraucht man allerdings der Augen rege Krafft,
Jn allen nuͤtzlichen Experimenten
Sind ſie nothwendige Agenten.
Allein,
Spricht man darum mit Recht, daß ſie vernuͤnfftig ſeyn?
Wenn von der Bau-Kunſt wir ein Meiſter-Stuͤck erhoͤhn,
Und wenn wir Stein und Tuch, durch Kunſt belebet ſehn;
Beſteht es in der Hand, beſteht es in den Augen,
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