Träumt die stumme Nachtigall, sie singe, Daß das Herz des Wiederhalls zerspringe, Träumt das blinde Huhn, es zähl' die Kerne, Und der drei je zählte kaum, die Sterne, Träumt das starre Erz, gar linde thau es, Und das Eisenherz, ein Kind vertrau es, Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche, Wie der Traube Schüchternheit berausche; Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, Führt der hellen Töne Glanzgefunkel Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel, Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen, Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien Der erwachten Nacht ins Herz all schreien; Weh, ohn Opfer gehn die süßen Wunder, Geh'n die armen Herzen einsam unter!"
Ich nickte bejahend, wie man einem Kinde nickt, dem man zu zuhören scheint, aber ich hörte auf die Schallmeien. Ich bot ihr schöne Früchte, sie aß nicht. Ich fragte: "war¬ um ißt du nicht? sie sind süß." -- Da erwiederte sie mit tiefem Schmerz: "Ohne Opfer gehn die süßen Wunder, gehn die armen Herzen einsam unter." -- Ich wollte ihrer Empfin¬ dung ausweichen, blickte hin und wieder, aber plötzlich fühlte ich mein Herz. Ich blickte die arme Kranke liebevoll an, reichte ihr die Hand über die Früchte und sprach: "Iß mir zum Opfer, armes Herz!" und sie aß. Als ich auch ge¬ nug gegessen, eilte ich wieder an den Zaun zu den Fackeln und Schallmeien und dachte keines Hungernden, selbst meiner kaum. -- Da rasselte es am Zaun neben mir. Klareta war mir nachgeschlichen, und riß sich die Hände blutig in den Dornen, um mir Rosen zu reichen. Ich sprach: "was soll ich mit den Rosen?" -- Klareta erwiederte: "Meine Hände bluten, mein Herz blutet; ohne Opfer gehn die süßen Wun¬ der, gehn die armen Herzen alle unter." -- Ich kehrte mit ihr zu der Bleichhütte, saß am Feuer nieder und ließ mir
Traͤumt die ſtumme Nachtigall, ſie ſinge, Daß das Herz des Wiederhalls zerſpringe, Traͤumt das blinde Huhn, es zaͤhl' die Kerne, Und der drei je zaͤhlte kaum, die Sterne, Traͤumt das ſtarre Erz, gar linde thau es, Und das Eiſenherz, ein Kind vertrau es, Traͤumt die taube Nuͤchternheit, ſie lauſche, Wie der Traube Schuͤchternheit berauſche; Koͤmmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, Fuͤhrt der hellen Toͤne Glanzgefunkel Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel, Rennt den Traum ſie ſchmerzlich uͤbern Haufen, Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien Der erwachten Nacht ins Herz all ſchreien; Weh, ohn Opfer gehn die ſuͤßen Wunder, Geh'n die armen Herzen einſam unter!“
Ich nickte bejahend, wie man einem Kinde nickt, dem man zu zuhoͤren ſcheint, aber ich hoͤrte auf die Schallmeien. Ich bot ihr ſchoͤne Fruͤchte, ſie aß nicht. Ich fragte: „war¬ um ißt du nicht? ſie ſind ſuͤß.“ — Da erwiederte ſie mit tiefem Schmerz: „Ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wunder, gehn die armen Herzen einſam unter.“ — Ich wollte ihrer Empfin¬ dung ausweichen, blickte hin und wieder, aber ploͤtzlich fuͤhlte ich mein Herz. Ich blickte die arme Kranke liebevoll an, reichte ihr die Hand uͤber die Fruͤchte und ſprach: „Iß mir zum Opfer, armes Herz!“ und ſie aß. Als ich auch ge¬ nug gegeſſen, eilte ich wieder an den Zaun zu den Fackeln und Schallmeien und dachte keines Hungernden, ſelbſt meiner kaum. — Da raſſelte es am Zaun neben mir. Klareta war mir nachgeſchlichen, und riß ſich die Haͤnde blutig in den Dornen, um mir Roſen zu reichen. Ich ſprach: „was ſoll ich mit den Roſen?“ — Klareta erwiederte: „Meine Haͤnde bluten, mein Herz blutet; ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wun¬ der, gehn die armen Herzen alle unter.“ — Ich kehrte mit ihr zu der Bleichhuͤtte, ſaß am Feuer nieder und ließ mir
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><lgtype="poem"><pbfacs="#f0326"n="272"/><l>Traͤumt die ſtumme Nachtigall, ſie ſinge,</l><lb/><l>Daß das Herz des Wiederhalls zerſpringe,</l><lb/><l>Traͤumt das blinde Huhn, es zaͤhl' die Kerne,</l><lb/><l>Und der drei je zaͤhlte kaum, die Sterne,</l><lb/><l>Traͤumt das ſtarre Erz, gar linde thau es,</l><lb/><l>Und das Eiſenherz, ein Kind vertrau es,</l><lb/><l>Traͤumt die taube Nuͤchternheit, ſie lauſche,</l><lb/><l>Wie der Traube Schuͤchternheit berauſche;</l><lb/><l>Koͤmmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,</l><lb/><l>Fuͤhrt der hellen Toͤne Glanzgefunkel</l><lb/><l>Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel,</l><lb/><l>Rennt den Traum ſie ſchmerzlich uͤbern Haufen,</l><lb/><l>Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien</l><lb/><l>Der erwachten Nacht ins Herz all ſchreien;</l><lb/><l>Weh, ohn Opfer gehn die ſuͤßen Wunder,</l><lb/><l>Geh'n die armen Herzen einſam unter!“</l><lb/></lg><p>Ich nickte bejahend, wie man einem Kinde nickt, dem<lb/>
man zu zuhoͤren ſcheint, aber ich hoͤrte auf die Schallmeien.<lb/>
Ich bot ihr ſchoͤne Fruͤchte, ſie aß nicht. Ich fragte: „war¬<lb/>
um ißt du nicht? ſie ſind ſuͤß.“— Da erwiederte ſie mit<lb/>
tiefem Schmerz: „Ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wunder, gehn<lb/>
die armen Herzen einſam unter.“— Ich wollte ihrer Empfin¬<lb/>
dung ausweichen, blickte hin und wieder, aber ploͤtzlich fuͤhlte<lb/>
ich mein Herz. Ich blickte die arme Kranke liebevoll an,<lb/>
reichte ihr die Hand uͤber die Fruͤchte und ſprach: „Iß mir<lb/>
zum Opfer, armes Herz!“ und ſie aß. Als ich auch ge¬<lb/>
nug gegeſſen, eilte ich wieder an den Zaun zu den Fackeln<lb/>
und Schallmeien und dachte keines Hungernden, ſelbſt meiner<lb/>
kaum. — Da raſſelte es am Zaun neben mir. Klareta war<lb/>
mir nachgeſchlichen, und riß ſich die Haͤnde blutig in den<lb/>
Dornen, um mir Roſen zu reichen. Ich ſprach: „was ſoll<lb/>
ich mit den Roſen?“— Klareta erwiederte: „Meine Haͤnde<lb/>
bluten, mein Herz blutet; ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wun¬<lb/>
der, gehn die armen Herzen alle unter.“— Ich kehrte mit<lb/>
ihr zu der Bleichhuͤtte, ſaß am Feuer nieder und ließ mir<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[272/0326]
Traͤumt die ſtumme Nachtigall, ſie ſinge,
Daß das Herz des Wiederhalls zerſpringe,
Traͤumt das blinde Huhn, es zaͤhl' die Kerne,
Und der drei je zaͤhlte kaum, die Sterne,
Traͤumt das ſtarre Erz, gar linde thau es,
Und das Eiſenherz, ein Kind vertrau es,
Traͤumt die taube Nuͤchternheit, ſie lauſche,
Wie der Traube Schuͤchternheit berauſche;
Koͤmmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,
Fuͤhrt der hellen Toͤne Glanzgefunkel
Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel,
Rennt den Traum ſie ſchmerzlich uͤbern Haufen,
Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien
Der erwachten Nacht ins Herz all ſchreien;
Weh, ohn Opfer gehn die ſuͤßen Wunder,
Geh'n die armen Herzen einſam unter!“
Ich nickte bejahend, wie man einem Kinde nickt, dem
man zu zuhoͤren ſcheint, aber ich hoͤrte auf die Schallmeien.
Ich bot ihr ſchoͤne Fruͤchte, ſie aß nicht. Ich fragte: „war¬
um ißt du nicht? ſie ſind ſuͤß.“ — Da erwiederte ſie mit
tiefem Schmerz: „Ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wunder, gehn
die armen Herzen einſam unter.“ — Ich wollte ihrer Empfin¬
dung ausweichen, blickte hin und wieder, aber ploͤtzlich fuͤhlte
ich mein Herz. Ich blickte die arme Kranke liebevoll an,
reichte ihr die Hand uͤber die Fruͤchte und ſprach: „Iß mir
zum Opfer, armes Herz!“ und ſie aß. Als ich auch ge¬
nug gegeſſen, eilte ich wieder an den Zaun zu den Fackeln
und Schallmeien und dachte keines Hungernden, ſelbſt meiner
kaum. — Da raſſelte es am Zaun neben mir. Klareta war
mir nachgeſchlichen, und riß ſich die Haͤnde blutig in den
Dornen, um mir Roſen zu reichen. Ich ſprach: „was ſoll
ich mit den Roſen?“ — Klareta erwiederte: „Meine Haͤnde
bluten, mein Herz blutet; ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wun¬
der, gehn die armen Herzen alle unter.“ — Ich kehrte mit
ihr zu der Bleichhuͤtte, ſaß am Feuer nieder und ließ mir
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/326>, abgerufen am 15.08.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.