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Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838.

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Wollen treu das zehnte Korn
Unsern Hirten bieten,
Die vor Distel und vor Dorn
Schwache Schäflein hüten.
Schützet uns vor Hagelnoth,
Gebet Sonn und Regen,
Bis wir tragen Wein und Brod
Unserm Hirt entgegen.
Gebt, daß Alles leben kann,
Und daß keiner darbe,
Selbst dem aller ärmsten Mann
Eine feine Garbe.
Wenn wir durch die Stoppeln ziehn
Und die Aehren lesen,
Danken Gott wir auf den Knie'n,
Der so treu gewesen.

Ich schenkte Moskatellina ein schönes Getreidefeld, wo¬
für sie bei Braut- und Leichenzügen ein Aehrenhuhn zu ent¬
richten hat.

St. Nicomedestag. Heute stand ein Storch auf dem
Thurm meines Schlosses und klapperte. Ich hörte ein Glöck¬
chen läuten, wußt' nicht, was soll's bedeuten, da sah ich
einen Zug kleiner, armer Kinder vorüberführen. Sie plau¬
derten durcheinander, daß man sie weit in die Ferne hören
konnte. Als sie nun den Klapperstorch hörten, machten sie
Halt vor dem Thurme und sangen zu ihm hinauf:

"Klapperstorch, Langebein, bring mir doch ein Schwesterlein,
Eh die Sonn zum Krebse geht und die Gluck' am Himmel steht
Mit den sieben Küchlein fein, das sind sieben Sternelein,
Wenn der Mond in voller Pracht lachet in der Mitternacht,
Wenn der Widder springt heran zu dem feuchten Wassermann,
Da die Rosen glühen und die Linden blühen,
Da die Bienlein schwärmen und die Käfer lärmen,
Da vom Fliederblüthenduft ganz berauscht der Kukuk ruft,
Da der Wein im Faß sich rührt, weil er Rebenblüthe spürt.
Da der Finke musizirt und die Lerche tirelirt,
Da die Lilie in der Nacht träumend weint und wachend lacht,
Wollen treu das zehnte Korn
Unſern Hirten bieten,
Die vor Diſtel und vor Dorn
Schwache Schaͤflein huͤten.
Schuͤtzet uns vor Hagelnoth,
Gebet Sonn und Regen,
Bis wir tragen Wein und Brod
Unſerm Hirt entgegen.
Gebt, daß Alles leben kann,
Und daß keiner darbe,
Selbſt dem aller aͤrmſten Mann
Eine feine Garbe.
Wenn wir durch die Stoppeln ziehn
Und die Aehren leſen,
Danken Gott wir auf den Knie'n,
Der ſo treu geweſen.

Ich ſchenkte Moskatellina ein ſchoͤnes Getreidefeld, wo¬
fuͤr ſie bei Braut- und Leichenzuͤgen ein Aehrenhuhn zu ent¬
richten hat.

St. Nicomedestag. Heute ſtand ein Storch auf dem
Thurm meines Schloſſes und klapperte. Ich hoͤrte ein Gloͤck¬
chen laͤuten, wußt' nicht, was ſoll's bedeuten, da ſah ich
einen Zug kleiner, armer Kinder voruͤberfuͤhren. Sie plau¬
derten durcheinander, daß man ſie weit in die Ferne hoͤren
konnte. Als ſie nun den Klapperſtorch hoͤrten, machten ſie
Halt vor dem Thurme und ſangen zu ihm hinauf:

„Klapperſtorch, Langebein, bring mir doch ein Schweſterlein,
Eh die Sonn zum Krebſe geht und die Gluck' am Himmel ſteht
Mit den ſieben Kuͤchlein fein, das ſind ſieben Sternelein,
Wenn der Mond in voller Pracht lachet in der Mitternacht,
Wenn der Widder ſpringt heran zu dem feuchten Waſſermann,
Da die Roſen gluͤhen und die Linden bluͤhen,
Da die Bienlein ſchwaͤrmen und die Kaͤfer laͤrmen,
Da vom Fliederbluͤthenduft ganz berauſcht der Kukuk ruft,
Da der Wein im Faß ſich ruͤhrt, weil er Rebenbluͤthe ſpuͤrt.
Da der Finke muſizirt und die Lerche tirelirt,
Da die Lilie in der Nacht traͤumend weint und wachend lacht,
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[254/0308] Wollen treu das zehnte Korn Unſern Hirten bieten, Die vor Diſtel und vor Dorn Schwache Schaͤflein huͤten. Schuͤtzet uns vor Hagelnoth, Gebet Sonn und Regen, Bis wir tragen Wein und Brod Unſerm Hirt entgegen. Gebt, daß Alles leben kann, Und daß keiner darbe, Selbſt dem aller aͤrmſten Mann Eine feine Garbe. Wenn wir durch die Stoppeln ziehn Und die Aehren leſen, Danken Gott wir auf den Knie'n, Der ſo treu geweſen. Ich ſchenkte Moskatellina ein ſchoͤnes Getreidefeld, wo¬ fuͤr ſie bei Braut- und Leichenzuͤgen ein Aehrenhuhn zu ent¬ richten hat. St. Nicomedestag. Heute ſtand ein Storch auf dem Thurm meines Schloſſes und klapperte. Ich hoͤrte ein Gloͤck¬ chen laͤuten, wußt' nicht, was ſoll's bedeuten, da ſah ich einen Zug kleiner, armer Kinder voruͤberfuͤhren. Sie plau¬ derten durcheinander, daß man ſie weit in die Ferne hoͤren konnte. Als ſie nun den Klapperſtorch hoͤrten, machten ſie Halt vor dem Thurme und ſangen zu ihm hinauf: „Klapperſtorch, Langebein, bring mir doch ein Schweſterlein, Eh die Sonn zum Krebſe geht und die Gluck' am Himmel ſteht Mit den ſieben Kuͤchlein fein, das ſind ſieben Sternelein, Wenn der Mond in voller Pracht lachet in der Mitternacht, Wenn der Widder ſpringt heran zu dem feuchten Waſſermann, Da die Roſen gluͤhen und die Linden bluͤhen, Da die Bienlein ſchwaͤrmen und die Kaͤfer laͤrmen, Da vom Fliederbluͤthenduft ganz berauſcht der Kukuk ruft, Da der Wein im Faß ſich ruͤhrt, weil er Rebenbluͤthe ſpuͤrt. Da der Finke muſizirt und die Lerche tirelirt, Da die Lilie in der Nacht traͤumend weint und wachend lacht,

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Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/308>, abgerufen am 22.11.2024.