Als der Klingelbeutel in dem Dom herumgieng, hielt der edle Muskulus noch eine rührende Auslegung des tief¬ sinnigen Wortes: "er ist so arm wie eine Kirchenmaus," welche den ganzen Klingelbeutel mit Waitzenkörnern so reich¬ lich füllte, daß die Marquise Marmotte genug zu thun hatte, ihn herum zu schleppen, wenn gleich der duftende Herr Pi¬ loris ihr dabei den Arm gab.
So erzählte mir Prinzeß Sissi Alles, daß ich es eben so gut wußte, als wenn ich in der Rede des edlen Musku¬ lus geschlafen hätte. -- Ich dankte ihr herzlich dafür und sagte ihr: "Liebste Sissi, ich bin glücklich, daß sich unsre Herzen gefunden haben und daß wir uns du nennen -- ach so kann ich auch alle meine Leiden in deinen schwesterlichen Busen ausschütten; ach ich muß dir zu meiner großen Be¬ schämung gestehen, es ist mir so sehnsüchtig um's Herz, ich sehne mich nach einem Gegenstand, den ich freßlieb ha¬ ben konnte, es ist mir so leer, so leer, ich möchte Alles ver¬ schlingen; ich müßte mich sehr irren, oder ich habe einen ganz abscheulichen Hunger, denn seit ich das Birkenreis ge¬ schmeckt, habe ich nichts mehr über mein Herz gebracht, als einige Wald-Erdbeeren; Sissi, schaffe mir etwas zum schna¬ belieren, oder ich sterbe aus Sehnsucht." -- Da erwiederte Sissi: "Herz Gackeleia! du hast ja noch eine halbe Bretzel und einen halben Bubenschenkel in deinem Körbchen;" aber ich entgegnete: "daß sind Dokumente, und ich wollte eher ver¬ hungern, als Dokumente essen." "Wohlan," sagte Sissi, "ich will sehen, was ich dir auftreiben kann," da pfiff sie einige Mal, worauf eine Fledermaus zu ihr heranflog, welcher sie den Auftrag gab: die reinsten Schulmauskinder sollten au¬ genblicklich Beeren pflücken und auf grünen Blättern mir zu Füßen legen -- eben so solle sie den anwesenden Geschäfts¬ träger der Haselmäuse, den wohlriechenden Chevalier Mus¬ cardin in ihrem Namen um eine Portion Haselnüße bitten und diese hieher besorgen, überhaupt möge sie Alles, was sie
Als der Klingelbeutel in dem Dom herumgieng, hielt der edle Muskulus noch eine ruͤhrende Auslegung des tief¬ ſinnigen Wortes: „er iſt ſo arm wie eine Kirchenmaus,“ welche den ganzen Klingelbeutel mit Waitzenkoͤrnern ſo reich¬ lich fuͤllte, daß die Marquiſe Marmotte genug zu thun hatte, ihn herum zu ſchleppen, wenn gleich der duftende Herr Pi¬ loris ihr dabei den Arm gab.
So erzaͤhlte mir Prinzeß Siſſi Alles, daß ich es eben ſo gut wußte, als wenn ich in der Rede des edlen Musku¬ lus geſchlafen haͤtte. — Ich dankte ihr herzlich dafuͤr und ſagte ihr: „Liebſte Siſſi, ich bin gluͤcklich, daß ſich unſre Herzen gefunden haben und daß wir uns du nennen — ach ſo kann ich auch alle meine Leiden in deinen ſchweſterlichen Buſen ausſchuͤtten; ach ich muß dir zu meiner großen Be¬ ſchaͤmung geſtehen, es iſt mir ſo ſehnſuͤchtig um's Herz, ich ſehne mich nach einem Gegenſtand, den ich freßlieb ha¬ ben konnte, es iſt mir ſo leer, ſo leer, ich moͤchte Alles ver¬ ſchlingen; ich muͤßte mich ſehr irren, oder ich habe einen ganz abſcheulichen Hunger, denn ſeit ich das Birkenreis ge¬ ſchmeckt, habe ich nichts mehr uͤber mein Herz gebracht, als einige Wald-Erdbeeren; Siſſi, ſchaffe mir etwas zum ſchna¬ belieren, oder ich ſterbe aus Sehnſucht.“ — Da erwiederte Siſſi: „Herz Gackeleia! du haſt ja noch eine halbe Bretzel und einen halben Bubenſchenkel in deinem Koͤrbchen;“ aber ich entgegnete: „daß ſind Dokumente, und ich wollte eher ver¬ hungern, als Dokumente eſſen.“ „Wohlan,“ ſagte Siſſi, „ich will ſehen, was ich dir auftreiben kann,“ da pfiff ſie einige Mal, worauf eine Fledermaus zu ihr heranflog, welcher ſie den Auftrag gab: die reinſten Schulmauskinder ſollten au¬ genblicklich Beeren pfluͤcken und auf gruͤnen Blaͤttern mir zu Fuͤßen legen — eben ſo ſolle ſie den anweſenden Geſchaͤfts¬ traͤger der Haſelmaͤuſe, den wohlriechenden Chevalier Mus¬ cardin in ihrem Namen um eine Portion Haſelnuͤße bitten und dieſe hieher beſorgen, uͤberhaupt moͤge ſie Alles, was ſie
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0214"n="166"/><p>Als der Klingelbeutel in dem Dom herumgieng, hielt<lb/>
der edle Muskulus noch eine ruͤhrende Auslegung des tief¬<lb/>ſinnigen Wortes: „er iſt ſo arm wie eine Kirchenmaus,“<lb/>
welche den ganzen Klingelbeutel mit Waitzenkoͤrnern ſo reich¬<lb/>
lich fuͤllte, daß die Marquiſe Marmotte genug zu thun hatte,<lb/>
ihn herum zu ſchleppen, wenn gleich der duftende Herr Pi¬<lb/>
loris ihr dabei den Arm gab.</p><lb/><p>So erzaͤhlte mir Prinzeß Siſſi Alles, daß ich es eben<lb/>ſo gut wußte, als wenn ich in der Rede des edlen Musku¬<lb/>
lus geſchlafen haͤtte. — Ich dankte ihr herzlich dafuͤr und<lb/>ſagte ihr: „Liebſte Siſſi, ich bin gluͤcklich, daß ſich unſre<lb/>
Herzen gefunden haben und daß wir uns du nennen — ach<lb/>ſo kann ich auch alle meine Leiden in deinen ſchweſterlichen<lb/>
Buſen ausſchuͤtten; ach ich muß dir zu meiner großen Be¬<lb/>ſchaͤmung geſtehen, es iſt mir ſo ſehnſuͤchtig um's Herz,<lb/>
ich ſehne mich nach einem Gegenſtand, den ich freßlieb ha¬<lb/>
ben konnte, es iſt mir ſo leer, ſo leer, ich moͤchte Alles ver¬<lb/>ſchlingen; ich muͤßte mich ſehr irren, oder ich habe einen<lb/>
ganz abſcheulichen Hunger, denn ſeit ich das Birkenreis ge¬<lb/>ſchmeckt, habe ich nichts mehr uͤber mein Herz gebracht, als<lb/>
einige Wald-Erdbeeren; Siſſi, ſchaffe mir etwas zum ſchna¬<lb/>
belieren, oder ich ſterbe aus Sehnſucht.“— Da erwiederte<lb/>
Siſſi: „Herz Gackeleia! du haſt ja noch eine halbe Bretzel<lb/>
und einen halben Bubenſchenkel in deinem Koͤrbchen;“ aber<lb/>
ich entgegnete: „daß ſind Dokumente, und ich wollte eher ver¬<lb/>
hungern, als Dokumente eſſen.“„Wohlan,“ſagte Siſſi, „ich<lb/>
will ſehen, was ich dir auftreiben kann,“ da pfiff ſie einige<lb/>
Mal, worauf eine Fledermaus zu ihr heranflog, welcher ſie<lb/>
den Auftrag gab: die reinſten Schulmauskinder ſollten au¬<lb/>
genblicklich Beeren pfluͤcken und auf gruͤnen Blaͤttern mir<lb/>
zu Fuͤßen legen — eben ſo ſolle ſie den anweſenden Geſchaͤfts¬<lb/>
traͤger der Haſelmaͤuſe, den wohlriechenden Chevalier Mus¬<lb/>
cardin in ihrem Namen um eine Portion Haſelnuͤße bitten<lb/>
und dieſe hieher beſorgen, uͤberhaupt moͤge ſie Alles, was ſie<lb/></p></div></body></text></TEI>
[166/0214]
Als der Klingelbeutel in dem Dom herumgieng, hielt
der edle Muskulus noch eine ruͤhrende Auslegung des tief¬
ſinnigen Wortes: „er iſt ſo arm wie eine Kirchenmaus,“
welche den ganzen Klingelbeutel mit Waitzenkoͤrnern ſo reich¬
lich fuͤllte, daß die Marquiſe Marmotte genug zu thun hatte,
ihn herum zu ſchleppen, wenn gleich der duftende Herr Pi¬
loris ihr dabei den Arm gab.
So erzaͤhlte mir Prinzeß Siſſi Alles, daß ich es eben
ſo gut wußte, als wenn ich in der Rede des edlen Musku¬
lus geſchlafen haͤtte. — Ich dankte ihr herzlich dafuͤr und
ſagte ihr: „Liebſte Siſſi, ich bin gluͤcklich, daß ſich unſre
Herzen gefunden haben und daß wir uns du nennen — ach
ſo kann ich auch alle meine Leiden in deinen ſchweſterlichen
Buſen ausſchuͤtten; ach ich muß dir zu meiner großen Be¬
ſchaͤmung geſtehen, es iſt mir ſo ſehnſuͤchtig um's Herz,
ich ſehne mich nach einem Gegenſtand, den ich freßlieb ha¬
ben konnte, es iſt mir ſo leer, ſo leer, ich moͤchte Alles ver¬
ſchlingen; ich muͤßte mich ſehr irren, oder ich habe einen
ganz abſcheulichen Hunger, denn ſeit ich das Birkenreis ge¬
ſchmeckt, habe ich nichts mehr uͤber mein Herz gebracht, als
einige Wald-Erdbeeren; Siſſi, ſchaffe mir etwas zum ſchna¬
belieren, oder ich ſterbe aus Sehnſucht.“ — Da erwiederte
Siſſi: „Herz Gackeleia! du haſt ja noch eine halbe Bretzel
und einen halben Bubenſchenkel in deinem Koͤrbchen;“ aber
ich entgegnete: „daß ſind Dokumente, und ich wollte eher ver¬
hungern, als Dokumente eſſen.“ „Wohlan,“ ſagte Siſſi, „ich
will ſehen, was ich dir auftreiben kann,“ da pfiff ſie einige
Mal, worauf eine Fledermaus zu ihr heranflog, welcher ſie
den Auftrag gab: die reinſten Schulmauskinder ſollten au¬
genblicklich Beeren pfluͤcken und auf gruͤnen Blaͤttern mir
zu Fuͤßen legen — eben ſo ſolle ſie den anweſenden Geſchaͤfts¬
traͤger der Haſelmaͤuſe, den wohlriechenden Chevalier Mus¬
cardin in ihrem Namen um eine Portion Haſelnuͤße bitten
und dieſe hieher beſorgen, uͤberhaupt moͤge ſie Alles, was ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/214>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.