Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.chem ergötzliche Verwicklungen erwartet werden können. Allein hievon ist nicht die Rede: sobald ein Einfall vorgebracht ist, bleibt er auch liegen und ein anderer tritt an seine Stelle, der ihn ganz in der von Steffens bezeichneten Weise verdrängt; die Handlung zerrinnt in eine Reihe Geschichtchen, die eine Gesellschaft sich erzählt, eines toller als das andere und zum Theil durch einen plötzlichen Sprung wieder mit Einzelnen der Anwesenden verflochten; am Ende ein dritter Wehmüller, der die Frau des ersten ist, und hiemit eine Entwicklung, die man einem Purzelbaum vergleichen kann. Kurz, wer die Erzählung an ihrem Orte nachlesen will, wird sich überzeugen, daß wir redlich bestrebt sind, unsere Leser vor Schwindel zu wahren. Auch "Kasperl und Annerl" ist nicht ganz frei von Manier. Der Volkston zeigt mitunter etwas Gemachtes und wird gelegentlich von einer nicht sehr volksmäßigen Sprache unterbrochen. Das zuckende Richtschwert sodann und der abgehauene Kopf, der dem Kind in das Röckchen beißt, sind aus der Dämmerung, wohin sie gehören, zu sehr in das Licht des Tages gerückt: denn der Aberglaube kann nur dann poetisch wirken, wenn er durch dritte oder vierte Hand überliefert wird; hier aber ist es eine als glaubwürdig vorgeführte Person, die uns Selbsterlebtes erzählt und hiemit Glauben an die Thatsachen so wie an deren Folgen beansprucht. Allein trotz alledem schlägt die Erzählung auch wieder starke tiefe Volkstöne an und ist eine edle, wenngleich nicht ganz unversehrte Frucht jener besten Stunden, die Brentano und Arnim hatten, als sie der deutschen Volksdichtung nachgingen und die Nation mit des Knaben Wunderhorn beschenkten. chem ergötzliche Verwicklungen erwartet werden können. Allein hievon ist nicht die Rede: sobald ein Einfall vorgebracht ist, bleibt er auch liegen und ein anderer tritt an seine Stelle, der ihn ganz in der von Steffens bezeichneten Weise verdrängt; die Handlung zerrinnt in eine Reihe Geschichtchen, die eine Gesellschaft sich erzählt, eines toller als das andere und zum Theil durch einen plötzlichen Sprung wieder mit Einzelnen der Anwesenden verflochten; am Ende ein dritter Wehmüller, der die Frau des ersten ist, und hiemit eine Entwicklung, die man einem Purzelbaum vergleichen kann. Kurz, wer die Erzählung an ihrem Orte nachlesen will, wird sich überzeugen, daß wir redlich bestrebt sind, unsere Leser vor Schwindel zu wahren. Auch „Kasperl und Annerl“ ist nicht ganz frei von Manier. Der Volkston zeigt mitunter etwas Gemachtes und wird gelegentlich von einer nicht sehr volksmäßigen Sprache unterbrochen. Das zuckende Richtschwert sodann und der abgehauene Kopf, der dem Kind in das Röckchen beißt, sind aus der Dämmerung, wohin sie gehören, zu sehr in das Licht des Tages gerückt: denn der Aberglaube kann nur dann poetisch wirken, wenn er durch dritte oder vierte Hand überliefert wird; hier aber ist es eine als glaubwürdig vorgeführte Person, die uns Selbsterlebtes erzählt und hiemit Glauben an die Thatsachen so wie an deren Folgen beansprucht. Allein trotz alledem schlägt die Erzählung auch wieder starke tiefe Volkstöne an und ist eine edle, wenngleich nicht ganz unversehrte Frucht jener besten Stunden, die Brentano und Arnim hatten, als sie der deutschen Volksdichtung nachgingen und die Nation mit des Knaben Wunderhorn beschenkten. <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0008"/> chem ergötzliche Verwicklungen erwartet werden können. 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chem ergötzliche Verwicklungen erwartet werden können. Allein hievon ist nicht die Rede: sobald ein Einfall vorgebracht ist, bleibt er auch liegen und ein anderer tritt an seine Stelle, der ihn ganz in der von Steffens bezeichneten Weise verdrängt; die Handlung zerrinnt in eine Reihe Geschichtchen, die eine Gesellschaft sich erzählt, eines toller als das andere und zum Theil durch einen plötzlichen Sprung wieder mit Einzelnen der Anwesenden verflochten; am Ende ein dritter Wehmüller, der die Frau des ersten ist, und hiemit eine Entwicklung, die man einem Purzelbaum vergleichen kann.
Kurz, wer die Erzählung an ihrem Orte nachlesen will, wird sich überzeugen, daß wir redlich bestrebt sind, unsere Leser vor Schwindel zu wahren.
Auch „Kasperl und Annerl“ ist nicht ganz frei von Manier. Der Volkston zeigt mitunter etwas Gemachtes und wird gelegentlich von einer nicht sehr volksmäßigen Sprache unterbrochen. Das zuckende Richtschwert sodann und der abgehauene Kopf, der dem Kind in das Röckchen beißt, sind aus der Dämmerung, wohin sie gehören, zu sehr in das Licht des Tages gerückt: denn der Aberglaube kann nur dann poetisch wirken, wenn er durch dritte oder vierte Hand überliefert wird; hier aber ist es eine als glaubwürdig vorgeführte Person, die uns Selbsterlebtes erzählt und hiemit Glauben an die Thatsachen so wie an deren Folgen beansprucht. Allein trotz alledem schlägt die Erzählung auch wieder starke tiefe Volkstöne an und ist eine edle, wenngleich nicht ganz unversehrte Frucht jener besten Stunden, die Brentano und Arnim hatten, als sie der deutschen Volksdichtung nachgingen und die Nation mit des Knaben Wunderhorn beschenkten.
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Zitationshilfe: | Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/8>, abgerufen am 06.07.2024. |