Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Schloßhof. Gott sei Dank, der Fähndrich, Graf Grossinger, der unter den blühenden Kastanienbäumen vor der Wache auf und ab ging, trat mir schon entgegen. Lieber Graf, sagte ich mit Ungestüm, Sie müssen mich gleich zum Herzoge bringen, gleich auf der Stelle, oder Alles ist zu spät, Alles ist verloren! Er schien verlegen über diesen Antrag und sagte: Was fällt Ihnen ein, zu dieser ungewohnten Stunde? Es ist nicht möglich. Kommen Sie zur Parade, da will ich Sie vorstellen. Mir brannte der Boden unter den Füßen. Jetzt, rief ich aus, oder nie! Es muß sein! Es betrifft das Leben eines Menschen. Es kann jetzt nicht sein, erwiderte Grossinger scharf absprechend. Es betrifft meine Ehre; es ist mir untersagt, heute Nacht irgend eine Meldung zu thun. Das Wort Ehre machte mich verzweifeln. Ich dachte an Kasper's Ehre, an Annerl's Ehre, und sagte: Die vermaledeite Ehre! Gerade um die letzte Hülfe zu leisten, welche so eine Ehre übrig gelassen, muß ich zum Herzoge. Sie müssen mich melden, oder ich schreie laut nach dem Herzoge. So Sie sich rühren, sagte Grossinger heftig, lasse ich Sie in die Wache werfen. Sie sind ein Phantast, Sie kennen keine Verhältnisse. O ich kenne Verhältnisse, schreckliche Verhältnisse! Ich muß zum Herzoge, jede Minute ist unerkauflich! Schloßhof. Gott sei Dank, der Fähndrich, Graf Grossinger, der unter den blühenden Kastanienbäumen vor der Wache auf und ab ging, trat mir schon entgegen. Lieber Graf, sagte ich mit Ungestüm, Sie müssen mich gleich zum Herzoge bringen, gleich auf der Stelle, oder Alles ist zu spät, Alles ist verloren! Er schien verlegen über diesen Antrag und sagte: Was fällt Ihnen ein, zu dieser ungewohnten Stunde? Es ist nicht möglich. Kommen Sie zur Parade, da will ich Sie vorstellen. Mir brannte der Boden unter den Füßen. Jetzt, rief ich aus, oder nie! Es muß sein! Es betrifft das Leben eines Menschen. Es kann jetzt nicht sein, erwiderte Grossinger scharf absprechend. Es betrifft meine Ehre; es ist mir untersagt, heute Nacht irgend eine Meldung zu thun. Das Wort Ehre machte mich verzweifeln. Ich dachte an Kasper's Ehre, an Annerl's Ehre, und sagte: Die vermaledeite Ehre! Gerade um die letzte Hülfe zu leisten, welche so eine Ehre übrig gelassen, muß ich zum Herzoge. Sie müssen mich melden, oder ich schreie laut nach dem Herzoge. So Sie sich rühren, sagte Grossinger heftig, lasse ich Sie in die Wache werfen. Sie sind ein Phantast, Sie kennen keine Verhältnisse. O ich kenne Verhältnisse, schreckliche Verhältnisse! Ich muß zum Herzoge, jede Minute ist unerkauflich! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0049"/> Schloßhof. Gott sei Dank, der Fähndrich, Graf Grossinger, der unter den blühenden Kastanienbäumen vor der Wache auf und ab ging, trat mir schon entgegen.</p><lb/> <p>Lieber Graf, sagte ich mit Ungestüm, Sie müssen mich gleich zum Herzoge bringen, gleich auf der Stelle, oder Alles ist zu spät, Alles ist verloren!</p><lb/> <p>Er schien verlegen über diesen Antrag und sagte: Was fällt Ihnen ein, zu dieser ungewohnten Stunde? Es ist nicht möglich. Kommen Sie zur Parade, da will ich Sie vorstellen.</p><lb/> <p>Mir brannte der Boden unter den Füßen. Jetzt, rief ich aus, oder nie! Es muß sein! Es betrifft das Leben eines Menschen.</p><lb/> <p>Es kann jetzt nicht sein, erwiderte Grossinger scharf absprechend. Es betrifft meine Ehre; es ist mir untersagt, heute Nacht irgend eine Meldung zu thun.</p><lb/> <p>Das Wort Ehre machte mich verzweifeln. Ich dachte an Kasper's Ehre, an Annerl's Ehre, und sagte: Die vermaledeite Ehre! Gerade um die letzte Hülfe zu leisten, welche so eine Ehre übrig gelassen, muß ich zum Herzoge. Sie müssen mich melden, oder ich schreie laut nach dem Herzoge.</p><lb/> <p>So Sie sich rühren, sagte Grossinger heftig, lasse ich Sie in die Wache werfen. Sie sind ein Phantast, Sie kennen keine Verhältnisse.</p><lb/> <p>O ich kenne Verhältnisse, schreckliche Verhältnisse! Ich muß zum Herzoge, jede Minute ist unerkauflich!<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0049]
Schloßhof. Gott sei Dank, der Fähndrich, Graf Grossinger, der unter den blühenden Kastanienbäumen vor der Wache auf und ab ging, trat mir schon entgegen.
Lieber Graf, sagte ich mit Ungestüm, Sie müssen mich gleich zum Herzoge bringen, gleich auf der Stelle, oder Alles ist zu spät, Alles ist verloren!
Er schien verlegen über diesen Antrag und sagte: Was fällt Ihnen ein, zu dieser ungewohnten Stunde? Es ist nicht möglich. Kommen Sie zur Parade, da will ich Sie vorstellen.
Mir brannte der Boden unter den Füßen. Jetzt, rief ich aus, oder nie! Es muß sein! Es betrifft das Leben eines Menschen.
Es kann jetzt nicht sein, erwiderte Grossinger scharf absprechend. Es betrifft meine Ehre; es ist mir untersagt, heute Nacht irgend eine Meldung zu thun.
Das Wort Ehre machte mich verzweifeln. Ich dachte an Kasper's Ehre, an Annerl's Ehre, und sagte: Die vermaledeite Ehre! Gerade um die letzte Hülfe zu leisten, welche so eine Ehre übrig gelassen, muß ich zum Herzoge. Sie müssen mich melden, oder ich schreie laut nach dem Herzoge.
So Sie sich rühren, sagte Grossinger heftig, lasse ich Sie in die Wache werfen. Sie sind ein Phantast, Sie kennen keine Verhältnisse.
O ich kenne Verhältnisse, schreckliche Verhältnisse! Ich muß zum Herzoge, jede Minute ist unerkauflich!
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Zitationshilfe: | Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/49>, abgerufen am 28.07.2024. |