Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Die Rose ergriff sie mit einer rührenden Heftigkeit und befestigte sie sich auf ihrem Hut, indem sie mit einer etwas feineren Stimme und fast weinend die Worte sprach: "Rosen die Blumen auf meinem Hut, Hätt' ich viel Geld, das wäre gut, Rosen und mein Liebchen." Ich sagte zu ihr: Ei, Mütterchen, Ihr seid ja ganz munter geworden. Und sie erwiderte: "Munter, munter, Immer bunter, Immer runder, Oben stund er, Nun bergunter, 'S ist kein Wunder!" Schau Er, lieber Mensch, ist es nicht gut, daß ich hier sitzen geblieben? Es ist Alles einerlei, glaub' Er mir. Heute sind es siebzig Jahre, da saß ich hier vor der Thür, ich war eine flinke Magd und sang gern alle Lieder. Da sang ich auch das Lied vom jüngsten Gericht, wie heute, da die Runde vorbeiging, und da warf mir ein Grenadier im Vorübergehen eine Rose in den Schoß, -- die Blätter hab' ich noch in meiner Bibel liegen -- das war meine erste Bekanntschaft mit meinem seligen Mann. Am andern Morgen hatte ich die Rose vorgesteckt in der Kirche, und da fand er mich, und es ward bald richtig. Drum hat es mich gar sehr gefreut, daß mir heute wieder eine Rose ward. Es ist ein Die Rose ergriff sie mit einer rührenden Heftigkeit und befestigte sie sich auf ihrem Hut, indem sie mit einer etwas feineren Stimme und fast weinend die Worte sprach: „Rosen die Blumen auf meinem Hut, Hätt' ich viel Geld, das wäre gut, Rosen und mein Liebchen.“ Ich sagte zu ihr: Ei, Mütterchen, Ihr seid ja ganz munter geworden. Und sie erwiderte: „Munter, munter, Immer bunter, Immer runder, Oben stund er, Nun bergunter, 'S ist kein Wunder!“ Schau Er, lieber Mensch, ist es nicht gut, daß ich hier sitzen geblieben? Es ist Alles einerlei, glaub' Er mir. Heute sind es siebzig Jahre, da saß ich hier vor der Thür, ich war eine flinke Magd und sang gern alle Lieder. Da sang ich auch das Lied vom jüngsten Gericht, wie heute, da die Runde vorbeiging, und da warf mir ein Grenadier im Vorübergehen eine Rose in den Schoß, — die Blätter hab' ich noch in meiner Bibel liegen — das war meine erste Bekanntschaft mit meinem seligen Mann. Am andern Morgen hatte ich die Rose vorgesteckt in der Kirche, und da fand er mich, und es ward bald richtig. Drum hat es mich gar sehr gefreut, daß mir heute wieder eine Rose ward. Es ist ein <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0016"/> <p>Die Rose ergriff sie mit einer rührenden Heftigkeit und befestigte sie sich auf ihrem Hut, indem sie mit einer etwas feineren Stimme und fast weinend die Worte sprach:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Rosen die Blumen auf meinem Hut,</l><lb/> <l>Hätt' ich viel Geld, das wäre gut,</l><lb/> <l>Rosen und mein Liebchen.“</l><lb/> </lg> <p>Ich sagte zu ihr: Ei, Mütterchen, Ihr seid ja ganz munter geworden. Und sie erwiderte:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>„Munter, munter,</l><lb/> <l>Immer bunter,</l><lb/> <l>Immer runder,</l><lb/> <l>Oben stund er,</l><lb/> <l>Nun bergunter,</l><lb/> <l>'S ist kein Wunder!“</l><lb/> </lg> <p>Schau Er, lieber Mensch, ist es nicht gut, daß ich hier sitzen geblieben? Es ist Alles einerlei, glaub' Er mir. Heute sind es siebzig Jahre, da saß ich hier vor der Thür, ich war eine flinke Magd und sang gern alle Lieder. Da sang ich auch das Lied vom jüngsten Gericht, wie heute, da die Runde vorbeiging, und da warf mir ein Grenadier im Vorübergehen eine Rose in den Schoß, — die Blätter hab' ich noch in meiner Bibel liegen — das war meine erste Bekanntschaft mit meinem seligen Mann. Am andern Morgen hatte ich die Rose vorgesteckt in der Kirche, und da fand er mich, und es ward bald richtig. Drum hat es mich gar sehr gefreut, daß mir heute wieder eine Rose ward. Es ist ein<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0016]
Die Rose ergriff sie mit einer rührenden Heftigkeit und befestigte sie sich auf ihrem Hut, indem sie mit einer etwas feineren Stimme und fast weinend die Worte sprach:
„Rosen die Blumen auf meinem Hut,
Hätt' ich viel Geld, das wäre gut,
Rosen und mein Liebchen.“
Ich sagte zu ihr: Ei, Mütterchen, Ihr seid ja ganz munter geworden. Und sie erwiderte:
„Munter, munter,
Immer bunter,
Immer runder,
Oben stund er,
Nun bergunter,
'S ist kein Wunder!“
Schau Er, lieber Mensch, ist es nicht gut, daß ich hier sitzen geblieben? Es ist Alles einerlei, glaub' Er mir. Heute sind es siebzig Jahre, da saß ich hier vor der Thür, ich war eine flinke Magd und sang gern alle Lieder. Da sang ich auch das Lied vom jüngsten Gericht, wie heute, da die Runde vorbeiging, und da warf mir ein Grenadier im Vorübergehen eine Rose in den Schoß, — die Blätter hab' ich noch in meiner Bibel liegen — das war meine erste Bekanntschaft mit meinem seligen Mann. Am andern Morgen hatte ich die Rose vorgesteckt in der Kirche, und da fand er mich, und es ward bald richtig. Drum hat es mich gar sehr gefreut, daß mir heute wieder eine Rose ward. Es ist ein
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Zitationshilfe: | Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/16>, abgerufen am 16.07.2024. |