Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Was fehlt dieser alten Frau? fragte ich einen der Anwesenden. Da kamen Antworten von allen Seiten: Sie kommt sechs Meilen Weges vom Lande, sie kann nicht weiter, sie weiß nicht Bescheid in der Stadt, sie hat Befreundete am andern Ende der Stadt und kann nicht hinfinden. -- Ich wollte sie führen, sagte Einer, aber es ist ein weiter Weg, und ich habe meinen Hausschlüssel nicht bei mir. Auch würde sie das Haus nicht kennen, wo sie hin will. -- Aber hier kann die Frau nicht liegen bleiben, sagte ein Neuhinzugetretener. -- Sie will aber platterdings, antwortete der Erste, ich habe es ihr längst gesagt: ich wolle sie nach Haus bringen; doch sie redet ganz verwirrt, ja sie muß wohl betrunken sein. -- Ich glaube, sie ist blödsinnig. Aber hier kann sie doch in keinem Falle bleiben, wiederholte Jener, die Nacht ist kühl und lang. Während allem diesem Gerede war die Alte, gerade als ob sie taub und blind sei, ganz ungestört mit ihrer Zubereitung fertig geworden, und da der Letzte abermals sagte: Hier kann sie doch nicht bleiben, -- erwiderte sie mit einer wunderlich tiefen und ernsten Stimme: Warum soll ich nicht hier bleiben? Ist dies nicht ein herzogliches Haus? Ich bin acht und achtzig Jahre alt, und der Herzog wird mich gewiß nicht von seiner Schwelle treiben. Drei Söhne sind in seinem Dienste gestorben, und mein einziger Enkel hat seinen Abschied genommen; -- Gott verzeiht es ihm gewiß, und ich will nicht sterben, bis er in seinem ehrlichen Grabe liegt. Was fehlt dieser alten Frau? fragte ich einen der Anwesenden. Da kamen Antworten von allen Seiten: Sie kommt sechs Meilen Weges vom Lande, sie kann nicht weiter, sie weiß nicht Bescheid in der Stadt, sie hat Befreundete am andern Ende der Stadt und kann nicht hinfinden. — Ich wollte sie führen, sagte Einer, aber es ist ein weiter Weg, und ich habe meinen Hausschlüssel nicht bei mir. Auch würde sie das Haus nicht kennen, wo sie hin will. — Aber hier kann die Frau nicht liegen bleiben, sagte ein Neuhinzugetretener. — Sie will aber platterdings, antwortete der Erste, ich habe es ihr längst gesagt: ich wolle sie nach Haus bringen; doch sie redet ganz verwirrt, ja sie muß wohl betrunken sein. — Ich glaube, sie ist blödsinnig. Aber hier kann sie doch in keinem Falle bleiben, wiederholte Jener, die Nacht ist kühl und lang. Während allem diesem Gerede war die Alte, gerade als ob sie taub und blind sei, ganz ungestört mit ihrer Zubereitung fertig geworden, und da der Letzte abermals sagte: Hier kann sie doch nicht bleiben, — erwiderte sie mit einer wunderlich tiefen und ernsten Stimme: Warum soll ich nicht hier bleiben? Ist dies nicht ein herzogliches Haus? Ich bin acht und achtzig Jahre alt, und der Herzog wird mich gewiß nicht von seiner Schwelle treiben. Drei Söhne sind in seinem Dienste gestorben, und mein einziger Enkel hat seinen Abschied genommen; — Gott verzeiht es ihm gewiß, und ich will nicht sterben, bis er in seinem ehrlichen Grabe liegt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0010"/> <p>Was fehlt dieser alten Frau? fragte ich einen der Anwesenden. Da kamen Antworten von allen Seiten: Sie kommt sechs Meilen Weges vom Lande, sie kann nicht weiter, sie weiß nicht Bescheid in der Stadt, sie hat Befreundete am andern Ende der Stadt und kann nicht hinfinden. — Ich wollte sie führen, sagte Einer, aber es ist ein weiter Weg, und ich habe meinen Hausschlüssel nicht bei mir. Auch würde sie das Haus nicht kennen, wo sie hin will. — Aber hier kann die Frau nicht liegen bleiben, sagte ein Neuhinzugetretener. — Sie will aber platterdings, antwortete der Erste, ich habe es ihr längst gesagt: ich wolle sie nach Haus bringen; doch sie redet ganz verwirrt, ja sie muß wohl betrunken sein. — Ich glaube, sie ist blödsinnig. Aber hier kann sie doch in keinem Falle bleiben, wiederholte Jener, die Nacht ist kühl und lang.</p><lb/> <p>Während allem diesem Gerede war die Alte, gerade als ob sie taub und blind sei, ganz ungestört mit ihrer Zubereitung fertig geworden, und da der Letzte abermals sagte: Hier kann sie doch nicht bleiben, — erwiderte sie mit einer wunderlich tiefen und ernsten Stimme:</p><lb/> <p>Warum soll ich nicht hier bleiben? Ist dies nicht ein herzogliches Haus? Ich bin acht und achtzig Jahre alt, und der Herzog wird mich gewiß nicht von seiner Schwelle treiben. Drei Söhne sind in seinem Dienste gestorben, und mein einziger Enkel hat seinen Abschied genommen; — Gott verzeiht es ihm gewiß, und ich will nicht sterben, bis er in seinem ehrlichen Grabe liegt.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0010]
Was fehlt dieser alten Frau? fragte ich einen der Anwesenden. Da kamen Antworten von allen Seiten: Sie kommt sechs Meilen Weges vom Lande, sie kann nicht weiter, sie weiß nicht Bescheid in der Stadt, sie hat Befreundete am andern Ende der Stadt und kann nicht hinfinden. — Ich wollte sie führen, sagte Einer, aber es ist ein weiter Weg, und ich habe meinen Hausschlüssel nicht bei mir. Auch würde sie das Haus nicht kennen, wo sie hin will. — Aber hier kann die Frau nicht liegen bleiben, sagte ein Neuhinzugetretener. — Sie will aber platterdings, antwortete der Erste, ich habe es ihr längst gesagt: ich wolle sie nach Haus bringen; doch sie redet ganz verwirrt, ja sie muß wohl betrunken sein. — Ich glaube, sie ist blödsinnig. Aber hier kann sie doch in keinem Falle bleiben, wiederholte Jener, die Nacht ist kühl und lang.
Während allem diesem Gerede war die Alte, gerade als ob sie taub und blind sei, ganz ungestört mit ihrer Zubereitung fertig geworden, und da der Letzte abermals sagte: Hier kann sie doch nicht bleiben, — erwiderte sie mit einer wunderlich tiefen und ernsten Stimme:
Warum soll ich nicht hier bleiben? Ist dies nicht ein herzogliches Haus? Ich bin acht und achtzig Jahre alt, und der Herzog wird mich gewiß nicht von seiner Schwelle treiben. Drei Söhne sind in seinem Dienste gestorben, und mein einziger Enkel hat seinen Abschied genommen; — Gott verzeiht es ihm gewiß, und ich will nicht sterben, bis er in seinem ehrlichen Grabe liegt.
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Zitationshilfe: | Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/10>, abgerufen am 16.02.2025. |