Christi gereicht hatte. Von dieser Stunde an verfolgt ihn Tag und Nacht eine schreckliche Angst. Wohin er geht, immer scheint es ihm, als sehe er seinen Bruder in der Diakonenkleidung vor sich, wie er ihm einen Becher voll Blut darreicht mit den Worten: "Trinke, Bruder, trinke." Um Ruhe zu finden für sein angst- gequältes Herz, zieht er von einer großen Stadt zur andern, flieht von Konstantinopel nach Italien, aber Alles ist umsonst; die innere Richterstimme schweigt nirgends. - Theodorich, König der Ostgothen, hatte den edlen Symmachus schuldlos hinrichten lassen. Da begab er sich eines Tages, daß man ihm zur Abend- tafel einen Fischkopf von ungewöhnlicher Größe vorsetzte. Der König nimmt ihn wahr, wird bleich, springt mit einem Schrei des Entsetzens auf und ruft: "Ich sehe den Kopf des Symmachus, sehe seine funkelnden Augen, sehe die Zähne, die mich zerfleischen wollen; fort, fort von hier." Wie wahnsinnig stürzt der König aus dem Speisesaale, wirft sich, an allen Gliedern vor Angst zitternd, auf sein Bett und nach drei Tagen ist er, der mächtige und angesehene Gothenkönig, eine kalte Leiche.
Wir alle kennen die Geschichte des großen und sonst so tugendhaften Königs David. Sein Leben bietet den klarsten Beweis, daß auch die besten Menschen tief fallen können, wenn sie anfangen, unvorsichtig zu wan- deln, den Gefahren nicht mehr nach Kräften aus- zuweichen und insbesondere die Augen nicht mehr zu beherrschen. So ist David zu seinem schweren Falle gekommen, hat seine Seele befleckt mit einer zweifachen
Christi gereicht hatte. Von dieser Stunde an verfolgt ihn Tag und Nacht eine schreckliche Angst. Wohin er geht, immer scheint es ihm, als sehe er seinen Bruder in der Diakonenkleidung vor sich, wie er ihm einen Becher voll Blut darreicht mit den Worten: „Trinke, Bruder, trinke.“ Um Ruhe zu finden für sein angst- gequältes Herz, zieht er von einer großen Stadt zur andern, flieht von Konstantinopel nach Italien, aber Alles ist umsonst; die innere Richterstimme schweigt nirgends. – Theodorich, König der Ostgothen, hatte den edlen Symmachus schuldlos hinrichten lassen. Da begab er sich eines Tages, daß man ihm zur Abend- tafel einen Fischkopf von ungewöhnlicher Größe vorsetzte. Der König nimmt ihn wahr, wird bleich, springt mit einem Schrei des Entsetzens auf und ruft: „Ich sehe den Kopf des Symmachus, sehe seine funkelnden Augen, sehe die Zähne, die mich zerfleischen wollen; fort, fort von hier.“ Wie wahnsinnig stürzt der König aus dem Speisesaale, wirft sich, an allen Gliedern vor Angst zitternd, auf sein Bett und nach drei Tagen ist er, der mächtige und angesehene Gothenkönig, eine kalte Leiche.
Wir alle kennen die Geschichte des großen und sonst so tugendhaften Königs David. Sein Leben bietet den klarsten Beweis, daß auch die besten Menschen tief fallen können, wenn sie anfangen, unvorsichtig zu wan- deln, den Gefahren nicht mehr nach Kräften aus- zuweichen und insbesondere die Augen nicht mehr zu beherrschen. So ist David zu seinem schweren Falle gekommen, hat seine Seele befleckt mit einer zweifachen
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Christi gereicht hatte. Von dieser Stunde an verfolgt
ihn Tag und Nacht eine schreckliche Angst. Wohin er
geht, immer scheint es ihm, als sehe er seinen Bruder
in der Diakonenkleidung vor sich, wie er ihm einen
Becher voll Blut darreicht mit den Worten: „Trinke,
Bruder, trinke.“ Um Ruhe zu finden für sein angst-
gequältes Herz, zieht er von einer großen Stadt zur
andern, flieht von Konstantinopel nach Italien, aber
Alles ist umsonst; die innere Richterstimme schweigt
nirgends. – Theodorich, König der Ostgothen, hatte
den edlen Symmachus schuldlos hinrichten lassen. Da
begab er sich eines Tages, daß man ihm zur Abend-
tafel einen Fischkopf von ungewöhnlicher Größe vorsetzte.
Der König nimmt ihn wahr, wird bleich, springt mit
einem Schrei des Entsetzens auf und ruft: „Ich sehe
den Kopf des Symmachus, sehe seine funkelnden Augen,
sehe die Zähne, die mich zerfleischen wollen; fort, fort
von hier.“ Wie wahnsinnig stürzt der König aus dem
Speisesaale, wirft sich, an allen Gliedern vor Angst
zitternd, auf sein Bett und nach drei Tagen ist er, der
mächtige und angesehene Gothenkönig, eine kalte Leiche.
Wir alle kennen die Geschichte des großen und sonst
so tugendhaften Königs David. Sein Leben bietet den
klarsten Beweis, daß auch die besten Menschen tief
fallen können, wenn sie anfangen, unvorsichtig zu wan-
deln, den Gefahren nicht mehr nach Kräften aus-
zuweichen und insbesondere die Augen nicht mehr zu
beherrschen. So ist David zu seinem schweren Falle
gekommen, hat seine Seele befleckt mit einer zweifachen
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Bremscheid, Matthias von. Der christliche Mann in seinem Glauben und Leben. Mainz, 1901, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bremscheid_mann_1901/48>, abgerufen am 27.11.2024.
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