Wer hat es nicht gelesen, das köstliche Gedicht von Rückert: "Edelstein und Perle"? Wie die beiden ihres Daseins Grund und Entwicklung und ihre vielverschlungene Lebensreise sich erzählen! Die Thräne eines Engels fiel ins Meer, um aufgenommen in den Schooß der Muschel nach und nach zum Kleinod zu erhärten, während die treue Amme jene Räume durchmißt, "Wo tief in den krystallnen Grotten Roch ganze Lebensgattungen, versteckt, Der Forschungen und des Erforschers spotten." Wie schön ist die Dichtung, wie poetisch wahr und doch, was die Muschel angeht, kaum ein Zug der Natur entlehnt. Alles Phantasie, Symbol für menschliche Verhältnisse. Sogar so unbestimmt läßt der Dichter unsere Vorstellung von der treuen Amme der Perle, daß wir glauben müssen, ein Triton könne auf ihr blasen. Nun, diese poetische Unbestimmtheit ist der getreue Ausdruck der allgemeinen Unbekanntschaft des zoologischen Laien mit der Welt der Muschelthiere, welche, dem Auge fast vollständig entrückt, aufgesucht sein will und selbst gefunden den Meisten ein unhandliches verschlossenes Räthsel bleibt. Wohl Mancher hat aus dem Schlammgrunde eines seichten Gewässers Hunderte und Tausende von Muscheln in etwas schräger Stellung hervorragen sehen, ohne daß ihm klar geworden, ob sie ihm das Vordertheil oder das Hintertheil zukehren. Und eine geöffnete Auster bietet so gar keine Anknüpfungspunkte zur Orientirung über ihre Körpertheile, daß die meisten Esser sie ohne jeglichen anatomischen oder systematischen Gedanken verschlucken. Wer eine Muschelschale aufliest, kann sie, so lange er will, von allen Seiten betrachten, er wird höchstens errathen, an welcher Stelle ungefähr der Mund des Thieres gelegen. Dazu, daß uns die Muscheln im Allgemeinen so fremd und gleichgültig bleiben, trägt auch ihr ungemein phlegmatisches Temperament bei. Jhnen gegenüber sind die Schnecken die lebhaftesten Sanguiniker. Denn wenn es auch einzelne Muschelarten des Meeres giebt, welche durch schnelles Auf- und Zuklappen der Schalen ziemlich schnell schwimmen können, so sind dieß eben seltene und verborgene Ausnahmen. Die übrigen sind fast so bodenständig, wie die Pflanzen. Jhre Ernährungsweise treibt sie nicht auf Beutezüge und gegenseitiges Bekriegen; angegriffen wehren sie sich nicht anders, als durch das Verschließen ihres Gehäuses, und selbst die Zeit der Fort- pflanzung, welche so viele andere sonst träge Thiere dazu treibt, ihre Röhren und Schlupfwinkel zu verlassen, vermag nicht, die Muscheln aus ihrem Stillleben und ihrer leidenschaftslosen, duldenden Zurückgezogenheit aufzurütteln. Es würde daher, wie schon bei verschiedenen Thiergruppen, mit welchen wir uns früher beschäftigt, wenig Befriedigung gewähren, wollten wir uns auf die Biographie der Muschelthiere in ihrer ungemeinen Gleichförmigkeit beschränken. Ganz anders verhält es sich aber, wenn wir uns auf den höheren Standpunkt stellen, von dem aus wir in die Eigenthümlichkeiten des Baues selbst einzudringen und die niedrigeren und höheren Organisationen
Die Muſcheln.
Wer hat es nicht geleſen, das köſtliche Gedicht von Rückert: „Edelſtein und Perle“? Wie die beiden ihres Daſeins Grund und Entwicklung und ihre vielverſchlungene Lebensreiſe ſich erzählen! Die Thräne eines Engels fiel ins Meer, um aufgenommen in den Schooß der Muſchel nach und nach zum Kleinod zu erhärten, während die treue Amme jene Räume durchmißt, „Wo tief in den kryſtallnen Grotten Roch ganze Lebensgattungen, verſteckt, Der Forſchungen und des Erforſchers ſpotten.“ Wie ſchön iſt die Dichtung, wie poetiſch wahr und doch, was die Muſchel angeht, kaum ein Zug der Natur entlehnt. Alles Phantaſie, Symbol für menſchliche Verhältniſſe. Sogar ſo unbeſtimmt läßt der Dichter unſere Vorſtellung von der treuen Amme der Perle, daß wir glauben müſſen, ein Triton könne auf ihr blaſen. Nun, dieſe poetiſche Unbeſtimmtheit iſt der getreue Ausdruck der allgemeinen Unbekanntſchaft des zoologiſchen Laien mit der Welt der Muſchelthiere, welche, dem Auge faſt vollſtändig entrückt, aufgeſucht ſein will und ſelbſt gefunden den Meiſten ein unhandliches verſchloſſenes Räthſel bleibt. Wohl Mancher hat aus dem Schlammgrunde eines ſeichten Gewäſſers Hunderte und Tauſende von Muſcheln in etwas ſchräger Stellung hervorragen ſehen, ohne daß ihm klar geworden, ob ſie ihm das Vordertheil oder das Hintertheil zukehren. Und eine geöffnete Auſter bietet ſo gar keine Anknüpfungspunkte zur Orientirung über ihre Körpertheile, daß die meiſten Eſſer ſie ohne jeglichen anatomiſchen oder ſyſtematiſchen Gedanken verſchlucken. Wer eine Muſchelſchale auflieſt, kann ſie, ſo lange er will, von allen Seiten betrachten, er wird höchſtens errathen, an welcher Stelle ungefähr der Mund des Thieres gelegen. Dazu, daß uns die Muſcheln im Allgemeinen ſo fremd und gleichgültig bleiben, trägt auch ihr ungemein phlegmatiſches Temperament bei. Jhnen gegenüber ſind die Schnecken die lebhafteſten Sanguiniker. Denn wenn es auch einzelne Muſchelarten des Meeres giebt, welche durch ſchnelles Auf- und Zuklappen der Schalen ziemlich ſchnell ſchwimmen können, ſo ſind dieß eben ſeltene und verborgene Ausnahmen. Die übrigen ſind faſt ſo bodenſtändig, wie die Pflanzen. Jhre Ernährungsweiſe treibt ſie nicht auf Beutezüge und gegenſeitiges Bekriegen; angegriffen wehren ſie ſich nicht anders, als durch das Verſchließen ihres Gehäuſes, und ſelbſt die Zeit der Fort- pflanzung, welche ſo viele andere ſonſt träge Thiere dazu treibt, ihre Röhren und Schlupfwinkel zu verlaſſen, vermag nicht, die Muſcheln aus ihrem Stillleben und ihrer leidenſchaftsloſen, duldenden Zurückgezogenheit aufzurütteln. Es würde daher, wie ſchon bei verſchiedenen Thiergruppen, mit welchen wir uns früher beſchäftigt, wenig Befriedigung gewähren, wollten wir uns auf die Biographie der Muſchelthiere in ihrer ungemeinen Gleichförmigkeit beſchränken. Ganz anders verhält es ſich aber, wenn wir uns auf den höheren Standpunkt ſtellen, von dem aus wir in die Eigenthümlichkeiten des Baues ſelbſt einzudringen und die niedrigeren und höheren Organiſationen
<TEI><text><body><floatingText><body><pbfacs="#f0939"n="[891]"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Die Muſcheln.</hi></hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">W</hi>er hat es nicht geleſen, das köſtliche Gedicht von <hirendition="#g">Rückert:</hi>„Edelſtein und Perle“? Wie<lb/>
die beiden ihres Daſeins Grund und Entwicklung und ihre vielverſchlungene Lebensreiſe ſich<lb/>
erzählen! Die Thräne eines Engels fiel ins Meer, um aufgenommen in den Schooß der Muſchel<lb/>
nach und nach zum Kleinod zu erhärten, während die treue Amme jene Räume durchmißt,<lb/><cit><quote>„Wo tief in den kryſtallnen Grotten<lb/>
Roch ganze Lebensgattungen, verſteckt,<lb/>
Der Forſchungen und des Erforſchers ſpotten.“</quote></cit><lb/>
Wie ſchön iſt die Dichtung, wie poetiſch wahr und doch, was die Muſchel angeht, kaum ein Zug<lb/>
der Natur entlehnt. Alles Phantaſie, Symbol für menſchliche Verhältniſſe. Sogar ſo unbeſtimmt<lb/>
läßt der Dichter unſere Vorſtellung von der treuen Amme der Perle, daß wir glauben müſſen,<lb/>
ein Triton könne auf ihr blaſen. Nun, dieſe poetiſche Unbeſtimmtheit iſt der getreue Ausdruck<lb/>
der allgemeinen Unbekanntſchaft des zoologiſchen Laien mit der Welt der Muſchelthiere, welche,<lb/>
dem Auge faſt vollſtändig entrückt, aufgeſucht ſein will und ſelbſt gefunden den Meiſten ein<lb/>
unhandliches verſchloſſenes Räthſel bleibt. Wohl Mancher hat aus dem Schlammgrunde eines<lb/>ſeichten Gewäſſers Hunderte und Tauſende von Muſcheln in etwas ſchräger Stellung hervorragen<lb/>ſehen, ohne daß ihm klar geworden, ob ſie ihm das Vordertheil oder das Hintertheil zukehren.<lb/>
Und eine geöffnete Auſter bietet ſo gar keine Anknüpfungspunkte zur Orientirung über ihre<lb/>
Körpertheile, daß die meiſten Eſſer ſie ohne jeglichen anatomiſchen oder ſyſtematiſchen Gedanken<lb/>
verſchlucken. Wer eine Muſchelſchale auflieſt, kann ſie, ſo lange er will, von allen Seiten<lb/>
betrachten, er wird höchſtens errathen, an welcher Stelle ungefähr der Mund des Thieres gelegen.<lb/>
Dazu, daß uns die Muſcheln im Allgemeinen ſo fremd und gleichgültig bleiben, trägt auch ihr<lb/>
ungemein phlegmatiſches Temperament bei. Jhnen gegenüber ſind die Schnecken die lebhafteſten<lb/>
Sanguiniker. Denn wenn es auch einzelne Muſchelarten des Meeres giebt, welche durch ſchnelles<lb/>
Auf- und Zuklappen der Schalen ziemlich ſchnell ſchwimmen können, ſo ſind dieß eben ſeltene und<lb/>
verborgene Ausnahmen. Die übrigen ſind faſt ſo bodenſtändig, wie die Pflanzen. Jhre<lb/>
Ernährungsweiſe treibt ſie nicht auf Beutezüge und gegenſeitiges Bekriegen; angegriffen wehren<lb/>ſie ſich nicht anders, als durch das Verſchließen ihres Gehäuſes, und ſelbſt die Zeit der Fort-<lb/>
pflanzung, welche ſo viele andere ſonſt träge Thiere dazu treibt, ihre Röhren und Schlupfwinkel<lb/>
zu verlaſſen, vermag nicht, die Muſcheln aus ihrem Stillleben und ihrer leidenſchaftsloſen, duldenden<lb/>
Zurückgezogenheit aufzurütteln. Es würde daher, wie ſchon bei verſchiedenen Thiergruppen, mit<lb/>
welchen wir uns früher beſchäftigt, wenig Befriedigung gewähren, wollten wir uns auf die<lb/>
Biographie der Muſchelthiere in ihrer ungemeinen Gleichförmigkeit beſchränken. Ganz anders<lb/>
verhält es ſich aber, wenn wir uns auf den höheren Standpunkt ſtellen, von dem aus wir in die<lb/>
Eigenthümlichkeiten des Baues ſelbſt einzudringen und die niedrigeren und höheren Organiſationen<lb/></p></div></body></floatingText></body></text></TEI>
[[891]/0939]
Die Muſcheln.
Wer hat es nicht geleſen, das köſtliche Gedicht von Rückert: „Edelſtein und Perle“? Wie
die beiden ihres Daſeins Grund und Entwicklung und ihre vielverſchlungene Lebensreiſe ſich
erzählen! Die Thräne eines Engels fiel ins Meer, um aufgenommen in den Schooß der Muſchel
nach und nach zum Kleinod zu erhärten, während die treue Amme jene Räume durchmißt,
„Wo tief in den kryſtallnen Grotten
Roch ganze Lebensgattungen, verſteckt,
Der Forſchungen und des Erforſchers ſpotten.“
Wie ſchön iſt die Dichtung, wie poetiſch wahr und doch, was die Muſchel angeht, kaum ein Zug
der Natur entlehnt. Alles Phantaſie, Symbol für menſchliche Verhältniſſe. Sogar ſo unbeſtimmt
läßt der Dichter unſere Vorſtellung von der treuen Amme der Perle, daß wir glauben müſſen,
ein Triton könne auf ihr blaſen. Nun, dieſe poetiſche Unbeſtimmtheit iſt der getreue Ausdruck
der allgemeinen Unbekanntſchaft des zoologiſchen Laien mit der Welt der Muſchelthiere, welche,
dem Auge faſt vollſtändig entrückt, aufgeſucht ſein will und ſelbſt gefunden den Meiſten ein
unhandliches verſchloſſenes Räthſel bleibt. Wohl Mancher hat aus dem Schlammgrunde eines
ſeichten Gewäſſers Hunderte und Tauſende von Muſcheln in etwas ſchräger Stellung hervorragen
ſehen, ohne daß ihm klar geworden, ob ſie ihm das Vordertheil oder das Hintertheil zukehren.
Und eine geöffnete Auſter bietet ſo gar keine Anknüpfungspunkte zur Orientirung über ihre
Körpertheile, daß die meiſten Eſſer ſie ohne jeglichen anatomiſchen oder ſyſtematiſchen Gedanken
verſchlucken. Wer eine Muſchelſchale auflieſt, kann ſie, ſo lange er will, von allen Seiten
betrachten, er wird höchſtens errathen, an welcher Stelle ungefähr der Mund des Thieres gelegen.
Dazu, daß uns die Muſcheln im Allgemeinen ſo fremd und gleichgültig bleiben, trägt auch ihr
ungemein phlegmatiſches Temperament bei. Jhnen gegenüber ſind die Schnecken die lebhafteſten
Sanguiniker. Denn wenn es auch einzelne Muſchelarten des Meeres giebt, welche durch ſchnelles
Auf- und Zuklappen der Schalen ziemlich ſchnell ſchwimmen können, ſo ſind dieß eben ſeltene und
verborgene Ausnahmen. Die übrigen ſind faſt ſo bodenſtändig, wie die Pflanzen. Jhre
Ernährungsweiſe treibt ſie nicht auf Beutezüge und gegenſeitiges Bekriegen; angegriffen wehren
ſie ſich nicht anders, als durch das Verſchließen ihres Gehäuſes, und ſelbſt die Zeit der Fort-
pflanzung, welche ſo viele andere ſonſt träge Thiere dazu treibt, ihre Röhren und Schlupfwinkel
zu verlaſſen, vermag nicht, die Muſcheln aus ihrem Stillleben und ihrer leidenſchaftsloſen, duldenden
Zurückgezogenheit aufzurütteln. Es würde daher, wie ſchon bei verſchiedenen Thiergruppen, mit
welchen wir uns früher beſchäftigt, wenig Befriedigung gewähren, wollten wir uns auf die
Biographie der Muſchelthiere in ihrer ungemeinen Gleichförmigkeit beſchränken. Ganz anders
verhält es ſich aber, wenn wir uns auf den höheren Standpunkt ſtellen, von dem aus wir in die
Eigenthümlichkeiten des Baues ſelbſt einzudringen und die niedrigeren und höheren Organiſationen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. [891]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/939>, abgerufen am 19.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.