Das Bild der Langsamkeit und der langweiligen Bedächtigkeit steht vor uns, ein Thier, mehr Bauch als Kopf, mühsam auf platter Sohle kriechend, auf dem Rücken das unsymmetrische spiralige Gehäus schleppend, und darin einen Eingeweidesack. Wer zum Naturmysticismus neigt, kann auch mit dem greisen Carus "etwas Mystisches in den eignen langsamen Bewegungen der Schnecken" finden und Goethe citiren, der Mephistopheles auf dem Blocksberg sagen läßt:
Siehst du die Schnecke da? sie kommt herangekrochen, Mit ihrem tastenden Gesicht Hat sie mir schon was abgerochen; Wenn ich auch will, verlängn' ich mich hier nicht!
Uns darf aber die Schnecke zunächst gar nichts weiter sein, als der nichts weniger als geheimnißvolle, allgemein bekannte Repräsentant einer nur von den Jnsekten an Manchfaltig- keit und Zahl der Arten übertroffenen Thierklasse, welche innerhalb des großen Kreises der Weich- thiere durch bestimmte Merkmale sich auszeichnet. Daß die Schnecke ein Gesicht hat, ist richtig. Das Gesicht setzt einen Kopf voraus und wegen des Besitzes eines mehr oder minder deut- lich ausgeprägten Kopftheiles hat man die Schnecken auch wohl Kopfträger (Cephalophora) genannt. Sie stimmen darin, wie wir schon wissen, mit den Cephalopoden überein, deren Arme wiederum einen eigenartigen Charakter abgeben. Daß aber das Vorhandensein des Kopfes für unsere Schnecken etwas besonders wichtiges ist, geht aus der oberflächlichsten Vergleichung mit einem Muschelthiere hervor, an welchem man vergeblich nach Gesicht und Kopf suchen wird, und welche infolge davon auch eine weit niedrigere Stellung einnehmen und in ihren Lebensäußerungen bekunden. Auch der Schneckengang ist höchst charakteristisch. Er beruht auf der eigenthümlichen Sohle oder dem Fuße, einer länglichen Muskelscheibe, welche besonders auffallend bei den nackten Schnecken als Bauch erscheint, und welcher die Schnecken den nicht minder häufig gebrauchten Namen der Bauchfüßer (Gastropoda) verdanken. Obgleich die mit Hülfe dieses Organes aus- geführten Bewegungen im Allgemeinen sehr langsam sind, so findet doch innerhalb dieser Lang- samkeit eine Abstufung statt: je schmäler und länger der Fuß, desto geschwinder die Bewegung, und umgekehrt. Die den Fuß bildenden Muskeln verlaufen vorzugsweise der Länge nach. Man sieht, wenn man eine Schnecke an einem Glase kriechen läßt, "wie durch eine Reihe wellen- förmiger Erhebungen und Senkungen, die sich auf der Sohle vom Schwanze gegen den Kopf hin fortpflanzen und nach Swammerdams Ausdrucke den Wogen des Meeres gleichen, der Bauchfüßer in gleichmäßiger Weise sich vorwärts bewegt, indem er, wenn eine Landschnecke, seinen Pfad mit einem silberglänzenden Streifen von Schleim bezeichnet, den er ausschwitzt, um die rauhen Theile seines Weges sich weniger empfindlich zu machen. Wer hätte nicht schon die Landschnecke auf ihrer Wanderschaft beobachtet? Und die Wasserbewohner bewegen sich genau auf
Taschenberg und Schmidt, wirbellose Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 50
Die Schnecken.
Das Bild der Langſamkeit und der langweiligen Bedächtigkeit ſteht vor uns, ein Thier, mehr Bauch als Kopf, mühſam auf platter Sohle kriechend, auf dem Rücken das unſymmetriſche ſpiralige Gehäus ſchleppend, und darin einen Eingeweideſack. Wer zum Naturmyſticismus neigt, kann auch mit dem greiſen Carus „etwas Myſtiſches in den eignen langſamen Bewegungen der Schnecken“ finden und Goethe citiren, der Mephiſtopheles auf dem Blocksberg ſagen läßt:
Siehſt du die Schnecke da? ſie kommt herangekrochen, Mit ihrem taſtenden Geſicht Hat ſie mir ſchon was abgerochen; Wenn ich auch will, verlängn’ ich mich hier nicht!
Uns darf aber die Schnecke zunächſt gar nichts weiter ſein, als der nichts weniger als geheimnißvolle, allgemein bekannte Repräſentant einer nur von den Jnſekten an Manchfaltig- keit und Zahl der Arten übertroffenen Thierklaſſe, welche innerhalb des großen Kreiſes der Weich- thiere durch beſtimmte Merkmale ſich auszeichnet. Daß die Schnecke ein Geſicht hat, iſt richtig. Das Geſicht ſetzt einen Kopf voraus und wegen des Beſitzes eines mehr oder minder deut- lich ausgeprägten Kopftheiles hat man die Schnecken auch wohl Kopfträger (Cephalophora) genannt. Sie ſtimmen darin, wie wir ſchon wiſſen, mit den Cephalopoden überein, deren Arme wiederum einen eigenartigen Charakter abgeben. Daß aber das Vorhandenſein des Kopfes für unſere Schnecken etwas beſonders wichtiges iſt, geht aus der oberflächlichſten Vergleichung mit einem Muſchelthiere hervor, an welchem man vergeblich nach Geſicht und Kopf ſuchen wird, und welche infolge davon auch eine weit niedrigere Stellung einnehmen und in ihren Lebensäußerungen bekunden. Auch der Schneckengang iſt höchſt charakteriſtiſch. Er beruht auf der eigenthümlichen Sohle oder dem Fuße, einer länglichen Muskelſcheibe, welche beſonders auffallend bei den nackten Schnecken als Bauch erſcheint, und welcher die Schnecken den nicht minder häufig gebrauchten Namen der Bauchfüßer (Gastropoda) verdanken. Obgleich die mit Hülfe dieſes Organes aus- geführten Bewegungen im Allgemeinen ſehr langſam ſind, ſo findet doch innerhalb dieſer Lang- ſamkeit eine Abſtufung ſtatt: je ſchmäler und länger der Fuß, deſto geſchwinder die Bewegung, und umgekehrt. Die den Fuß bildenden Muskeln verlaufen vorzugsweiſe der Länge nach. Man ſieht, wenn man eine Schnecke an einem Glaſe kriechen läßt, „wie durch eine Reihe wellen- förmiger Erhebungen und Senkungen, die ſich auf der Sohle vom Schwanze gegen den Kopf hin fortpflanzen und nach Swammerdams Ausdrucke den Wogen des Meeres gleichen, der Bauchfüßer in gleichmäßiger Weiſe ſich vorwärts bewegt, indem er, wenn eine Landſchnecke, ſeinen Pfad mit einem ſilberglänzenden Streifen von Schleim bezeichnet, den er ausſchwitzt, um die rauhen Theile ſeines Weges ſich weniger empfindlich zu machen. Wer hätte nicht ſchon die Landſchnecke auf ihrer Wanderſchaft beobachtet? Und die Waſſerbewohner bewegen ſich genau auf
Taſchenberg und Schmidt, wirbelloſe Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 50
<TEI><text><body><floatingText><body><divn="1"><pbfacs="#f0831"n="[785]"/><divn="2"><head><hirendition="#fr"><hirendition="#g">Die Schnecken.</hi></hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>as Bild der Langſamkeit und der langweiligen Bedächtigkeit ſteht vor uns, ein Thier,<lb/>
mehr Bauch als Kopf, mühſam auf platter Sohle kriechend, auf dem Rücken das unſymmetriſche<lb/>ſpiralige Gehäus ſchleppend, und darin einen Eingeweideſack. Wer zum Naturmyſticismus neigt,<lb/>
kann auch mit dem greiſen <hirendition="#g">Carus</hi>„etwas Myſtiſches in den eignen langſamen Bewegungen der<lb/>
Schnecken“ finden und <hirendition="#g">Goethe</hi> citiren, der Mephiſtopheles auf dem Blocksberg ſagen läßt:</p><lb/><lgtype="poem"><l>Siehſt du die Schnecke da? ſie kommt herangekrochen,</l><lb/><l>Mit ihrem taſtenden Geſicht</l><lb/><l>Hat ſie mir ſchon was abgerochen;</l><lb/><l>Wenn ich auch will, verlängn’ ich mich hier nicht!</l></lg><lb/><p>Uns darf aber die Schnecke zunächſt gar nichts weiter ſein, als der nichts weniger als<lb/>
geheimnißvolle, allgemein bekannte Repräſentant einer nur von den Jnſekten an Manchfaltig-<lb/>
keit und Zahl der Arten übertroffenen Thierklaſſe, welche innerhalb des großen Kreiſes der Weich-<lb/>
thiere durch beſtimmte Merkmale ſich auszeichnet. Daß die Schnecke ein Geſicht hat, iſt richtig.<lb/>
Das Geſicht ſetzt einen Kopf voraus und wegen des Beſitzes eines mehr oder minder deut-<lb/>
lich ausgeprägten Kopftheiles hat man die Schnecken auch wohl <hirendition="#g">Kopfträger</hi> (<hirendition="#aq">Cephalophora</hi>)<lb/>
genannt. Sie ſtimmen darin, wie wir ſchon wiſſen, mit den Cephalopoden überein, deren Arme<lb/>
wiederum einen eigenartigen Charakter abgeben. Daß aber das Vorhandenſein des Kopfes für<lb/>
unſere Schnecken etwas beſonders wichtiges iſt, geht aus der oberflächlichſten Vergleichung mit<lb/>
einem Muſchelthiere hervor, an welchem man vergeblich nach Geſicht und Kopf ſuchen wird, und<lb/>
welche infolge davon auch eine weit niedrigere Stellung einnehmen und in ihren Lebensäußerungen<lb/>
bekunden. Auch der Schneckengang iſt höchſt charakteriſtiſch. Er beruht auf der eigenthümlichen<lb/>
Sohle oder dem <hirendition="#g">Fuße,</hi> einer länglichen Muskelſcheibe, welche beſonders auffallend bei den nackten<lb/>
Schnecken als Bauch erſcheint, und welcher die Schnecken den nicht minder häufig gebrauchten<lb/>
Namen der <hirendition="#g">Bauchfüßer</hi> (<hirendition="#aq">Gastropoda</hi>) verdanken. Obgleich die mit Hülfe dieſes Organes aus-<lb/>
geführten Bewegungen im Allgemeinen ſehr langſam ſind, ſo findet doch innerhalb dieſer Lang-<lb/>ſamkeit eine Abſtufung ſtatt: je ſchmäler und länger der Fuß, deſto geſchwinder die Bewegung,<lb/>
und umgekehrt. Die den Fuß bildenden Muskeln verlaufen vorzugsweiſe der Länge nach. Man<lb/>ſieht, wenn man eine Schnecke an einem Glaſe kriechen läßt, „wie durch eine Reihe wellen-<lb/>
förmiger Erhebungen und Senkungen, die ſich auf der Sohle vom Schwanze gegen den Kopf<lb/>
hin fortpflanzen und nach <hirendition="#g">Swammerdams</hi> Ausdrucke den Wogen des Meeres gleichen, der<lb/>
Bauchfüßer in gleichmäßiger Weiſe ſich vorwärts bewegt, indem er, wenn eine Landſchnecke, ſeinen<lb/>
Pfad mit einem ſilberglänzenden Streifen von Schleim bezeichnet, den er ausſchwitzt, um die<lb/>
rauhen Theile ſeines Weges ſich weniger empfindlich zu machen. Wer hätte nicht ſchon die<lb/>
Landſchnecke auf ihrer Wanderſchaft beobachtet? Und die Waſſerbewohner bewegen ſich genau auf<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Taſchenberg</hi> und <hirendition="#g">Schmidt,</hi> wirbelloſe Thiere. (<hirendition="#g">Brehm,</hi> Thierleben. <hirendition="#aq">VI.</hi>) 50</fw><lb/></p></div></div></body></floatingText></body></text></TEI>
[[785]/0831]
Die Schnecken.
Das Bild der Langſamkeit und der langweiligen Bedächtigkeit ſteht vor uns, ein Thier,
mehr Bauch als Kopf, mühſam auf platter Sohle kriechend, auf dem Rücken das unſymmetriſche
ſpiralige Gehäus ſchleppend, und darin einen Eingeweideſack. Wer zum Naturmyſticismus neigt,
kann auch mit dem greiſen Carus „etwas Myſtiſches in den eignen langſamen Bewegungen der
Schnecken“ finden und Goethe citiren, der Mephiſtopheles auf dem Blocksberg ſagen läßt:
Siehſt du die Schnecke da? ſie kommt herangekrochen,
Mit ihrem taſtenden Geſicht
Hat ſie mir ſchon was abgerochen;
Wenn ich auch will, verlängn’ ich mich hier nicht!
Uns darf aber die Schnecke zunächſt gar nichts weiter ſein, als der nichts weniger als
geheimnißvolle, allgemein bekannte Repräſentant einer nur von den Jnſekten an Manchfaltig-
keit und Zahl der Arten übertroffenen Thierklaſſe, welche innerhalb des großen Kreiſes der Weich-
thiere durch beſtimmte Merkmale ſich auszeichnet. Daß die Schnecke ein Geſicht hat, iſt richtig.
Das Geſicht ſetzt einen Kopf voraus und wegen des Beſitzes eines mehr oder minder deut-
lich ausgeprägten Kopftheiles hat man die Schnecken auch wohl Kopfträger (Cephalophora)
genannt. Sie ſtimmen darin, wie wir ſchon wiſſen, mit den Cephalopoden überein, deren Arme
wiederum einen eigenartigen Charakter abgeben. Daß aber das Vorhandenſein des Kopfes für
unſere Schnecken etwas beſonders wichtiges iſt, geht aus der oberflächlichſten Vergleichung mit
einem Muſchelthiere hervor, an welchem man vergeblich nach Geſicht und Kopf ſuchen wird, und
welche infolge davon auch eine weit niedrigere Stellung einnehmen und in ihren Lebensäußerungen
bekunden. Auch der Schneckengang iſt höchſt charakteriſtiſch. Er beruht auf der eigenthümlichen
Sohle oder dem Fuße, einer länglichen Muskelſcheibe, welche beſonders auffallend bei den nackten
Schnecken als Bauch erſcheint, und welcher die Schnecken den nicht minder häufig gebrauchten
Namen der Bauchfüßer (Gastropoda) verdanken. Obgleich die mit Hülfe dieſes Organes aus-
geführten Bewegungen im Allgemeinen ſehr langſam ſind, ſo findet doch innerhalb dieſer Lang-
ſamkeit eine Abſtufung ſtatt: je ſchmäler und länger der Fuß, deſto geſchwinder die Bewegung,
und umgekehrt. Die den Fuß bildenden Muskeln verlaufen vorzugsweiſe der Länge nach. Man
ſieht, wenn man eine Schnecke an einem Glaſe kriechen läßt, „wie durch eine Reihe wellen-
förmiger Erhebungen und Senkungen, die ſich auf der Sohle vom Schwanze gegen den Kopf
hin fortpflanzen und nach Swammerdams Ausdrucke den Wogen des Meeres gleichen, der
Bauchfüßer in gleichmäßiger Weiſe ſich vorwärts bewegt, indem er, wenn eine Landſchnecke, ſeinen
Pfad mit einem ſilberglänzenden Streifen von Schleim bezeichnet, den er ausſchwitzt, um die
rauhen Theile ſeines Weges ſich weniger empfindlich zu machen. Wer hätte nicht ſchon die
Landſchnecke auf ihrer Wanderſchaft beobachtet? Und die Waſſerbewohner bewegen ſich genau auf
Taſchenberg und Schmidt, wirbelloſe Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 50
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. [785]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/831>, abgerufen am 20.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.