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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Das Jnsekt als Larve.
daher die unerhörte Gefräßigkeit jener. Jn 24 Stunden kann eine Schmetterlingsraupe mehr
als das Doppelte ihres eigenen Gewichtes an Pflanzennahrung zu sich nehmen und dadurch
ein Zehntel ihrem früheren Gewichte hinzufügen, welches sich in dreißig Tagen auf das 9500fache
steigert, wenn man es mit dem vergleicht, was sie hatte, als sie dem Eie entschlüpfte. Welche
Verheerungen die von Pflanzenstoffen lebenden Larven in unseren Gärten und Wäldern, auf
Feldern und Wiesen anrichten können, wissen diejenigen am besten zu beurtheilen, welche den
Schaden zu tragen hatten.

Die Larven der Jnsekten mit vollkommener Metamorphose haben entweder Beine und pflegen
bei den Schmetterlingen Raupen, bei den Blattwespen Afterraupen genannt zu werden, oder
sie haben keine und heißen dann Maden. Die Mehrzahl ist mit einem hornigen Kopfe und
beißenden Mundtheilen ausgerüstet, an anderen, besonders den Maden, findet sich kein solcher und
die Nahrung kann nur aufgesogen werden. Die Einen leben frei auf Pflanzen und zeichnen sich
durch ihre bunten Farben und oft wunderbaren Gestalten vor ihren Kameraden aus, oder unter
Steinen, anderen Verstecken, die sie zu gewissen Zeiten, z. B. nur bei Nacht verlassen, die Anderen
kommen nie zum Vorschein, indem sie ihr Leben unter der Erde verbringen oder in thierischen
Körpern, oder bohrend und minirend in den verschiedensten Pflanzentheilen. Die lichtscheuen
stimmen in der Regel durch schmuzigweiße Färbung mit einander überein. Beinahe alle besitzen
eine Fähigkeit, welche dem vollkommenen Jnsekt mit sehr wenigen Ausnahmen wieder verloren
geht, sie können spinnen. Jn der Unterlippe oder sonst wo am Munde münden Drüsen, welche
eine klebrige Flüssigkeit absondern, die an der Luft erhärtet und die Fäden liefert, an denen sich
manche in der Gefahr herablaffen, von denen viele ein Cocon fertigen, in welchem sie zur Puppe
werden und welches wir von einzelnen uns zu Nutze machen, wenn wir uns in Seide kleiden wollen.

Wenn demnach die Larve als das in der Entwickelung begriffene, noch unreife Jnsekt
bezeichnet werden muß und durch sie eine Vermehrung der Art, eine Fortpflanzung unmöglich
erscheint, weil dieses Vermögen gesetzmäßig das Kennzeichen der körperlichen Reise ist, so haben
höchst interessante Entdeckungen, welche der jüngsten Zeit angehören, gelehrt, daß die Natur ihre
Wege geht und sich nicht immer an die Gesetze bindet, die der menschliche Scharfsinn aus ihr
herauszulesen vermeint, sie haben gezeigt, daß keine Regel, mag sie auch Jahrhunderte hindurch
gegolten haben, ohne Ausnahme sei. Nic. Wagner in Kasan fand im August (1861) unter
der Rinde einer abgestorbenen Rüster weißliche, vollwüchsig 4--51/2 Millimeter lange Larven, die
nach der sorgfältigen Darstellung des äußeren und inneren Baues in Wort und Bild keinen
Zweifel darüber lassen, daß sie einer Gallmücke (Cecidomyia) angehörten. Weiter fand der
genannte Forscher im Jnneren dieser Thierchen kleinere, lebende Larven in verschiedenen Stadien
ihrer Entwickelung. Der Gedanke lag nahe, daß diese einem Schmarotzerinsekt angehören möchten,
das hier auf Kosten der Fliegenlarven sein Dasein friste und seine naturgemäße Entwickelung
durchmache. Die merkwürdige Uebereinstimmung der kleinen Larven mit den großen und noch mehr
der Umstand, daß sich in den kleineren später von selbst wieder in ganz gleicher Weise junge
Larven bildeten, ließen die nahe liegende erste Ansicht als Jrrthum erkennen und lieferten den
Beweis, daß die bewohnten und sie bewohnenden Larven ein und derselben Art angehören müssen.
Die Ansicht Wagner's über die Art der ersten Entstehung und allmäligen Entwickelung der
jungen Larven wollen wir hier unerörtert lassen. Seine Entdeckung machte überall ungemeines
Aufsehen und veranlaßte die Forscher, diese gänzlich neue Erscheinung weiter zu verfolgen. So
gelang es Fr. Meinert, im Juni unter der Rinde eines Buchenstumpfes vivipare Fliegenmaden
zu finden und auch später das vollkommene Jnsekt daraus zu erziehen, welches er Miastor me-
traloas
nennt, und Herrn Pagenstecher gleichfalls, solche Maden zu untersuchen, welche sich in
halbverdorbenen Preßrückständen einer Zuckerfabrik gefunden hatten. Sie sind von den zuerst

Taschenberg, wirbellose Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 2

Das Jnſekt als Larve.
daher die unerhörte Gefräßigkeit jener. Jn 24 Stunden kann eine Schmetterlingsraupe mehr
als das Doppelte ihres eigenen Gewichtes an Pflanzennahrung zu ſich nehmen und dadurch
ein Zehntel ihrem früheren Gewichte hinzufügen, welches ſich in dreißig Tagen auf das 9500fache
ſteigert, wenn man es mit dem vergleicht, was ſie hatte, als ſie dem Eie entſchlüpfte. Welche
Verheerungen die von Pflanzenſtoffen lebenden Larven in unſeren Gärten und Wäldern, auf
Feldern und Wieſen anrichten können, wiſſen diejenigen am beſten zu beurtheilen, welche den
Schaden zu tragen hatten.

Die Larven der Jnſekten mit vollkommener Metamorphoſe haben entweder Beine und pflegen
bei den Schmetterlingen Raupen, bei den Blattwespen Afterraupen genannt zu werden, oder
ſie haben keine und heißen dann Maden. Die Mehrzahl iſt mit einem hornigen Kopfe und
beißenden Mundtheilen ausgerüſtet, an anderen, beſonders den Maden, findet ſich kein ſolcher und
die Nahrung kann nur aufgeſogen werden. Die Einen leben frei auf Pflanzen und zeichnen ſich
durch ihre bunten Farben und oft wunderbaren Geſtalten vor ihren Kameraden aus, oder unter
Steinen, anderen Verſtecken, die ſie zu gewiſſen Zeiten, z. B. nur bei Nacht verlaſſen, die Anderen
kommen nie zum Vorſchein, indem ſie ihr Leben unter der Erde verbringen oder in thieriſchen
Körpern, oder bohrend und minirend in den verſchiedenſten Pflanzentheilen. Die lichtſcheuen
ſtimmen in der Regel durch ſchmuzigweiße Färbung mit einander überein. Beinahe alle beſitzen
eine Fähigkeit, welche dem vollkommenen Jnſekt mit ſehr wenigen Ausnahmen wieder verloren
geht, ſie können ſpinnen. Jn der Unterlippe oder ſonſt wo am Munde münden Drüſen, welche
eine klebrige Flüſſigkeit abſondern, die an der Luft erhärtet und die Fäden liefert, an denen ſich
manche in der Gefahr herablaffen, von denen viele ein Cocon fertigen, in welchem ſie zur Puppe
werden und welches wir von einzelnen uns zu Nutze machen, wenn wir uns in Seide kleiden wollen.

Wenn demnach die Larve als das in der Entwickelung begriffene, noch unreife Jnſekt
bezeichnet werden muß und durch ſie eine Vermehrung der Art, eine Fortpflanzung unmöglich
erſcheint, weil dieſes Vermögen geſetzmäßig das Kennzeichen der körperlichen Reiſe iſt, ſo haben
höchſt intereſſante Entdeckungen, welche der jüngſten Zeit angehören, gelehrt, daß die Natur ihre
Wege geht und ſich nicht immer an die Geſetze bindet, die der menſchliche Scharfſinn aus ihr
herauszuleſen vermeint, ſie haben gezeigt, daß keine Regel, mag ſie auch Jahrhunderte hindurch
gegolten haben, ohne Ausnahme ſei. Nic. Wagner in Kaſan fand im Auguſt (1861) unter
der Rinde einer abgeſtorbenen Rüſter weißliche, vollwüchſig 4—5½ Millimeter lange Larven, die
nach der ſorgfältigen Darſtellung des äußeren und inneren Baues in Wort und Bild keinen
Zweifel darüber laſſen, daß ſie einer Gallmücke (Cecidomyia) angehörten. Weiter fand der
genannte Forſcher im Jnneren dieſer Thierchen kleinere, lebende Larven in verſchiedenen Stadien
ihrer Entwickelung. Der Gedanke lag nahe, daß dieſe einem Schmarotzerinſekt angehören möchten,
das hier auf Koſten der Fliegenlarven ſein Daſein friſte und ſeine naturgemäße Entwickelung
durchmache. Die merkwürdige Uebereinſtimmung der kleinen Larven mit den großen und noch mehr
der Umſtand, daß ſich in den kleineren ſpäter von ſelbſt wieder in ganz gleicher Weiſe junge
Larven bildeten, ließen die nahe liegende erſte Anſicht als Jrrthum erkennen und lieferten den
Beweis, daß die bewohnten und ſie bewohnenden Larven ein und derſelben Art angehören müſſen.
Die Anſicht Wagner’s über die Art der erſten Entſtehung und allmäligen Entwickelung der
jungen Larven wollen wir hier unerörtert laſſen. Seine Entdeckung machte überall ungemeines
Aufſehen und veranlaßte die Forſcher, dieſe gänzlich neue Erſcheinung weiter zu verfolgen. So
gelang es Fr. Meinert, im Juni unter der Rinde eines Buchenſtumpfes vivipare Fliegenmaden
zu finden und auch ſpäter das vollkommene Jnſekt daraus zu erziehen, welches er Miastor me-
traloas
nennt, und Herrn Pagenſtecher gleichfalls, ſolche Maden zu unterſuchen, welche ſich in
halbverdorbenen Preßrückſtänden einer Zuckerfabrik gefunden hatten. Sie ſind von den zuerſt

Taſchenberg, wirbelloſe Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 2
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[17/0029] Das Jnſekt als Larve. daher die unerhörte Gefräßigkeit jener. Jn 24 Stunden kann eine Schmetterlingsraupe mehr als das Doppelte ihres eigenen Gewichtes an Pflanzennahrung zu ſich nehmen und dadurch ein Zehntel ihrem früheren Gewichte hinzufügen, welches ſich in dreißig Tagen auf das 9500fache ſteigert, wenn man es mit dem vergleicht, was ſie hatte, als ſie dem Eie entſchlüpfte. Welche Verheerungen die von Pflanzenſtoffen lebenden Larven in unſeren Gärten und Wäldern, auf Feldern und Wieſen anrichten können, wiſſen diejenigen am beſten zu beurtheilen, welche den Schaden zu tragen hatten. Die Larven der Jnſekten mit vollkommener Metamorphoſe haben entweder Beine und pflegen bei den Schmetterlingen Raupen, bei den Blattwespen Afterraupen genannt zu werden, oder ſie haben keine und heißen dann Maden. Die Mehrzahl iſt mit einem hornigen Kopfe und beißenden Mundtheilen ausgerüſtet, an anderen, beſonders den Maden, findet ſich kein ſolcher und die Nahrung kann nur aufgeſogen werden. Die Einen leben frei auf Pflanzen und zeichnen ſich durch ihre bunten Farben und oft wunderbaren Geſtalten vor ihren Kameraden aus, oder unter Steinen, anderen Verſtecken, die ſie zu gewiſſen Zeiten, z. B. nur bei Nacht verlaſſen, die Anderen kommen nie zum Vorſchein, indem ſie ihr Leben unter der Erde verbringen oder in thieriſchen Körpern, oder bohrend und minirend in den verſchiedenſten Pflanzentheilen. Die lichtſcheuen ſtimmen in der Regel durch ſchmuzigweiße Färbung mit einander überein. Beinahe alle beſitzen eine Fähigkeit, welche dem vollkommenen Jnſekt mit ſehr wenigen Ausnahmen wieder verloren geht, ſie können ſpinnen. Jn der Unterlippe oder ſonſt wo am Munde münden Drüſen, welche eine klebrige Flüſſigkeit abſondern, die an der Luft erhärtet und die Fäden liefert, an denen ſich manche in der Gefahr herablaffen, von denen viele ein Cocon fertigen, in welchem ſie zur Puppe werden und welches wir von einzelnen uns zu Nutze machen, wenn wir uns in Seide kleiden wollen. Wenn demnach die Larve als das in der Entwickelung begriffene, noch unreife Jnſekt bezeichnet werden muß und durch ſie eine Vermehrung der Art, eine Fortpflanzung unmöglich erſcheint, weil dieſes Vermögen geſetzmäßig das Kennzeichen der körperlichen Reiſe iſt, ſo haben höchſt intereſſante Entdeckungen, welche der jüngſten Zeit angehören, gelehrt, daß die Natur ihre Wege geht und ſich nicht immer an die Geſetze bindet, die der menſchliche Scharfſinn aus ihr herauszuleſen vermeint, ſie haben gezeigt, daß keine Regel, mag ſie auch Jahrhunderte hindurch gegolten haben, ohne Ausnahme ſei. Nic. Wagner in Kaſan fand im Auguſt (1861) unter der Rinde einer abgeſtorbenen Rüſter weißliche, vollwüchſig 4—5½ Millimeter lange Larven, die nach der ſorgfältigen Darſtellung des äußeren und inneren Baues in Wort und Bild keinen Zweifel darüber laſſen, daß ſie einer Gallmücke (Cecidomyia) angehörten. Weiter fand der genannte Forſcher im Jnneren dieſer Thierchen kleinere, lebende Larven in verſchiedenen Stadien ihrer Entwickelung. Der Gedanke lag nahe, daß dieſe einem Schmarotzerinſekt angehören möchten, das hier auf Koſten der Fliegenlarven ſein Daſein friſte und ſeine naturgemäße Entwickelung durchmache. Die merkwürdige Uebereinſtimmung der kleinen Larven mit den großen und noch mehr der Umſtand, daß ſich in den kleineren ſpäter von ſelbſt wieder in ganz gleicher Weiſe junge Larven bildeten, ließen die nahe liegende erſte Anſicht als Jrrthum erkennen und lieferten den Beweis, daß die bewohnten und ſie bewohnenden Larven ein und derſelben Art angehören müſſen. Die Anſicht Wagner’s über die Art der erſten Entſtehung und allmäligen Entwickelung der jungen Larven wollen wir hier unerörtert laſſen. Seine Entdeckung machte überall ungemeines Aufſehen und veranlaßte die Forſcher, dieſe gänzlich neue Erſcheinung weiter zu verfolgen. So gelang es Fr. Meinert, im Juni unter der Rinde eines Buchenſtumpfes vivipare Fliegenmaden zu finden und auch ſpäter das vollkommene Jnſekt daraus zu erziehen, welches er Miastor me- traloas nennt, und Herrn Pagenſtecher gleichfalls, ſolche Maden zu unterſuchen, welche ſich in halbverdorbenen Preßrückſtänden einer Zuckerfabrik gefunden hatten. Sie ſind von den zuerſt Taſchenberg, wirbelloſe Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 2

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/29>, abgerufen am 23.11.2024.