Wenn wir früher einmal, als wir den Kreis der Würmer zu bestimmen suchten, auf offen- bare Schwachheiten älterer, sich großen Ansehens erfreuender Systeme hinwiesen, so können wir schon selbst den von den meisten heutigen Zoologen angenommenen Kreis der Urthiere die ver- wundbare Stelle unseres Systemes nennen. Der Name besagt Viel und Nichts. Das Eine, indem er uns die Einsicht in die Anfänge der Lebewelt, in jene niedrigsten Reihen verspricht, die eben aus dem Gestaltungslosen sich zu den einfachsten Formen herausarbeiten; das Andere, indem er unsere Vorstellungen über den eigentlichen Jnhalt der großen Abtheilung vollkommen im Unklaren läßt. Die Worte "Würmer", "Weichthiere", "Wirbelthiere" u. s. f. knüpfen an uns täglich vor Augen kommende Geschöpfe von einem, Jedermann verständlichen Gepräge an. Unter einem Urthier kann ich mir aber ohne ganz bestimmte Ableitung gar nichts denken, und habe ich auch einige gesehen, so lassen sie auf die Gestalt und typische Ausbildung der Uebrigen keinen sichern Schluß ziehen. Die Uebersicht über die anderen Kreise des Thierreichs wird von vorn herein dadurch erleichtert, daß man für sie eine bestimmte Richtung der Formenbildung, des Baustiles angeben kann. Die meisten Urthiere sind nun zwar nicht überhaupt formlos, bestehen aber aus Formen der verschiedenartigsten Anlage, und es bleibt nichts anderes übrig, als sich mit der ganz allgemeinen und vagen Angabe zu begnügen, daß wir alle diejenigen Thiere Urthiere (Protozoa) nennen, welche auf einer niederen Stufe der Organisation und bei einer solchen niederen Entfaltung der Gewebetheile ihres Körpers beharren, wie sie durch das Vorherrschen der sogenannten Sarcode oder des thierischen Protoplasma bedingt ist.
Damit dieses unvermeidliche Wort, ohne welches ein Verständniß der Beschaffenheit und des Lebens, auch der Lebeweise der Urthiere ganz unmöglich ist, kein leerer Klang bleibt, ist freilich kein anderer Ausweg möglich, als daß man sich von einem befreundeten Naturforscher wirkliches Protoplasma unter dem Mikroskop zeigen läßt. Ein sehr günstiges, im Sommer immer leicht herbeizuschaffendes Object sind die Haare an den Staubfäden der Tradescantia. Jn diesen Haaren, verlängerten Zellen, ist bei einer Vergrößerung von 400 bis 500 ein in fortwährender Ver- änderung und stetem Fließen befindliches Netz einer dickflüssigen Substanz wahrzunehmen, deren Bewegung sich besonders aus dem Fortgleiten darin enthaltener feiner Körnchen ergibt. Diese Beweglichkeit erscheint als eine der auffallendsten und wichtigsten Eigenschaften des in der Pflanzenzelle eingeschlossenen Protoplasmas; durchaus dieselbe Substanz, sowohl in Zellen ent- halten als im freien Zustande, ist nun auch in der Thierwelt ungemein verbreitet. Während aber in den höheren Thieren der anfängliche einfache Protoplasmainhalt weitere Verwandlungen, z. B. in den Jnhalt der Muskel- und der Nervenfasern eingeht, verharrt er bei anderen, und das sind eben die Protozoen, in seiner ursprünglichen Einfachheit und Formlosigkeit und verleiht dem ganzen Organismus das Gepräge eines tieferen, man darf sagen, anfänglicheren Standpunktes.
Der Kreis der Urthiere.
Wenn wir früher einmal, als wir den Kreis der Würmer zu beſtimmen ſuchten, auf offen- bare Schwachheiten älterer, ſich großen Anſehens erfreuender Syſteme hinwieſen, ſo können wir ſchon ſelbſt den von den meiſten heutigen Zoologen angenommenen Kreis der Urthiere die ver- wundbare Stelle unſeres Syſtemes nennen. Der Name beſagt Viel und Nichts. Das Eine, indem er uns die Einſicht in die Anfänge der Lebewelt, in jene niedrigſten Reihen verſpricht, die eben aus dem Geſtaltungsloſen ſich zu den einfachſten Formen herausarbeiten; das Andere, indem er unſere Vorſtellungen über den eigentlichen Jnhalt der großen Abtheilung vollkommen im Unklaren läßt. Die Worte „Würmer“, „Weichthiere“, „Wirbelthiere“ u. ſ. f. knüpfen an uns täglich vor Augen kommende Geſchöpfe von einem, Jedermann verſtändlichen Gepräge an. Unter einem Urthier kann ich mir aber ohne ganz beſtimmte Ableitung gar nichts denken, und habe ich auch einige geſehen, ſo laſſen ſie auf die Geſtalt und typiſche Ausbildung der Uebrigen keinen ſichern Schluß ziehen. Die Ueberſicht über die anderen Kreiſe des Thierreichs wird von vorn herein dadurch erleichtert, daß man für ſie eine beſtimmte Richtung der Formenbildung, des Bauſtiles angeben kann. Die meiſten Urthiere ſind nun zwar nicht überhaupt formlos, beſtehen aber aus Formen der verſchiedenartigſten Anlage, und es bleibt nichts anderes übrig, als ſich mit der ganz allgemeinen und vagen Angabe zu begnügen, daß wir alle diejenigen Thiere Urthiere (Protozoa) nennen, welche auf einer niederen Stufe der Organiſation und bei einer ſolchen niederen Entfaltung der Gewebetheile ihres Körpers beharren, wie ſie durch das Vorherrſchen der ſogenannten Sarcode oder des thieriſchen Protoplasma bedingt iſt.
Damit dieſes unvermeidliche Wort, ohne welches ein Verſtändniß der Beſchaffenheit und des Lebens, auch der Lebeweiſe der Urthiere ganz unmöglich iſt, kein leerer Klang bleibt, iſt freilich kein anderer Ausweg möglich, als daß man ſich von einem befreundeten Naturforſcher wirkliches Protoplasma unter dem Mikroſkop zeigen läßt. Ein ſehr günſtiges, im Sommer immer leicht herbeizuſchaffendes Object ſind die Haare an den Staubfäden der Tradeſcantia. Jn dieſen Haaren, verlängerten Zellen, iſt bei einer Vergrößerung von 400 bis 500 ein in fortwährender Ver- änderung und ſtetem Fließen befindliches Netz einer dickflüſſigen Subſtanz wahrzunehmen, deren Bewegung ſich beſonders aus dem Fortgleiten darin enthaltener feiner Körnchen ergibt. Dieſe Beweglichkeit erſcheint als eine der auffallendſten und wichtigſten Eigenſchaften des in der Pflanzenzelle eingeſchloſſenen Protoplasmas; durchaus dieſelbe Subſtanz, ſowohl in Zellen ent- halten als im freien Zuſtande, iſt nun auch in der Thierwelt ungemein verbreitet. Während aber in den höheren Thieren der anfängliche einfache Protoplasmainhalt weitere Verwandlungen, z. B. in den Jnhalt der Muskel- und der Nervenfaſern eingeht, verharrt er bei anderen, und das ſind eben die Protozoen, in ſeiner urſprünglichen Einfachheit und Formloſigkeit und verleiht dem ganzen Organismus das Gepräge eines tieferen, man darf ſagen, anfänglicheren Standpunktes.
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Der Kreis der Urthiere.
Wenn wir früher einmal, als wir den Kreis der Würmer zu beſtimmen ſuchten, auf offen-
bare Schwachheiten älterer, ſich großen Anſehens erfreuender Syſteme hinwieſen, ſo können wir
ſchon ſelbſt den von den meiſten heutigen Zoologen angenommenen Kreis der Urthiere die ver-
wundbare Stelle unſeres Syſtemes nennen. Der Name beſagt Viel und Nichts. Das Eine,
indem er uns die Einſicht in die Anfänge der Lebewelt, in jene niedrigſten Reihen verſpricht,
die eben aus dem Geſtaltungsloſen ſich zu den einfachſten Formen herausarbeiten; das Andere,
indem er unſere Vorſtellungen über den eigentlichen Jnhalt der großen Abtheilung vollkommen
im Unklaren läßt. Die Worte „Würmer“, „Weichthiere“, „Wirbelthiere“ u. ſ. f. knüpfen an uns
täglich vor Augen kommende Geſchöpfe von einem, Jedermann verſtändlichen Gepräge an. Unter
einem Urthier kann ich mir aber ohne ganz beſtimmte Ableitung gar nichts denken, und habe ich
auch einige geſehen, ſo laſſen ſie auf die Geſtalt und typiſche Ausbildung der Uebrigen keinen
ſichern Schluß ziehen. Die Ueberſicht über die anderen Kreiſe des Thierreichs wird von vorn
herein dadurch erleichtert, daß man für ſie eine beſtimmte Richtung der Formenbildung, des
Bauſtiles angeben kann. Die meiſten Urthiere ſind nun zwar nicht überhaupt formlos, beſtehen
aber aus Formen der verſchiedenartigſten Anlage, und es bleibt nichts anderes übrig, als ſich mit
der ganz allgemeinen und vagen Angabe zu begnügen, daß wir alle diejenigen Thiere Urthiere
(Protozoa) nennen, welche auf einer niederen Stufe der Organiſation und bei einer ſolchen niederen
Entfaltung der Gewebetheile ihres Körpers beharren, wie ſie durch das Vorherrſchen der ſogenannten
Sarcode oder des thieriſchen Protoplasma bedingt iſt.
Damit dieſes unvermeidliche Wort, ohne welches ein Verſtändniß der Beſchaffenheit und des
Lebens, auch der Lebeweiſe der Urthiere ganz unmöglich iſt, kein leerer Klang bleibt, iſt freilich
kein anderer Ausweg möglich, als daß man ſich von einem befreundeten Naturforſcher wirkliches
Protoplasma unter dem Mikroſkop zeigen läßt. Ein ſehr günſtiges, im Sommer immer leicht
herbeizuſchaffendes Object ſind die Haare an den Staubfäden der Tradeſcantia. Jn dieſen Haaren,
verlängerten Zellen, iſt bei einer Vergrößerung von 400 bis 500 ein in fortwährender Ver-
änderung und ſtetem Fließen befindliches Netz einer dickflüſſigen Subſtanz wahrzunehmen, deren
Bewegung ſich beſonders aus dem Fortgleiten darin enthaltener feiner Körnchen ergibt.
Dieſe Beweglichkeit erſcheint als eine der auffallendſten und wichtigſten Eigenſchaften des in der
Pflanzenzelle eingeſchloſſenen Protoplasmas; durchaus dieſelbe Subſtanz, ſowohl in Zellen ent-
halten als im freien Zuſtande, iſt nun auch in der Thierwelt ungemein verbreitet. Während
aber in den höheren Thieren der anfängliche einfache Protoplasmainhalt weitere Verwandlungen,
z. B. in den Jnhalt der Muskel- und der Nervenfaſern eingeht, verharrt er bei anderen, und
das ſind eben die Protozoen, in ſeiner urſprünglichen Einfachheit und Formloſigkeit und verleiht
dem ganzen Organismus das Gepräge eines tieferen, man darf ſagen, anfänglicheren Standpunktes.
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. [1008]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/1064>, abgerufen am 20.12.2024.
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