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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Sechste Reihe und dreizehnte Ordnung.
Die Röhrenherzen
(Leptocardii).


Wir stehen vor der tiefsten Stufe des Kreises der Wirbelthiere, vor einem Geschöpf, welches
man Fisch nennt, weil man es nur in der fünften Klasse des Thierreiches unterbringen kann, welches
aber mit allen übrigen Mitgliedern dieser Klasse so wenig Aehnlichkeit hat, daß man es als Vertreter
einer Sippe, Familie, Ordnung und Reihe betrachten muß. Der ursprüngliche und nächstliegende
Begriff des Wirbelthieres findet auf gedachtes Geschöpf keine Anwendung mehr; denn es besitzt weder
Wirbel, noch eine gegliederte Wirbelsäule. Wenn man den Jnger ein Bindeglied nennen darf
wischen Fischen und Würmern, darf man den Vertreter der Schlauchfische ansehen als ein Mittelding
zwischen Fischen und Weichthieren, und zwar ähnelt er den letztgenannten weit mehr als den
ersterwähnten. Wer sich ängstlich klammert an eine im engsten Sinne gedeutete Planmäßigkeit der
Natur, an ein sogenanntes natürliches System, wird sich diesem Thiere gegenüber rathlos sehen; wer
begriffen hat, daß die Natur nach keinem Schema gearbeitet, daß sie die Einheit ist und wir es sind,
welche sie zersplittern, welche trennen und begrenzen, um uns zurecht zu finden in der unendlichen
Manchfaltigkeit, wird sich die Berechtigung zusprechen dürfen, in dem Lanzettfischchen, welches
Pallas, der Entdecker desselben, mit einer Wegschnecke verglich, einen Fisch zu sehen.

Kurz zusammengefaßt, besitzt der Lanzettfisch (Amphioxus lanceolatus), Vertreter der Schlauch-
fische,
folgende Merkmale: Sein etwa 2 Zoll langer Leib ist gestreckt, schmal, kantig, nach beiden
Enden hin ziemlich gleichmäßig zugespitzt, am hinteren Ende mit einer zarten senkrechten Flosse besetzt,
welche sich als schmaler Hautsaum oben über einen großen Theil des Rückens, unten bis gegen den
After zieht und in der Schwanzgegend lanzettförmig verbreitert. Den am vorderen Leibesende auf
der Unterseite gelegenen Mund umgeben knorpelige Spitzen, welche zusammengelegt und zum Ver-
schließen der Oeffnung benutzt werden können. Nach innen geht die Mundöffnung unmittelbar in
den weiten Kiemenschlauch über, welcher aus vielen neben einander liegenden, schief von oben nach
unten laufenden Knorpelstäben gebildet und hinten durch eine vorstehende, ringförmige Falte vom
Darmschlauche getrennt wird. Das Athmungswasser fließt zwischen den Knorpelstäben durch, in die
Leibeshöhle und durch einen auf der Unterseite sich öffnenden Ausführungsgang ab. Der Darm-
schlauch erweitert sich, buchtet sich zugleich zu einem, der Leber entsprechenden, drüsenreichen Blind-
darm aus, verengert sich sodann und verläuft bogig bis zum After. Alle Schleimhäute sind mit
Flimmern besetzt, deren Bewegungen den Durchgang des Athmungs- und Speisewassers vermitteln.
Ein Herz fehlt gänzlich; es wird ersetzt durch röhrenförmige, mit den Bogen des Kiemenschlauches
in Verbindung stehende Gefäße, welche sich wechselsweise zusammenziehen und wieder ausdehnen und

Sechſte Reihe und dreizehnte Ordnung.
Die Röhrenherzen
(Leptocardii).


Wir ſtehen vor der tiefſten Stufe des Kreiſes der Wirbelthiere, vor einem Geſchöpf, welches
man Fiſch nennt, weil man es nur in der fünften Klaſſe des Thierreiches unterbringen kann, welches
aber mit allen übrigen Mitgliedern dieſer Klaſſe ſo wenig Aehnlichkeit hat, daß man es als Vertreter
einer Sippe, Familie, Ordnung und Reihe betrachten muß. Der urſprüngliche und nächſtliegende
Begriff des Wirbelthieres findet auf gedachtes Geſchöpf keine Anwendung mehr; denn es beſitzt weder
Wirbel, noch eine gegliederte Wirbelſäule. Wenn man den Jnger ein Bindeglied nennen darf
wiſchen Fiſchen und Würmern, darf man den Vertreter der Schlauchfiſche anſehen als ein Mittelding
zwiſchen Fiſchen und Weichthieren, und zwar ähnelt er den letztgenannten weit mehr als den
erſterwähnten. Wer ſich ängſtlich klammert an eine im engſten Sinne gedeutete Planmäßigkeit der
Natur, an ein ſogenanntes natürliches Syſtem, wird ſich dieſem Thiere gegenüber rathlos ſehen; wer
begriffen hat, daß die Natur nach keinem Schema gearbeitet, daß ſie die Einheit iſt und wir es ſind,
welche ſie zerſplittern, welche trennen und begrenzen, um uns zurecht zu finden in der unendlichen
Manchfaltigkeit, wird ſich die Berechtigung zuſprechen dürfen, in dem Lanzettfiſchchen, welches
Pallas, der Entdecker deſſelben, mit einer Wegſchnecke verglich, einen Fiſch zu ſehen.

Kurz zuſammengefaßt, beſitzt der Lanzettfiſch (Amphioxus lanceolatus), Vertreter der Schlauch-
fiſche,
folgende Merkmale: Sein etwa 2 Zoll langer Leib iſt geſtreckt, ſchmal, kantig, nach beiden
Enden hin ziemlich gleichmäßig zugeſpitzt, am hinteren Ende mit einer zarten ſenkrechten Floſſe beſetzt,
welche ſich als ſchmaler Hautſaum oben über einen großen Theil des Rückens, unten bis gegen den
After zieht und in der Schwanzgegend lanzettförmig verbreitert. Den am vorderen Leibesende auf
der Unterſeite gelegenen Mund umgeben knorpelige Spitzen, welche zuſammengelegt und zum Ver-
ſchließen der Oeffnung benutzt werden können. Nach innen geht die Mundöffnung unmittelbar in
den weiten Kiemenſchlauch über, welcher aus vielen neben einander liegenden, ſchief von oben nach
unten laufenden Knorpelſtäben gebildet und hinten durch eine vorſtehende, ringförmige Falte vom
Darmſchlauche getrennt wird. Das Athmungswaſſer fließt zwiſchen den Knorpelſtäben durch, in die
Leibeshöhle und durch einen auf der Unterſeite ſich öffnenden Ausführungsgang ab. Der Darm-
ſchlauch erweitert ſich, buchtet ſich zugleich zu einem, der Leber entſprechenden, drüſenreichen Blind-
darm aus, verengert ſich ſodann und verläuft bogig bis zum After. Alle Schleimhäute ſind mit
Flimmern beſetzt, deren Bewegungen den Durchgang des Athmungs- und Speiſewaſſers vermitteln.
Ein Herz fehlt gänzlich; es wird erſetzt durch röhrenförmige, mit den Bogen des Kiemenſchlauches
in Verbindung ſtehende Gefäße, welche ſich wechſelsweiſe zuſammenziehen und wieder ausdehnen und

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[[811]/0857] Sechſte Reihe und dreizehnte Ordnung. Die Röhrenherzen (Leptocardii). Wir ſtehen vor der tiefſten Stufe des Kreiſes der Wirbelthiere, vor einem Geſchöpf, welches man Fiſch nennt, weil man es nur in der fünften Klaſſe des Thierreiches unterbringen kann, welches aber mit allen übrigen Mitgliedern dieſer Klaſſe ſo wenig Aehnlichkeit hat, daß man es als Vertreter einer Sippe, Familie, Ordnung und Reihe betrachten muß. Der urſprüngliche und nächſtliegende Begriff des Wirbelthieres findet auf gedachtes Geſchöpf keine Anwendung mehr; denn es beſitzt weder Wirbel, noch eine gegliederte Wirbelſäule. Wenn man den Jnger ein Bindeglied nennen darf wiſchen Fiſchen und Würmern, darf man den Vertreter der Schlauchfiſche anſehen als ein Mittelding zwiſchen Fiſchen und Weichthieren, und zwar ähnelt er den letztgenannten weit mehr als den erſterwähnten. Wer ſich ängſtlich klammert an eine im engſten Sinne gedeutete Planmäßigkeit der Natur, an ein ſogenanntes natürliches Syſtem, wird ſich dieſem Thiere gegenüber rathlos ſehen; wer begriffen hat, daß die Natur nach keinem Schema gearbeitet, daß ſie die Einheit iſt und wir es ſind, welche ſie zerſplittern, welche trennen und begrenzen, um uns zurecht zu finden in der unendlichen Manchfaltigkeit, wird ſich die Berechtigung zuſprechen dürfen, in dem Lanzettfiſchchen, welches Pallas, der Entdecker deſſelben, mit einer Wegſchnecke verglich, einen Fiſch zu ſehen. Kurz zuſammengefaßt, beſitzt der Lanzettfiſch (Amphioxus lanceolatus), Vertreter der Schlauch- fiſche, folgende Merkmale: Sein etwa 2 Zoll langer Leib iſt geſtreckt, ſchmal, kantig, nach beiden Enden hin ziemlich gleichmäßig zugeſpitzt, am hinteren Ende mit einer zarten ſenkrechten Floſſe beſetzt, welche ſich als ſchmaler Hautſaum oben über einen großen Theil des Rückens, unten bis gegen den After zieht und in der Schwanzgegend lanzettförmig verbreitert. Den am vorderen Leibesende auf der Unterſeite gelegenen Mund umgeben knorpelige Spitzen, welche zuſammengelegt und zum Ver- ſchließen der Oeffnung benutzt werden können. Nach innen geht die Mundöffnung unmittelbar in den weiten Kiemenſchlauch über, welcher aus vielen neben einander liegenden, ſchief von oben nach unten laufenden Knorpelſtäben gebildet und hinten durch eine vorſtehende, ringförmige Falte vom Darmſchlauche getrennt wird. Das Athmungswaſſer fließt zwiſchen den Knorpelſtäben durch, in die Leibeshöhle und durch einen auf der Unterſeite ſich öffnenden Ausführungsgang ab. Der Darm- ſchlauch erweitert ſich, buchtet ſich zugleich zu einem, der Leber entſprechenden, drüſenreichen Blind- darm aus, verengert ſich ſodann und verläuft bogig bis zum After. Alle Schleimhäute ſind mit Flimmern beſetzt, deren Bewegungen den Durchgang des Athmungs- und Speiſewaſſers vermitteln. Ein Herz fehlt gänzlich; es wird erſetzt durch röhrenförmige, mit den Bogen des Kiemenſchlauches in Verbindung ſtehende Gefäße, welche ſich wechſelsweiſe zuſammenziehen und wieder ausdehnen und

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. [811]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/857>, abgerufen am 19.11.2024.