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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Vierte Reihe.
Die Knorpelfische
(Selachii).


Zu den riesigen Kriechthieren, welche in früheren Schöpfungstagen die süßen Gewässer und das
Meer bevölkerten, gesellten sich gewaltige Fische, von denen wenige bis auf unsere Tage herüber
gekommen sind. Aus zahlreichen Ueberresten, namentlich aus versteinerten Zähnen, welche man
sehr häufig findet, läßt sich schließen, daß diese Fische in großer Manchfaltigkeit auftraten; und
ebenso glaubt man annehmen zu dürfen, daß sie ihre noch gegenwärtig lebenden Verwandten an
Größe bedeutend überragten, ja hierin den massigsten aller Thiere, den Walen, fast oder wirklich
gleichkamen. Hinsichtlich ihrer Ausbildung scheinen sie sich von den übrig gebliebenen Arten nicht
wesentlich unterschieden, also mehr oder weniger alle Merkmale unserer gegenwärtigen Haie und
Rochen an sich getragen zu haben.

Man kann nicht behaupten, daß die Knorpelfische, welche das System erst nach den Knochen-
fischen einreiht, letzteren bezüglich des Grades ihrer Entwicklung nachstehen. Allerdings erreicht das
Geripp bei ihnen die knochige Festigkeit jener nicht, sondern bleibt stets knorpelig; die Entwick-
lung des Gehirns, die Bildung der Eingeweide, die Fortpflanzung und Ausbildung der Jungen
aber bekundet andererseits eine viel höhere Stufe, als sie die übrigen Fische einnehmen. "Der
Schädel dieser Thiere", sagt Karl Vogt, "besteht nur aus einem einzigen Knorpelstück, einer ganzen,
ungetheilten Kapsel, welche das Gehirn umhüllt, das Gehörorgan einschließt und seitlich und vorn
becherartige Vertiefungen zeigt, in denen die Augen und die meist sehr zusammengesetzten Nasensäcke
sitzen. Die Unterfläche dieser knorpeligen Schädelkapsel bildet zugleich unmittelbar das Gaumen-
gewölbe über der Mundhöhle, und das vordere Ende derselben Fläche den Oberkiefer bei einer
Familie der Reihe, indem an ihm die Zähne festsitzen, während bei den übrigen ein durchaus beweg-
licher Oberkiefer ausgebildet ist, an dem sich nach hinten Stücke anschließen, welche den ersten Anfang
des Gaumengewölbes darstellen. Stets finden sich ein beweglich eingelenkter, mit Zähnen besetzter
Unterkiefer, welcher aus einem einzigen Knochenbogen besteht, sowie in den meisten Fällen noch beson-
dere Lippenknorpel, welche aber niemals einen bedeutenden Grad der Entwicklung erreichen. Der
Schädel selbst ist nur von Haut überzogen; seine äußeren Gruben und Vertiefungen aber sind oft so
mit fett- und gallertartiger Sulze angefüllt, daß die Kopfform des lebenden Thieres meist sehr
bedeutend von der allgemeinen Gestaltung des Schädels abweicht. Die Verschmelzung sämmtlicher
harten Theile des Kopfes in eine einzige knorpelige Kapsel, das gänzliche Fehlen jeder Spur von
Knochengebilden, die sonst als Hautknochendeckplatten an dem Schädel der übrigen Fische sich aus-
bilden, kennzeichnen die Knorpelfische vorzugsweise. Hinsichtlich der Ausbildung der Wirbelsäule

Vierte Reihe.
Die Knorpelfiſche
(Selachii).


Zu den rieſigen Kriechthieren, welche in früheren Schöpfungstagen die ſüßen Gewäſſer und das
Meer bevölkerten, geſellten ſich gewaltige Fiſche, von denen wenige bis auf unſere Tage herüber
gekommen ſind. Aus zahlreichen Ueberreſten, namentlich aus verſteinerten Zähnen, welche man
ſehr häufig findet, läßt ſich ſchließen, daß dieſe Fiſche in großer Manchfaltigkeit auftraten; und
ebenſo glaubt man annehmen zu dürfen, daß ſie ihre noch gegenwärtig lebenden Verwandten an
Größe bedeutend überragten, ja hierin den maſſigſten aller Thiere, den Walen, faſt oder wirklich
gleichkamen. Hinſichtlich ihrer Ausbildung ſcheinen ſie ſich von den übrig gebliebenen Arten nicht
weſentlich unterſchieden, alſo mehr oder weniger alle Merkmale unſerer gegenwärtigen Haie und
Rochen an ſich getragen zu haben.

Man kann nicht behaupten, daß die Knorpelfiſche, welche das Syſtem erſt nach den Knochen-
fiſchen einreiht, letzteren bezüglich des Grades ihrer Entwicklung nachſtehen. Allerdings erreicht das
Geripp bei ihnen die knochige Feſtigkeit jener nicht, ſondern bleibt ſtets knorpelig; die Entwick-
lung des Gehirns, die Bildung der Eingeweide, die Fortpflanzung und Ausbildung der Jungen
aber bekundet andererſeits eine viel höhere Stufe, als ſie die übrigen Fiſche einnehmen. „Der
Schädel dieſer Thiere“, ſagt Karl Vogt, „beſteht nur aus einem einzigen Knorpelſtück, einer ganzen,
ungetheilten Kapſel, welche das Gehirn umhüllt, das Gehörorgan einſchließt und ſeitlich und vorn
becherartige Vertiefungen zeigt, in denen die Augen und die meiſt ſehr zuſammengeſetzten Naſenſäcke
ſitzen. Die Unterfläche dieſer knorpeligen Schädelkapſel bildet zugleich unmittelbar das Gaumen-
gewölbe über der Mundhöhle, und das vordere Ende derſelben Fläche den Oberkiefer bei einer
Familie der Reihe, indem an ihm die Zähne feſtſitzen, während bei den übrigen ein durchaus beweg-
licher Oberkiefer ausgebildet iſt, an dem ſich nach hinten Stücke anſchließen, welche den erſten Anfang
des Gaumengewölbes darſtellen. Stets finden ſich ein beweglich eingelenkter, mit Zähnen beſetzter
Unterkiefer, welcher aus einem einzigen Knochenbogen beſteht, ſowie in den meiſten Fällen noch beſon-
dere Lippenknorpel, welche aber niemals einen bedeutenden Grad der Entwicklung erreichen. Der
Schädel ſelbſt iſt nur von Haut überzogen; ſeine äußeren Gruben und Vertiefungen aber ſind oft ſo
mit fett- und gallertartiger Sulze angefüllt, daß die Kopfform des lebenden Thieres meiſt ſehr
bedeutend von der allgemeinen Geſtaltung des Schädels abweicht. Die Verſchmelzung ſämmtlicher
harten Theile des Kopfes in eine einzige knorpelige Kapſel, das gänzliche Fehlen jeder Spur von
Knochengebilden, die ſonſt als Hautknochendeckplatten an dem Schädel der übrigen Fiſche ſich aus-
bilden, kennzeichnen die Knorpelfiſche vorzugsweiſe. Hinſichtlich der Ausbildung der Wirbelſäule

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[[773]/0815] Vierte Reihe. Die Knorpelfiſche (Selachii). Zu den rieſigen Kriechthieren, welche in früheren Schöpfungstagen die ſüßen Gewäſſer und das Meer bevölkerten, geſellten ſich gewaltige Fiſche, von denen wenige bis auf unſere Tage herüber gekommen ſind. Aus zahlreichen Ueberreſten, namentlich aus verſteinerten Zähnen, welche man ſehr häufig findet, läßt ſich ſchließen, daß dieſe Fiſche in großer Manchfaltigkeit auftraten; und ebenſo glaubt man annehmen zu dürfen, daß ſie ihre noch gegenwärtig lebenden Verwandten an Größe bedeutend überragten, ja hierin den maſſigſten aller Thiere, den Walen, faſt oder wirklich gleichkamen. Hinſichtlich ihrer Ausbildung ſcheinen ſie ſich von den übrig gebliebenen Arten nicht weſentlich unterſchieden, alſo mehr oder weniger alle Merkmale unſerer gegenwärtigen Haie und Rochen an ſich getragen zu haben. Man kann nicht behaupten, daß die Knorpelfiſche, welche das Syſtem erſt nach den Knochen- fiſchen einreiht, letzteren bezüglich des Grades ihrer Entwicklung nachſtehen. Allerdings erreicht das Geripp bei ihnen die knochige Feſtigkeit jener nicht, ſondern bleibt ſtets knorpelig; die Entwick- lung des Gehirns, die Bildung der Eingeweide, die Fortpflanzung und Ausbildung der Jungen aber bekundet andererſeits eine viel höhere Stufe, als ſie die übrigen Fiſche einnehmen. „Der Schädel dieſer Thiere“, ſagt Karl Vogt, „beſteht nur aus einem einzigen Knorpelſtück, einer ganzen, ungetheilten Kapſel, welche das Gehirn umhüllt, das Gehörorgan einſchließt und ſeitlich und vorn becherartige Vertiefungen zeigt, in denen die Augen und die meiſt ſehr zuſammengeſetzten Naſenſäcke ſitzen. Die Unterfläche dieſer knorpeligen Schädelkapſel bildet zugleich unmittelbar das Gaumen- gewölbe über der Mundhöhle, und das vordere Ende derſelben Fläche den Oberkiefer bei einer Familie der Reihe, indem an ihm die Zähne feſtſitzen, während bei den übrigen ein durchaus beweg- licher Oberkiefer ausgebildet iſt, an dem ſich nach hinten Stücke anſchließen, welche den erſten Anfang des Gaumengewölbes darſtellen. Stets finden ſich ein beweglich eingelenkter, mit Zähnen beſetzter Unterkiefer, welcher aus einem einzigen Knochenbogen beſteht, ſowie in den meiſten Fällen noch beſon- dere Lippenknorpel, welche aber niemals einen bedeutenden Grad der Entwicklung erreichen. Der Schädel ſelbſt iſt nur von Haut überzogen; ſeine äußeren Gruben und Vertiefungen aber ſind oft ſo mit fett- und gallertartiger Sulze angefüllt, daß die Kopfform des lebenden Thieres meiſt ſehr bedeutend von der allgemeinen Geſtaltung des Schädels abweicht. Die Verſchmelzung ſämmtlicher harten Theile des Kopfes in eine einzige knorpelige Kapſel, das gänzliche Fehlen jeder Spur von Knochengebilden, die ſonſt als Hautknochendeckplatten an dem Schädel der übrigen Fiſche ſich aus- bilden, kennzeichnen die Knorpelfiſche vorzugsweiſe. Hinſichtlich der Ausbildung der Wirbelſäule

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. [773]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/815>, abgerufen am 19.11.2024.