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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Die Schlangen. Vipern. Spießottern.
im Wasser recht gut zu behelfen weiß. Letzteres meidet sie überhaupt keineswegs in dem Grade, wie
man gewöhnlich gesagt hat. Sie ist keine Wasserschlange, wie unsere Ringelnatter und ihre Ver-
wandten, aber sie scheut die Nähe des Wassers durchaus nicht und weiß sich im Moore und Sumpfe,
wo sie nur schwimmend von einer Bülte zur anderen gelangen kann, recht gut einzurichten. Ueber
ihre Sinnesfähigkeiten wird wohl Dasselbe gelten, was ich eben im allgemeinen gesagt habe; daß wir
jedoch über die Schärfe des Gesichts ein richtiges Urtheil haben, bezweifle ich sehr, und keinesfalls
möchte ich denjenigen Forschern beipflichten, welche, getäuscht durch am Tage angestellte Beobachtungen,
ihr ein schwaches Gesicht zusprechen. Auch unser Urtheil über ihre geistigen Fähigkeiten wird wohl
noch der Berichtigung bedürfen. "Von eigentlichem Verstande dieser Schlange", so habe ich mich
früher ausgesprochen, "ist kaum zu reden. Die vorurtheilsfreie Beobachtung stellt sie als ein überaus
dummes Thier, als Ausbund geistiger Armuth dar. Eine sinnlose Wuth ist der hervorstechendste
Zug ihres Wesens. Jedes Ungewohnte reizt ihren Zorn; sie unterscheidet aber nicht, läßt sich auf
das Gröblichste täuschen und wird niemals durch Erfahrung gewitzigt. Fast mit derselben Wuth, wie
nach einem lebenden Wesen, beißt sie nach dem ihr vorgehaltenen Stocke oder nach dem hinter einem
Glase gezeigten Finger. Sie stößt sich die Schnauze blutig, ohne zu erkennen, daß ihr Zorn zwecklos
ist; sie beißt, wenn sie erregt wurde, noch wüthend in die Luft, auch wenn es Nichts mehr zu beißen
gibt. Jhr Geist ist unfähig, das Gefährliche von dem Ungefährlichen zu unterscheiden; deshalb kennt
sie auch kaum die Furcht, deshalb schickt sie sich nicht einmal der entschiedensten Uebermacht gegenüber
immer zur Flucht an. Kein Thier ist leichter zu fangen oder todtzuschlagen als die Kreuzotter. Sie
harrt auscheinend trotzig des Kommenden und vergißt zuweilen die Außenwelt vollständig. Man
würde sich täuschen, wenn man ihr Gebahren als Muth deuten wollte; denn solchen besitzt sie nicht:
höchstens von Trotz könnte man sprechen. Auch zur List erhebt sich ihr Geist nicht; wirkliche
Schlauheit ist ihr fremd. Bevor sie sich anschickt, nach ihrer Beute zu beißen, zischt sie gewöhnlich
ebenso laut und heftig, als wenn es der Abwehr gilt. Erregung jeglicher Art ist bei ihr mit Zorn
fast gleichbedeutend. Daß ein solches Geschöpf mit anderen Thieren niemals Freundschaft schließt,
daß es unzähmbar ist, braucht kaum noch erwähnt zu werden; ein so beschränkter Geist ist unbildsam."

Diese Schilderung ist gewiß richtig, soweit es sich um das Tagleben der Kreuzotter handelt; ich
bezweifle jedoch, daß sie auch für die Darstellung des nächtlichen Treibens derselben Giltigkeit hat.
Wer einen Galago, eine Fledermaus, eine Eule bei Tage beobachtet, erhält sicherlich keine richtige
Anschauung von ihren Wesen und Gebahren. Sollte es bei den nächtlich lebenden Kriechthieren
anders sein? Jch glaube nicht. Schon die in jeder Hinsicht dürftigen und gänzlich unzureichenden
Beobachtungen, welche wir an Gefangenen im Käfige anstellen können, sprechen dagegen. Welche
Aufschlüsse aber würde uns Beobachtung des Freilebens geben können! Nach meinen gegenwärtigen
Anschauungen glaube ich die Ansicht aussprechen zu dürfen, daß alle Nachtschlangen und somit auch
unsere Kreuzottern, wenn ihre Zeit gekommen, sich in annähernd derselben Weise benehmen wie die
Tagschlangen, deren Treiben wir beobachten können, daß sie beispielsweise also auch wirklich Jagd
auf Beute machen und nicht blos, wie unsere bisherigen Beobachtungen glauben zu machen scheinen,
auf dem Anstande liegen, in der Erwartung, daß irgend eine Beute in ihre Nähe komme, um von
ihr ergrissen werden zu können. Jn dieser Hinsicht gibt es noch viel zu erforschen; inwieweit es uns
gelingen wird, das Näthsel zu lösen, steht dahin.

Das Wesen der Kreuzotter, soweit wir es kennen, hat wenig Ansprechendes, die blinde, grenzen-
lose Wuth, welche sie, gereizt, bekundet, etwas geradezu Abstoßendes. "Jch habe einmal", sagt
Lenz, "eine Otter eine ganze Stunde lang gereizt, wo sie dann unaufhörlich fauchte und nach mir
biß, sodaß ich es am Ende der Stunde satt hatte, sie aber lange noch nicht. Jn solcher Wuth beißt
sie häufig, auch wenn sich der Gegenstand, welcher sie gereizt hatte, entfernte, in die Luft, in Häufchen
Mos und dergleichen, vorzüglich aber, wenn es im Sonnenscheine geschieht, nach ihrem eigenen oder
nach anderer Schatten. Sie hat dann den Körper zusammengeringelt und den Hals in der Mitte
des gebildeten Tellers eingezogen, um ihn bei jedem Bisse, welcher etwa einen Viertel- oder halben

Die Schlangen. Vipern. Spießottern.
im Waſſer recht gut zu behelfen weiß. Letzteres meidet ſie überhaupt keineswegs in dem Grade, wie
man gewöhnlich geſagt hat. Sie iſt keine Waſſerſchlange, wie unſere Ringelnatter und ihre Ver-
wandten, aber ſie ſcheut die Nähe des Waſſers durchaus nicht und weiß ſich im Moore und Sumpfe,
wo ſie nur ſchwimmend von einer Bülte zur anderen gelangen kann, recht gut einzurichten. Ueber
ihre Sinnesfähigkeiten wird wohl Daſſelbe gelten, was ich eben im allgemeinen geſagt habe; daß wir
jedoch über die Schärfe des Geſichts ein richtiges Urtheil haben, bezweifle ich ſehr, und keinesfalls
möchte ich denjenigen Forſchern beipflichten, welche, getäuſcht durch am Tage angeſtellte Beobachtungen,
ihr ein ſchwaches Geſicht zuſprechen. Auch unſer Urtheil über ihre geiſtigen Fähigkeiten wird wohl
noch der Berichtigung bedürfen. „Von eigentlichem Verſtande dieſer Schlange“, ſo habe ich mich
früher ausgeſprochen, „iſt kaum zu reden. Die vorurtheilsfreie Beobachtung ſtellt ſie als ein überaus
dummes Thier, als Ausbund geiſtiger Armuth dar. Eine ſinnloſe Wuth iſt der hervorſtechendſte
Zug ihres Weſens. Jedes Ungewohnte reizt ihren Zorn; ſie unterſcheidet aber nicht, läßt ſich auf
das Gröblichſte täuſchen und wird niemals durch Erfahrung gewitzigt. Faſt mit derſelben Wuth, wie
nach einem lebenden Weſen, beißt ſie nach dem ihr vorgehaltenen Stocke oder nach dem hinter einem
Glaſe gezeigten Finger. Sie ſtößt ſich die Schnauze blutig, ohne zu erkennen, daß ihr Zorn zwecklos
iſt; ſie beißt, wenn ſie erregt wurde, noch wüthend in die Luft, auch wenn es Nichts mehr zu beißen
gibt. Jhr Geiſt iſt unfähig, das Gefährliche von dem Ungefährlichen zu unterſcheiden; deshalb kennt
ſie auch kaum die Furcht, deshalb ſchickt ſie ſich nicht einmal der entſchiedenſten Uebermacht gegenüber
immer zur Flucht an. Kein Thier iſt leichter zu fangen oder todtzuſchlagen als die Kreuzotter. Sie
harrt auſcheinend trotzig des Kommenden und vergißt zuweilen die Außenwelt vollſtändig. Man
würde ſich täuſchen, wenn man ihr Gebahren als Muth deuten wollte; denn ſolchen beſitzt ſie nicht:
höchſtens von Trotz könnte man ſprechen. Auch zur Liſt erhebt ſich ihr Geiſt nicht; wirkliche
Schlauheit iſt ihr fremd. Bevor ſie ſich anſchickt, nach ihrer Beute zu beißen, ziſcht ſie gewöhnlich
ebenſo laut und heftig, als wenn es der Abwehr gilt. Erregung jeglicher Art iſt bei ihr mit Zorn
faſt gleichbedeutend. Daß ein ſolches Geſchöpf mit anderen Thieren niemals Freundſchaft ſchließt,
daß es unzähmbar iſt, braucht kaum noch erwähnt zu werden; ein ſo beſchränkter Geiſt iſt unbildſam.“

Dieſe Schilderung iſt gewiß richtig, ſoweit es ſich um das Tagleben der Kreuzotter handelt; ich
bezweifle jedoch, daß ſie auch für die Darſtellung des nächtlichen Treibens derſelben Giltigkeit hat.
Wer einen Galago, eine Fledermaus, eine Eule bei Tage beobachtet, erhält ſicherlich keine richtige
Anſchauung von ihren Weſen und Gebahren. Sollte es bei den nächtlich lebenden Kriechthieren
anders ſein? Jch glaube nicht. Schon die in jeder Hinſicht dürftigen und gänzlich unzureichenden
Beobachtungen, welche wir an Gefangenen im Käfige anſtellen können, ſprechen dagegen. Welche
Aufſchlüſſe aber würde uns Beobachtung des Freilebens geben können! Nach meinen gegenwärtigen
Anſchauungen glaube ich die Anſicht ausſprechen zu dürfen, daß alle Nachtſchlangen und ſomit auch
unſere Kreuzottern, wenn ihre Zeit gekommen, ſich in annähernd derſelben Weiſe benehmen wie die
Tagſchlangen, deren Treiben wir beobachten können, daß ſie beiſpielsweiſe alſo auch wirklich Jagd
auf Beute machen und nicht blos, wie unſere bisherigen Beobachtungen glauben zu machen ſcheinen,
auf dem Anſtande liegen, in der Erwartung, daß irgend eine Beute in ihre Nähe komme, um von
ihr ergriſſen werden zu können. Jn dieſer Hinſicht gibt es noch viel zu erforſchen; inwieweit es uns
gelingen wird, das Näthſel zu löſen, ſteht dahin.

Das Weſen der Kreuzotter, ſoweit wir es kennen, hat wenig Anſprechendes, die blinde, grenzen-
loſe Wuth, welche ſie, gereizt, bekundet, etwas geradezu Abſtoßendes. „Jch habe einmal“, ſagt
Lenz, „eine Otter eine ganze Stunde lang gereizt, wo ſie dann unaufhörlich fauchte und nach mir
biß, ſodaß ich es am Ende der Stunde ſatt hatte, ſie aber lange noch nicht. Jn ſolcher Wuth beißt
ſie häufig, auch wenn ſich der Gegenſtand, welcher ſie gereizt hatte, entfernte, in die Luft, in Häufchen
Mos und dergleichen, vorzüglich aber, wenn es im Sonnenſcheine geſchieht, nach ihrem eigenen oder
nach anderer Schatten. Sie hat dann den Körper zuſammengeringelt und den Hals in der Mitte
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[292/0318] Die Schlangen. Vipern. Spießottern. im Waſſer recht gut zu behelfen weiß. Letzteres meidet ſie überhaupt keineswegs in dem Grade, wie man gewöhnlich geſagt hat. Sie iſt keine Waſſerſchlange, wie unſere Ringelnatter und ihre Ver- wandten, aber ſie ſcheut die Nähe des Waſſers durchaus nicht und weiß ſich im Moore und Sumpfe, wo ſie nur ſchwimmend von einer Bülte zur anderen gelangen kann, recht gut einzurichten. Ueber ihre Sinnesfähigkeiten wird wohl Daſſelbe gelten, was ich eben im allgemeinen geſagt habe; daß wir jedoch über die Schärfe des Geſichts ein richtiges Urtheil haben, bezweifle ich ſehr, und keinesfalls möchte ich denjenigen Forſchern beipflichten, welche, getäuſcht durch am Tage angeſtellte Beobachtungen, ihr ein ſchwaches Geſicht zuſprechen. Auch unſer Urtheil über ihre geiſtigen Fähigkeiten wird wohl noch der Berichtigung bedürfen. „Von eigentlichem Verſtande dieſer Schlange“, ſo habe ich mich früher ausgeſprochen, „iſt kaum zu reden. Die vorurtheilsfreie Beobachtung ſtellt ſie als ein überaus dummes Thier, als Ausbund geiſtiger Armuth dar. Eine ſinnloſe Wuth iſt der hervorſtechendſte Zug ihres Weſens. Jedes Ungewohnte reizt ihren Zorn; ſie unterſcheidet aber nicht, läßt ſich auf das Gröblichſte täuſchen und wird niemals durch Erfahrung gewitzigt. Faſt mit derſelben Wuth, wie nach einem lebenden Weſen, beißt ſie nach dem ihr vorgehaltenen Stocke oder nach dem hinter einem Glaſe gezeigten Finger. Sie ſtößt ſich die Schnauze blutig, ohne zu erkennen, daß ihr Zorn zwecklos iſt; ſie beißt, wenn ſie erregt wurde, noch wüthend in die Luft, auch wenn es Nichts mehr zu beißen gibt. Jhr Geiſt iſt unfähig, das Gefährliche von dem Ungefährlichen zu unterſcheiden; deshalb kennt ſie auch kaum die Furcht, deshalb ſchickt ſie ſich nicht einmal der entſchiedenſten Uebermacht gegenüber immer zur Flucht an. Kein Thier iſt leichter zu fangen oder todtzuſchlagen als die Kreuzotter. Sie harrt auſcheinend trotzig des Kommenden und vergißt zuweilen die Außenwelt vollſtändig. Man würde ſich täuſchen, wenn man ihr Gebahren als Muth deuten wollte; denn ſolchen beſitzt ſie nicht: höchſtens von Trotz könnte man ſprechen. Auch zur Liſt erhebt ſich ihr Geiſt nicht; wirkliche Schlauheit iſt ihr fremd. Bevor ſie ſich anſchickt, nach ihrer Beute zu beißen, ziſcht ſie gewöhnlich ebenſo laut und heftig, als wenn es der Abwehr gilt. Erregung jeglicher Art iſt bei ihr mit Zorn faſt gleichbedeutend. Daß ein ſolches Geſchöpf mit anderen Thieren niemals Freundſchaft ſchließt, daß es unzähmbar iſt, braucht kaum noch erwähnt zu werden; ein ſo beſchränkter Geiſt iſt unbildſam.“ Dieſe Schilderung iſt gewiß richtig, ſoweit es ſich um das Tagleben der Kreuzotter handelt; ich bezweifle jedoch, daß ſie auch für die Darſtellung des nächtlichen Treibens derſelben Giltigkeit hat. Wer einen Galago, eine Fledermaus, eine Eule bei Tage beobachtet, erhält ſicherlich keine richtige Anſchauung von ihren Weſen und Gebahren. Sollte es bei den nächtlich lebenden Kriechthieren anders ſein? Jch glaube nicht. Schon die in jeder Hinſicht dürftigen und gänzlich unzureichenden Beobachtungen, welche wir an Gefangenen im Käfige anſtellen können, ſprechen dagegen. Welche Aufſchlüſſe aber würde uns Beobachtung des Freilebens geben können! Nach meinen gegenwärtigen Anſchauungen glaube ich die Anſicht ausſprechen zu dürfen, daß alle Nachtſchlangen und ſomit auch unſere Kreuzottern, wenn ihre Zeit gekommen, ſich in annähernd derſelben Weiſe benehmen wie die Tagſchlangen, deren Treiben wir beobachten können, daß ſie beiſpielsweiſe alſo auch wirklich Jagd auf Beute machen und nicht blos, wie unſere bisherigen Beobachtungen glauben zu machen ſcheinen, auf dem Anſtande liegen, in der Erwartung, daß irgend eine Beute in ihre Nähe komme, um von ihr ergriſſen werden zu können. Jn dieſer Hinſicht gibt es noch viel zu erforſchen; inwieweit es uns gelingen wird, das Näthſel zu löſen, ſteht dahin. Das Weſen der Kreuzotter, ſoweit wir es kennen, hat wenig Anſprechendes, die blinde, grenzen- loſe Wuth, welche ſie, gereizt, bekundet, etwas geradezu Abſtoßendes. „Jch habe einmal“, ſagt Lenz, „eine Otter eine ganze Stunde lang gereizt, wo ſie dann unaufhörlich fauchte und nach mir biß, ſodaß ich es am Ende der Stunde ſatt hatte, ſie aber lange noch nicht. Jn ſolcher Wuth beißt ſie häufig, auch wenn ſich der Gegenſtand, welcher ſie gereizt hatte, entfernte, in die Luft, in Häufchen Mos und dergleichen, vorzüglich aber, wenn es im Sonnenſcheine geſchieht, nach ihrem eigenen oder nach anderer Schatten. Sie hat dann den Körper zuſammengeringelt und den Hals in der Mitte des gebildeten Tellers eingezogen, um ihn bei jedem Biſſe, welcher etwa einen Viertel- oder halben

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/318>, abgerufen am 23.12.2024.