Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite

Giftschlangen im allgemeinen.
haften Zuckungen verscheiden, sieht diese Erscheinungen jedoch nicht als eigentliche Folge der Gift-
wirkung selbst an, sondern nur als ein Zeichen des "letzten Kampfes zwischen Leben und Tod".

Wendet sich der Verlauf der Krankheit, sei es in Folge der angewandten Mittel, oder weil die
Menge des in die Wunde gebrachten Giftes zu gering war, so folgt diesen ersten allgemeinen
Erscheinungen ein längeres Siechthum, bevor die vollständige Heilung eintritt; leider nur zu häufig
aber geschieht es, daß ein Vergifteter mehrere Wochen, Monate, ja selbst Jahre an den Folgen eines
Schlangenbisses zu leiden hat, daß ihm mit dem einzigen Tröpflein der fürchterlichen Flüssigkeit im
buchstäblichen Sinne des Wortes sein ganzes Leben vergiftet wird.

Unzählig sind die Heilmittel, welche man von Altersher gegen den Schlangenbiß angewendet
hat und noch heutigentages anwendet. Der Aberglaube spielt dabei leider noch immer eine sehr
große Rolle. Ebenso wie man früher zu den Göttern aufschrie, glaubt man in unserer Zeit durch
Hersagen einiger Dutzend "Vaterunser" oder "Ave Maria" Aufhebung einer so gewaltig wirkenden
Vergiftung erzielen zu können. Neben derartigen Ausbrüchen einer sonst unschädlichen, hier aber
verwerflichen Gefühlsseligkeit, welche zum Sterben Kranke einem blinden und haltlosen Wahne
opfert, wendet man allerdings auch noch andere Mittel an: Ausschneiden und Brennen der Wunde,
Auflegen von Schlangensteinen, zerstoßenen Wurzeln und Blättern, Eingeben von Pflanzensäften,
Salmiakgeist, Chlor, Arsen und anderen Giften etc. etc., hat aber trotzdem bis jetzt noch kein einziges
unbedingt vertrauenswürdiges Heilmittel kennen gelernt. Das wirksamste von allen scheint Wein-
geist zu sein, in reichlicher Gabe genossen oder eingetrichtert, gleichviel in welcher Form, ob als Sprit,
Rum, Arak, Cognak, Branntwein oder starker und schwerer Wein. Wir kennen gegenwärtig schon
sehr viele Fälle, welche zu beweisen scheinen, daß Weingeist die Folgen des Schlangenbisses ganz oder
theilweise aufhebt, und dürfen wenigstens die eine Ueberzeugung hegen, daß es für den Kranken vor-
theilhafter ist, ihn erst Schnaps trinken zu lassen und dann eine beliebige Anzahl von Ave Maria
über ihn zu beten, als umgekehrt zu verfahren. Bei Behandlung eines durch Schlangenbiß Ver-
gifteten ist alle Gefühlsschwärmerei vom Uebel und einzig und allein kräftiges Handeln am Platze.
Ein rascher, zwei bis drei Linien tiefer Schnitt über die Wunde, Ausdrücken derselben, Unterbindung,
d. h. feste Umschnürung des Gliedes oberhalb der Bißwunde, Aetzen der letzteren mit Salmiakgeist,
Höllenstein, Aetzkali und dergleichen und Trinken von Branntwein oder Rum, sobald man des einen
oder des anderen habhaft werden kann: das sind die Mittel, welche sich, dem heutigen Stande unserer
Kenntniß gemäß, zunächst empfehlen; die weiteren möge ein verständiger Arzt verordnen.

Soviel im allgemeinen über diesen Gegenstand. Bei Beschreibung der einzelnen Schlangen
werde ich Gelegenheit haben, über die Zufälle nach der Vergiftung und über die sogenannten
Heilmittel noch mancherlei Einzelheiten mitzutheilen.

Die Budisten, deren Glaubenssatzungen den Todtschlag eines Thieres unbedingt verbieten, setzen
eine gefangene Giftschlange in ein aus Palmenblättern geflochtenes Körbchen und geben dieses den
Wellen eines Stromes preis: wir schlagen sie todt, wo wir sie finden, thun damit jedoch nicht genug,
solange wir gleichzeitig nicht auch alle natürlichen Feinde dieses Gezüchtes schonen und hegen. Des-
halb Schutz jedem Jltis, jedem Bussard, damit es wenigstens in unserem Vaterlande den Schlangen
nicht an tüchtigen Gegnern fehle!



Die erste Hauptabtheilung der Giftschlangen oder die vierte Zunft der gesammten Ordnung
umfaßt die Furchenzähner (Proteroglypha). Sie haben noch große Aehnlichkeit mit den Nattern
oder unschuldigen Schlangen überhaupt, äußerlich wie hinsichtlich des Gebisses, unterscheiden sich aber
von diesen dadurch, daß der mittellange Oberkiefer, vor einigen derben Zähnen, Gifthaken trägt,
welche an der auswärts gebogenen, also vorderen Seite der ganzen Länge nach gefurcht oder gerinnelt,
jedoch nicht eigentlich durchbohrt sind. Diese Furchenzähne müssen als das bezeichnende Merkmal
aller hierher gehörigen Schlangen gelten, als das einzige, welches sie mit Sicherheit von den ungiftigen

Giftſchlangen im allgemeinen.
haften Zuckungen verſcheiden, ſieht dieſe Erſcheinungen jedoch nicht als eigentliche Folge der Gift-
wirkung ſelbſt an, ſondern nur als ein Zeichen des „letzten Kampfes zwiſchen Leben und Tod“.

Wendet ſich der Verlauf der Krankheit, ſei es in Folge der angewandten Mittel, oder weil die
Menge des in die Wunde gebrachten Giftes zu gering war, ſo folgt dieſen erſten allgemeinen
Erſcheinungen ein längeres Siechthum, bevor die vollſtändige Heilung eintritt; leider nur zu häufig
aber geſchieht es, daß ein Vergifteter mehrere Wochen, Monate, ja ſelbſt Jahre an den Folgen eines
Schlangenbiſſes zu leiden hat, daß ihm mit dem einzigen Tröpflein der fürchterlichen Flüſſigkeit im
buchſtäblichen Sinne des Wortes ſein ganzes Leben vergiftet wird.

Unzählig ſind die Heilmittel, welche man von Altersher gegen den Schlangenbiß angewendet
hat und noch heutigentages anwendet. Der Aberglaube ſpielt dabei leider noch immer eine ſehr
große Rolle. Ebenſo wie man früher zu den Göttern aufſchrie, glaubt man in unſerer Zeit durch
Herſagen einiger Dutzend „Vaterunſer“ oder „Ave Maria“ Aufhebung einer ſo gewaltig wirkenden
Vergiftung erzielen zu können. Neben derartigen Ausbrüchen einer ſonſt unſchädlichen, hier aber
verwerflichen Gefühlsſeligkeit, welche zum Sterben Kranke einem blinden und haltloſen Wahne
opfert, wendet man allerdings auch noch andere Mittel an: Ausſchneiden und Brennen der Wunde,
Auflegen von Schlangenſteinen, zerſtoßenen Wurzeln und Blättern, Eingeben von Pflanzenſäften,
Salmiakgeiſt, Chlor, Arſen und anderen Giften ꝛc. ꝛc., hat aber trotzdem bis jetzt noch kein einziges
unbedingt vertrauenswürdiges Heilmittel kennen gelernt. Das wirkſamſte von allen ſcheint Wein-
geiſt zu ſein, in reichlicher Gabe genoſſen oder eingetrichtert, gleichviel in welcher Form, ob als Sprit,
Rum, Arak, Cognak, Branntwein oder ſtarker und ſchwerer Wein. Wir kennen gegenwärtig ſchon
ſehr viele Fälle, welche zu beweiſen ſcheinen, daß Weingeiſt die Folgen des Schlangenbiſſes ganz oder
theilweiſe aufhebt, und dürfen wenigſtens die eine Ueberzeugung hegen, daß es für den Kranken vor-
theilhafter iſt, ihn erſt Schnaps trinken zu laſſen und dann eine beliebige Anzahl von Ave Maria
über ihn zu beten, als umgekehrt zu verfahren. Bei Behandlung eines durch Schlangenbiß Ver-
gifteten iſt alle Gefühlsſchwärmerei vom Uebel und einzig und allein kräftiges Handeln am Platze.
Ein raſcher, zwei bis drei Linien tiefer Schnitt über die Wunde, Ausdrücken derſelben, Unterbindung,
d. h. feſte Umſchnürung des Gliedes oberhalb der Bißwunde, Aetzen der letzteren mit Salmiakgeiſt,
Höllenſtein, Aetzkali und dergleichen und Trinken von Branntwein oder Rum, ſobald man des einen
oder des anderen habhaft werden kann: das ſind die Mittel, welche ſich, dem heutigen Stande unſerer
Kenntniß gemäß, zunächſt empfehlen; die weiteren möge ein verſtändiger Arzt verordnen.

Soviel im allgemeinen über dieſen Gegenſtand. Bei Beſchreibung der einzelnen Schlangen
werde ich Gelegenheit haben, über die Zufälle nach der Vergiftung und über die ſogenannten
Heilmittel noch mancherlei Einzelheiten mitzutheilen.

Die Budiſten, deren Glaubensſatzungen den Todtſchlag eines Thieres unbedingt verbieten, ſetzen
eine gefangene Giftſchlange in ein aus Palmenblättern geflochtenes Körbchen und geben dieſes den
Wellen eines Stromes preis: wir ſchlagen ſie todt, wo wir ſie finden, thun damit jedoch nicht genug,
ſolange wir gleichzeitig nicht auch alle natürlichen Feinde dieſes Gezüchtes ſchonen und hegen. Des-
halb Schutz jedem Jltis, jedem Buſſard, damit es wenigſtens in unſerem Vaterlande den Schlangen
nicht an tüchtigen Gegnern fehle!



Die erſte Hauptabtheilung der Giftſchlangen oder die vierte Zunft der geſammten Ordnung
umfaßt die Furchenzähner (Proteroglypha). Sie haben noch große Aehnlichkeit mit den Nattern
oder unſchuldigen Schlangen überhaupt, äußerlich wie hinſichtlich des Gebiſſes, unterſcheiden ſich aber
von dieſen dadurch, daß der mittellange Oberkiefer, vor einigen derben Zähnen, Gifthaken trägt,
welche an der auswärts gebogenen, alſo vorderen Seite der ganzen Länge nach gefurcht oder gerinnelt,
jedoch nicht eigentlich durchbohrt ſind. Dieſe Furchenzähne müſſen als das bezeichnende Merkmal
aller hierher gehörigen Schlangen gelten, als das einzige, welches ſie mit Sicherheit von den ungiftigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0277" n="255"/><fw place="top" type="header">Gift&#x017F;chlangen im allgemeinen.</fw><lb/>
haften Zuckungen ver&#x017F;cheiden, &#x017F;ieht die&#x017F;e Er&#x017F;cheinungen jedoch nicht als eigentliche Folge der Gift-<lb/>
wirkung &#x017F;elb&#x017F;t an, &#x017F;ondern nur als ein Zeichen des &#x201E;letzten Kampfes zwi&#x017F;chen Leben und Tod&#x201C;.</p><lb/>
          <p>Wendet &#x017F;ich der Verlauf der Krankheit, &#x017F;ei es in Folge der angewandten Mittel, oder weil die<lb/>
Menge des in die Wunde gebrachten Giftes zu gering war, &#x017F;o folgt die&#x017F;en er&#x017F;ten allgemeinen<lb/>
Er&#x017F;cheinungen ein längeres Siechthum, bevor die voll&#x017F;tändige Heilung eintritt; leider nur zu häufig<lb/>
aber ge&#x017F;chieht es, daß ein Vergifteter mehrere Wochen, Monate, ja &#x017F;elb&#x017F;t Jahre an den Folgen eines<lb/>
Schlangenbi&#x017F;&#x017F;es zu leiden hat, daß ihm mit dem einzigen Tröpflein der fürchterlichen Flü&#x017F;&#x017F;igkeit im<lb/>
buch&#x017F;täblichen Sinne des Wortes &#x017F;ein ganzes Leben vergiftet wird.</p><lb/>
          <p>Unzählig &#x017F;ind die Heilmittel, welche man von Altersher gegen den Schlangenbiß angewendet<lb/>
hat und noch heutigentages anwendet. Der Aberglaube &#x017F;pielt dabei leider noch immer eine &#x017F;ehr<lb/>
große Rolle. Eben&#x017F;o wie man früher zu den Göttern auf&#x017F;chrie, glaubt man in un&#x017F;erer Zeit durch<lb/>
Her&#x017F;agen einiger Dutzend &#x201E;Vaterun&#x017F;er&#x201C; oder &#x201E;Ave Maria&#x201C; Aufhebung einer &#x017F;o gewaltig wirkenden<lb/>
Vergiftung erzielen zu können. Neben derartigen Ausbrüchen einer &#x017F;on&#x017F;t un&#x017F;chädlichen, hier aber<lb/>
verwerflichen Gefühls&#x017F;eligkeit, welche zum Sterben Kranke einem blinden und haltlo&#x017F;en Wahne<lb/>
opfert, wendet man allerdings auch noch andere Mittel an: Aus&#x017F;chneiden und Brennen der Wunde,<lb/>
Auflegen von Schlangen&#x017F;teinen, zer&#x017F;toßenen Wurzeln und Blättern, Eingeben von Pflanzen&#x017F;äften,<lb/>
Salmiakgei&#x017F;t, Chlor, Ar&#x017F;en und anderen Giften &#xA75B;c. &#xA75B;c., hat aber trotzdem bis jetzt noch kein einziges<lb/>
unbedingt vertrauenswürdiges Heilmittel kennen gelernt. Das wirk&#x017F;am&#x017F;te von allen &#x017F;cheint Wein-<lb/>
gei&#x017F;t zu &#x017F;ein, in reichlicher Gabe geno&#x017F;&#x017F;en oder eingetrichtert, gleichviel in welcher Form, ob als Sprit,<lb/>
Rum, Arak, Cognak, Branntwein oder &#x017F;tarker und &#x017F;chwerer Wein. Wir kennen gegenwärtig &#x017F;chon<lb/>
&#x017F;ehr viele Fälle, welche zu bewei&#x017F;en &#x017F;cheinen, daß Weingei&#x017F;t die Folgen des Schlangenbi&#x017F;&#x017F;es ganz oder<lb/>
theilwei&#x017F;e aufhebt, und dürfen wenig&#x017F;tens die eine Ueberzeugung hegen, daß es für den Kranken vor-<lb/>
theilhafter i&#x017F;t, ihn er&#x017F;t Schnaps trinken zu la&#x017F;&#x017F;en und dann eine beliebige Anzahl von Ave Maria<lb/>
über ihn zu beten, als umgekehrt zu verfahren. Bei Behandlung eines durch Schlangenbiß Ver-<lb/>
gifteten i&#x017F;t alle Gefühls&#x017F;chwärmerei vom Uebel und einzig und allein kräftiges Handeln am Platze.<lb/>
Ein ra&#x017F;cher, zwei bis drei Linien tiefer Schnitt über die Wunde, Ausdrücken der&#x017F;elben, Unterbindung,<lb/>
d. h. fe&#x017F;te Um&#x017F;chnürung des Gliedes oberhalb der Bißwunde, Aetzen der letzteren mit Salmiakgei&#x017F;t,<lb/>
Höllen&#x017F;tein, Aetzkali und dergleichen und Trinken von Branntwein oder Rum, &#x017F;obald man des einen<lb/>
oder des anderen habhaft werden kann: das &#x017F;ind die Mittel, welche &#x017F;ich, dem heutigen Stande un&#x017F;erer<lb/>
Kenntniß gemäß, zunäch&#x017F;t empfehlen; die weiteren möge ein ver&#x017F;tändiger Arzt verordnen.</p><lb/>
          <p>Soviel im allgemeinen über die&#x017F;en Gegen&#x017F;tand. Bei Be&#x017F;chreibung der einzelnen Schlangen<lb/>
werde ich Gelegenheit haben, über die Zufälle nach der Vergiftung und über die &#x017F;ogenannten<lb/>
Heilmittel noch mancherlei Einzelheiten mitzutheilen.</p><lb/>
          <p>Die Budi&#x017F;ten, deren Glaubens&#x017F;atzungen den Todt&#x017F;chlag eines Thieres unbedingt verbieten, &#x017F;etzen<lb/>
eine gefangene Gift&#x017F;chlange in ein aus Palmenblättern geflochtenes Körbchen und geben die&#x017F;es den<lb/>
Wellen eines Stromes preis: wir &#x017F;chlagen &#x017F;ie todt, wo wir &#x017F;ie finden, thun damit jedoch nicht genug,<lb/>
&#x017F;olange wir gleichzeitig nicht auch alle natürlichen Feinde die&#x017F;es Gezüchtes &#x017F;chonen und hegen. Des-<lb/>
halb Schutz jedem Jltis, jedem Bu&#x017F;&#x017F;ard, damit es wenig&#x017F;tens in un&#x017F;erem Vaterlande den Schlangen<lb/>
nicht an tüchtigen Gegnern fehle!</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Die er&#x017F;te Hauptabtheilung der Gift&#x017F;chlangen oder die vierte Zunft der ge&#x017F;ammten Ordnung<lb/>
umfaßt die <hi rendition="#g">Furchenzähner</hi> <hi rendition="#aq">(Proteroglypha).</hi> Sie haben noch große Aehnlichkeit mit den Nattern<lb/>
oder un&#x017F;chuldigen Schlangen überhaupt, äußerlich wie hin&#x017F;ichtlich des Gebi&#x017F;&#x017F;es, unter&#x017F;cheiden &#x017F;ich aber<lb/>
von die&#x017F;en dadurch, daß der mittellange Oberkiefer, vor einigen derben Zähnen, Gifthaken trägt,<lb/>
welche an der auswärts gebogenen, al&#x017F;o vorderen Seite der ganzen Länge nach gefurcht oder gerinnelt,<lb/>
jedoch nicht eigentlich durchbohrt &#x017F;ind. Die&#x017F;e Furchenzähne mü&#x017F;&#x017F;en als das bezeichnende Merkmal<lb/>
aller hierher gehörigen Schlangen gelten, als das einzige, welches &#x017F;ie mit Sicherheit von den ungiftigen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[255/0277] Giftſchlangen im allgemeinen. haften Zuckungen verſcheiden, ſieht dieſe Erſcheinungen jedoch nicht als eigentliche Folge der Gift- wirkung ſelbſt an, ſondern nur als ein Zeichen des „letzten Kampfes zwiſchen Leben und Tod“. Wendet ſich der Verlauf der Krankheit, ſei es in Folge der angewandten Mittel, oder weil die Menge des in die Wunde gebrachten Giftes zu gering war, ſo folgt dieſen erſten allgemeinen Erſcheinungen ein längeres Siechthum, bevor die vollſtändige Heilung eintritt; leider nur zu häufig aber geſchieht es, daß ein Vergifteter mehrere Wochen, Monate, ja ſelbſt Jahre an den Folgen eines Schlangenbiſſes zu leiden hat, daß ihm mit dem einzigen Tröpflein der fürchterlichen Flüſſigkeit im buchſtäblichen Sinne des Wortes ſein ganzes Leben vergiftet wird. Unzählig ſind die Heilmittel, welche man von Altersher gegen den Schlangenbiß angewendet hat und noch heutigentages anwendet. Der Aberglaube ſpielt dabei leider noch immer eine ſehr große Rolle. Ebenſo wie man früher zu den Göttern aufſchrie, glaubt man in unſerer Zeit durch Herſagen einiger Dutzend „Vaterunſer“ oder „Ave Maria“ Aufhebung einer ſo gewaltig wirkenden Vergiftung erzielen zu können. Neben derartigen Ausbrüchen einer ſonſt unſchädlichen, hier aber verwerflichen Gefühlsſeligkeit, welche zum Sterben Kranke einem blinden und haltloſen Wahne opfert, wendet man allerdings auch noch andere Mittel an: Ausſchneiden und Brennen der Wunde, Auflegen von Schlangenſteinen, zerſtoßenen Wurzeln und Blättern, Eingeben von Pflanzenſäften, Salmiakgeiſt, Chlor, Arſen und anderen Giften ꝛc. ꝛc., hat aber trotzdem bis jetzt noch kein einziges unbedingt vertrauenswürdiges Heilmittel kennen gelernt. Das wirkſamſte von allen ſcheint Wein- geiſt zu ſein, in reichlicher Gabe genoſſen oder eingetrichtert, gleichviel in welcher Form, ob als Sprit, Rum, Arak, Cognak, Branntwein oder ſtarker und ſchwerer Wein. Wir kennen gegenwärtig ſchon ſehr viele Fälle, welche zu beweiſen ſcheinen, daß Weingeiſt die Folgen des Schlangenbiſſes ganz oder theilweiſe aufhebt, und dürfen wenigſtens die eine Ueberzeugung hegen, daß es für den Kranken vor- theilhafter iſt, ihn erſt Schnaps trinken zu laſſen und dann eine beliebige Anzahl von Ave Maria über ihn zu beten, als umgekehrt zu verfahren. Bei Behandlung eines durch Schlangenbiß Ver- gifteten iſt alle Gefühlsſchwärmerei vom Uebel und einzig und allein kräftiges Handeln am Platze. Ein raſcher, zwei bis drei Linien tiefer Schnitt über die Wunde, Ausdrücken derſelben, Unterbindung, d. h. feſte Umſchnürung des Gliedes oberhalb der Bißwunde, Aetzen der letzteren mit Salmiakgeiſt, Höllenſtein, Aetzkali und dergleichen und Trinken von Branntwein oder Rum, ſobald man des einen oder des anderen habhaft werden kann: das ſind die Mittel, welche ſich, dem heutigen Stande unſerer Kenntniß gemäß, zunächſt empfehlen; die weiteren möge ein verſtändiger Arzt verordnen. Soviel im allgemeinen über dieſen Gegenſtand. Bei Beſchreibung der einzelnen Schlangen werde ich Gelegenheit haben, über die Zufälle nach der Vergiftung und über die ſogenannten Heilmittel noch mancherlei Einzelheiten mitzutheilen. Die Budiſten, deren Glaubensſatzungen den Todtſchlag eines Thieres unbedingt verbieten, ſetzen eine gefangene Giftſchlange in ein aus Palmenblättern geflochtenes Körbchen und geben dieſes den Wellen eines Stromes preis: wir ſchlagen ſie todt, wo wir ſie finden, thun damit jedoch nicht genug, ſolange wir gleichzeitig nicht auch alle natürlichen Feinde dieſes Gezüchtes ſchonen und hegen. Des- halb Schutz jedem Jltis, jedem Buſſard, damit es wenigſtens in unſerem Vaterlande den Schlangen nicht an tüchtigen Gegnern fehle! Die erſte Hauptabtheilung der Giftſchlangen oder die vierte Zunft der geſammten Ordnung umfaßt die Furchenzähner (Proteroglypha). Sie haben noch große Aehnlichkeit mit den Nattern oder unſchuldigen Schlangen überhaupt, äußerlich wie hinſichtlich des Gebiſſes, unterſcheiden ſich aber von dieſen dadurch, daß der mittellange Oberkiefer, vor einigen derben Zähnen, Gifthaken trägt, welche an der auswärts gebogenen, alſo vorderen Seite der ganzen Länge nach gefurcht oder gerinnelt, jedoch nicht eigentlich durchbohrt ſind. Dieſe Furchenzähne müſſen als das bezeichnende Merkmal aller hierher gehörigen Schlangen gelten, als das einzige, welches ſie mit Sicherheit von den ungiftigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/277
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/277>, abgerufen am 21.12.2024.