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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Die Schlangen. Stummelfüßler. Pythonschlangen.

Nach der Erzählung des Franzosen Marchais soll die Verehrung der Schlange einen gewichtigen
Grund haben. Als einst das Heer des Königs von Widah in Schlachtordnung stand, kam vom
Feinde eine Abgottschlange herüber und benahm sich so zutraulich, sanft und zahm, daß sie Jeder
streicheln durfte. Der Oberpfasse nahm sie auf den Arm und that wie einst Moses vor den Kindern
Jsraels: er machte sie zum Götzen. Die Neger sielen nieder, um die neue Gottheit anzubeten,
stürzten sich hierauf muthig auf den Feind und schlugen ihn in die Flucht. Wem anders, als der
Schlange konnte man so hohes Glück verdanken? Jhre Wunderkraft hatte sich glänzend bewährt,
und deshalb hielt man es für nothwendig, ihr einen Tempel zu erbauen und einen Schatz für ihren
Unterhalt zu gründen. Bisher hatte man der Dreizahl gehuldigt und den Fetisch des Fischfangs,
den Gott der Gesundheit und den Götzen des weisen Rathes angebetet; die Schlange aber erwarb
sich, wie ihrem Geschlechte vom Paradiese her es zukommt, bald gewisse Vorrechte, sodaß man die drei
Götter ihr gegenüber vernachlässigte. Sie wurde zur Göttin des Kriegs, des Ackerbaues und des
Handels erhoben, muß auch ausgezeichnete Dienste geleistet haben; denn bald war der erste Tempel
nicht mehr groß genug, um die Wallfahrer zu fassen. Man sah sich genöthigt, immer mehr neue
Gebäude zu ihrer Verehrung zu errichten; Priester und Priesterinnen fanden sich, um ihr zu dienen;
alljährlich wurden einige der schönsten Jungfrauen ausgesucht und ihr geheiligt. Anfänglich mögen
sich die Gläubigen freiwillig eingefunden haben, später wurden sie mit Gewalt zum Dienste der
Göttin gepreßt. Mit schweren Keulen bewassnet, streiften die Priesterinnen umher, um die Jung-
frauen zu holen; wer sich ihren heiligen Verrichtungen widersetzte, wurde zwar nicht mit Bann und
mit Scheiterhaufen, wohl aber mit dem Knüppel bedroht. Sie nahmen die schönsten Mädchen mit
sich, und diese hielten es für eine große Ehre, mit dem Fetisch vermählt zu werden. Zuerst lehrte
man sie, Hymnen singen, dann heilige Tänze aufführen; hierauf verschnitt man ihnen ihr Haar und
grub ihnen die heiligen Zeichen in die Haut ein. Nachdem sie in solcher Weise zur Vermählung mit
dem Gotte würdig vorbereitet waren, führte man sie in ein dunkles, unterirdisches Gemach, bei
rauschender Musik, Gesang und Tanz ihr erhabenes Geschick preisend. Die aus der heiligen Höhle
zurückkehrenden Jungfrauen erhielten den Titel "Schlangenbraut", durften jedoch trotzdem nach
eigenem Belieben sich anderweitig verheiraten, und der Glückliche, auf welchen ihre Wahl fiel, erwies
ihnen die höchste Ehrfurcht und Unterwürfigkeit. Aber unverbrüchliches Schweigen mußten sie
bewahren über Das, was in der Höhle mit ihnen vorgegangen; denn wenn sie sich unterstanden,
auszuplaudern, so wurden sie von Priestern aufgehoben und getödtet, und Jedermann war zu dem
Glauben berechtigt, daß die Schlange an ihnen sich gerächt und sie vernichtet habe.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, bemerke ich, daß sich das Vorstehende, laut Angabe glaub-
würdiger Berichterstatter, unter den Negern Afrikas, vollendeten Heiden, denen die Gebräuche der
christlichen Kirche gänzlich fremd sind, so, wie hier geschildert, zugetragen hat. Durch Matthews
erfahren wir übrigens, daß die Schlange nicht überall verehrt und angebetet wird. Jn anderen
Ländern derselben Gegend sehen die Eingeborenen in ihr keine Gottheit, sondern höchstens ein Wild,
welches sie verfolgen, weil sie sein Fleisch für genießbar halten.

Nach Versicherung desselben Berichterstatters fängt die Tenne nicht allein Ziegen, Schafe und
Schweine, sondern greift auch Leoparden an; ja die Eingeborenen behaupten, daß sie in den sumpfigen
Gegenden des Unterlandes, wo der Mensch sie nicht behelligt, eine ungeheuere Größe und Stärke
erreiche und demzufolge sogar einen Büffel verschlingen könne: -- kurz, das alte Märchen vom
Drachen wird noch heute geglaubt, mindestens nacherzählt. Dem Menschen soll die Schlange jedoch
nur dann gefährlich werden, wenn sie ihn schlafend antrifft.

Ueber die Lebensweise, insbesondere über ihre Raubzüge und das Verschlingen der Beute, faselt
Matthews in entsprechender Weise weiter. "Gewöhnlich", so erzählt er, "hält sich die Tenne in
sumpfiger Gegend auf, und hier kann man sie zuweilen, wenn sie ihren Kopf über das zehn Fuß hohe
Gras erhebt, Umschau halten sehen." Jhr Angriff auf Beute und das Abwürgen derselben wird
von unserem Berichterstatter ziemlich richtig beschrieben, jedoch ausdrücklich betont, daß sie beim

Die Schlangen. Stummelfüßler. Pythonſchlangen.

Nach der Erzählung des Franzoſen Marchais ſoll die Verehrung der Schlange einen gewichtigen
Grund haben. Als einſt das Heer des Königs von Widah in Schlachtordnung ſtand, kam vom
Feinde eine Abgottſchlange herüber und benahm ſich ſo zutraulich, ſanft und zahm, daß ſie Jeder
ſtreicheln durfte. Der Oberpfaſſe nahm ſie auf den Arm und that wie einſt Moſes vor den Kindern
Jſraels: er machte ſie zum Götzen. Die Neger ſielen nieder, um die neue Gottheit anzubeten,
ſtürzten ſich hierauf muthig auf den Feind und ſchlugen ihn in die Flucht. Wem anders, als der
Schlange konnte man ſo hohes Glück verdanken? Jhre Wunderkraft hatte ſich glänzend bewährt,
und deshalb hielt man es für nothwendig, ihr einen Tempel zu erbauen und einen Schatz für ihren
Unterhalt zu gründen. Bisher hatte man der Dreizahl gehuldigt und den Fetiſch des Fiſchfangs,
den Gott der Geſundheit und den Götzen des weiſen Rathes angebetet; die Schlange aber erwarb
ſich, wie ihrem Geſchlechte vom Paradieſe her es zukommt, bald gewiſſe Vorrechte, ſodaß man die drei
Götter ihr gegenüber vernachläſſigte. Sie wurde zur Göttin des Kriegs, des Ackerbaues und des
Handels erhoben, muß auch ausgezeichnete Dienſte geleiſtet haben; denn bald war der erſte Tempel
nicht mehr groß genug, um die Wallfahrer zu faſſen. Man ſah ſich genöthigt, immer mehr neue
Gebäude zu ihrer Verehrung zu errichten; Prieſter und Prieſterinnen fanden ſich, um ihr zu dienen;
alljährlich wurden einige der ſchönſten Jungfrauen ausgeſucht und ihr geheiligt. Anfänglich mögen
ſich die Gläubigen freiwillig eingefunden haben, ſpäter wurden ſie mit Gewalt zum Dienſte der
Göttin gepreßt. Mit ſchweren Keulen bewaſſnet, ſtreiften die Prieſterinnen umher, um die Jung-
frauen zu holen; wer ſich ihren heiligen Verrichtungen widerſetzte, wurde zwar nicht mit Bann und
mit Scheiterhaufen, wohl aber mit dem Knüppel bedroht. Sie nahmen die ſchönſten Mädchen mit
ſich, und dieſe hielten es für eine große Ehre, mit dem Fetiſch vermählt zu werden. Zuerſt lehrte
man ſie, Hymnen ſingen, dann heilige Tänze aufführen; hierauf verſchnitt man ihnen ihr Haar und
grub ihnen die heiligen Zeichen in die Haut ein. Nachdem ſie in ſolcher Weiſe zur Vermählung mit
dem Gotte würdig vorbereitet waren, führte man ſie in ein dunkles, unterirdiſches Gemach, bei
rauſchender Muſik, Geſang und Tanz ihr erhabenes Geſchick preiſend. Die aus der heiligen Höhle
zurückkehrenden Jungfrauen erhielten den Titel „Schlangenbraut“, durften jedoch trotzdem nach
eigenem Belieben ſich anderweitig verheiraten, und der Glückliche, auf welchen ihre Wahl fiel, erwies
ihnen die höchſte Ehrfurcht und Unterwürfigkeit. Aber unverbrüchliches Schweigen mußten ſie
bewahren über Das, was in der Höhle mit ihnen vorgegangen; denn wenn ſie ſich unterſtanden,
auszuplaudern, ſo wurden ſie von Prieſtern aufgehoben und getödtet, und Jedermann war zu dem
Glauben berechtigt, daß die Schlange an ihnen ſich gerächt und ſie vernichtet habe.

Um Mißverſtändniſſen vorzubeugen, bemerke ich, daß ſich das Vorſtehende, laut Angabe glaub-
würdiger Berichterſtatter, unter den Negern Afrikas, vollendeten Heiden, denen die Gebräuche der
chriſtlichen Kirche gänzlich fremd ſind, ſo, wie hier geſchildert, zugetragen hat. Durch Matthews
erfahren wir übrigens, daß die Schlange nicht überall verehrt und angebetet wird. Jn anderen
Ländern derſelben Gegend ſehen die Eingeborenen in ihr keine Gottheit, ſondern höchſtens ein Wild,
welches ſie verfolgen, weil ſie ſein Fleiſch für genießbar halten.

Nach Verſicherung deſſelben Berichterſtatters fängt die Tenne nicht allein Ziegen, Schafe und
Schweine, ſondern greift auch Leoparden an; ja die Eingeborenen behaupten, daß ſie in den ſumpfigen
Gegenden des Unterlandes, wo der Menſch ſie nicht behelligt, eine ungeheuere Größe und Stärke
erreiche und demzufolge ſogar einen Büffel verſchlingen könne: — kurz, das alte Märchen vom
Drachen wird noch heute geglaubt, mindeſtens nacherzählt. Dem Menſchen ſoll die Schlange jedoch
nur dann gefährlich werden, wenn ſie ihn ſchlafend antrifft.

Ueber die Lebensweiſe, insbeſondere über ihre Raubzüge und das Verſchlingen der Beute, faſelt
Matthews in entſprechender Weiſe weiter. „Gewöhnlich“, ſo erzählt er, „hält ſich die Tenne in
ſumpfiger Gegend auf, und hier kann man ſie zuweilen, wenn ſie ihren Kopf über das zehn Fuß hohe
Gras erhebt, Umſchau halten ſehen.“ Jhr Angriff auf Beute und das Abwürgen derſelben wird
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[210/0232] Die Schlangen. Stummelfüßler. Pythonſchlangen. Nach der Erzählung des Franzoſen Marchais ſoll die Verehrung der Schlange einen gewichtigen Grund haben. Als einſt das Heer des Königs von Widah in Schlachtordnung ſtand, kam vom Feinde eine Abgottſchlange herüber und benahm ſich ſo zutraulich, ſanft und zahm, daß ſie Jeder ſtreicheln durfte. Der Oberpfaſſe nahm ſie auf den Arm und that wie einſt Moſes vor den Kindern Jſraels: er machte ſie zum Götzen. Die Neger ſielen nieder, um die neue Gottheit anzubeten, ſtürzten ſich hierauf muthig auf den Feind und ſchlugen ihn in die Flucht. Wem anders, als der Schlange konnte man ſo hohes Glück verdanken? Jhre Wunderkraft hatte ſich glänzend bewährt, und deshalb hielt man es für nothwendig, ihr einen Tempel zu erbauen und einen Schatz für ihren Unterhalt zu gründen. Bisher hatte man der Dreizahl gehuldigt und den Fetiſch des Fiſchfangs, den Gott der Geſundheit und den Götzen des weiſen Rathes angebetet; die Schlange aber erwarb ſich, wie ihrem Geſchlechte vom Paradieſe her es zukommt, bald gewiſſe Vorrechte, ſodaß man die drei Götter ihr gegenüber vernachläſſigte. Sie wurde zur Göttin des Kriegs, des Ackerbaues und des Handels erhoben, muß auch ausgezeichnete Dienſte geleiſtet haben; denn bald war der erſte Tempel nicht mehr groß genug, um die Wallfahrer zu faſſen. Man ſah ſich genöthigt, immer mehr neue Gebäude zu ihrer Verehrung zu errichten; Prieſter und Prieſterinnen fanden ſich, um ihr zu dienen; alljährlich wurden einige der ſchönſten Jungfrauen ausgeſucht und ihr geheiligt. Anfänglich mögen ſich die Gläubigen freiwillig eingefunden haben, ſpäter wurden ſie mit Gewalt zum Dienſte der Göttin gepreßt. Mit ſchweren Keulen bewaſſnet, ſtreiften die Prieſterinnen umher, um die Jung- frauen zu holen; wer ſich ihren heiligen Verrichtungen widerſetzte, wurde zwar nicht mit Bann und mit Scheiterhaufen, wohl aber mit dem Knüppel bedroht. Sie nahmen die ſchönſten Mädchen mit ſich, und dieſe hielten es für eine große Ehre, mit dem Fetiſch vermählt zu werden. Zuerſt lehrte man ſie, Hymnen ſingen, dann heilige Tänze aufführen; hierauf verſchnitt man ihnen ihr Haar und grub ihnen die heiligen Zeichen in die Haut ein. Nachdem ſie in ſolcher Weiſe zur Vermählung mit dem Gotte würdig vorbereitet waren, führte man ſie in ein dunkles, unterirdiſches Gemach, bei rauſchender Muſik, Geſang und Tanz ihr erhabenes Geſchick preiſend. Die aus der heiligen Höhle zurückkehrenden Jungfrauen erhielten den Titel „Schlangenbraut“, durften jedoch trotzdem nach eigenem Belieben ſich anderweitig verheiraten, und der Glückliche, auf welchen ihre Wahl fiel, erwies ihnen die höchſte Ehrfurcht und Unterwürfigkeit. Aber unverbrüchliches Schweigen mußten ſie bewahren über Das, was in der Höhle mit ihnen vorgegangen; denn wenn ſie ſich unterſtanden, auszuplaudern, ſo wurden ſie von Prieſtern aufgehoben und getödtet, und Jedermann war zu dem Glauben berechtigt, daß die Schlange an ihnen ſich gerächt und ſie vernichtet habe. Um Mißverſtändniſſen vorzubeugen, bemerke ich, daß ſich das Vorſtehende, laut Angabe glaub- würdiger Berichterſtatter, unter den Negern Afrikas, vollendeten Heiden, denen die Gebräuche der chriſtlichen Kirche gänzlich fremd ſind, ſo, wie hier geſchildert, zugetragen hat. Durch Matthews erfahren wir übrigens, daß die Schlange nicht überall verehrt und angebetet wird. Jn anderen Ländern derſelben Gegend ſehen die Eingeborenen in ihr keine Gottheit, ſondern höchſtens ein Wild, welches ſie verfolgen, weil ſie ſein Fleiſch für genießbar halten. Nach Verſicherung deſſelben Berichterſtatters fängt die Tenne nicht allein Ziegen, Schafe und Schweine, ſondern greift auch Leoparden an; ja die Eingeborenen behaupten, daß ſie in den ſumpfigen Gegenden des Unterlandes, wo der Menſch ſie nicht behelligt, eine ungeheuere Größe und Stärke erreiche und demzufolge ſogar einen Büffel verſchlingen könne: — kurz, das alte Märchen vom Drachen wird noch heute geglaubt, mindeſtens nacherzählt. Dem Menſchen ſoll die Schlange jedoch nur dann gefährlich werden, wenn ſie ihn ſchlafend antrifft. Ueber die Lebensweiſe, insbeſondere über ihre Raubzüge und das Verſchlingen der Beute, faſelt Matthews in entſprechender Weiſe weiter. „Gewöhnlich“, ſo erzählt er, „hält ſich die Tenne in ſumpfiger Gegend auf, und hier kann man ſie zuweilen, wenn ſie ihren Kopf über das zehn Fuß hohe Gras erhebt, Umſchau halten ſehen.“ Jhr Angriff auf Beute und das Abwürgen derſelben wird von unſerem Berichterſtatter ziemlich richtig beſchrieben, jedoch ausdrücklich betont, daß ſie beim

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/232>, abgerufen am 21.12.2024.