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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Die Schlangen.
die wenigen hierauf bezüglichen Versuche Dies glauben machen wollen. Lenz schnitt einer
Ringelnatter die Hälfte der Zunge weg: sie gebrauchte das Ueberbleibsel so gut es gehen wollte
und zeigte in ihrem Betragen noch fast dieselbe Behendigkeit wie früherhin. Eine Kreuzotter,
welcher genannter Forscher die Zunge abschnitt, sodaß sie nur noch ein kurzes Stückchen heraus-
stecken konnte, ließ in ihren Bewegungen auch keine bestimmten Veränderungen wahrnehmen. Aber
die beiden Thiere und noch andere, denen man in der Meinung, ihnen das Gift zu nehmen, die
Zunge ausgerissen hatte, wurden nur in beschränktem Raume, nicht aber im Freien beobachtet.
Thatsache ist, daß jede Schlange, wenn sie nicht gerade ruht, unaufhörlich züngelt und dabei nach
allen Richtungen hin arbeitet, um die Gegenstände, welche sich vor ihr befinden, zu erforschen. "Sie
scheint", sagt Lenz, "nicht blos Das zu fühlen, was sie unmittelbar mit der Zunge berührt, sondern
selbst auf eine Entfernung von etwa einem halben Zoll durch dieselbe von unberührten Gegenständen
Kunde zu erlangen. Recht deutlich kann man sich hiervon überzeugen, wenn man eine Schlange
aus einem Kasten, Glase und dergleichen steigen läßt. Sobald sie Kopf und Hals über den Rand
erhebt und nun den leeren Raum vor sich bemerkt, streckt sie die Zunge fortwährend soweit als
möglich vor und bewegt sie bedächtig, während der Kopf sich ebenfalls nach verschiedenen Seiten
wendet. Findet sie nun keinen Anhaltepunkt außer der äußeren Wand des Kastens, so senkt sie sich
endlich, immer züngelnd, an diesem herab. Ebenso deutlich zeigt sich die Sache, wenn man eine
Schlange auf Bäume klettern läßt, wo sie Ast für Ast mit der Zunge aufsucht, es jedoch nicht immer
für nöthig erachtet, den Ast, auf welchen sie übergehen will, erst wirklich mit der Zunge zu berühren.
Steckt man eine Schlange in eine mit Luftlöchern versehene Schachtel, so steckt sie zuweilen ihre Zunge
heraus, weil sie durch diese einen Ausgang zu finden hofft. Steckt man sie in Gläser, welche mit
Wasser oder Branntwein gefüllt sind, so sieht man, wie sie ängstlich mit der Zunge an den Wänden
des Glases herumsucht. Selbst die Ringelnatter streckt, wenn sie schwimmt und dabei den Kopf über
die Wasserfläche hält, fortwährend die Zunge heraus, als ob sie auf dem Lande krieche; ja, sie züngelt,
auch wenn sie unter dem Wasser schwimmt .... Je munterer eine Schlange ist, je mehr und je
schneller züngelt sie. Die Kreuzotter bewegt, wenn sie wüthend ist, ihre Zunge so schnell, daß Manche
das dadurch entstehende Flimmern für eine elektrische Erscheinung gehalten haben. Das oft wieder-
holte Einziehen der Zunge geschieht unzweifelhaft, um sie wieder schleimig zu machen und dadurch die
Empfindlichkeit zu erhöhen."

Jm Vergleiche zur Tastfähigkeit der Zunge zeigt sich das Empfindungsvermögen der Schlangen
schwach. Aus Erfahrung wissen wir, daß ihnen, trotz der dicken Bekleidung, eine Berührung zum
Bewußtsein gelangt, und ebenso, daß sie mit anderen Kriechthieren die Vorliebe für die Wärme
theilen, da ja selbst diejenigen, welche nur des Nachts thätig sind, bei Tage aus ihrem Schlupfwinkel
hervorkriechen, um sich das Hochgefühl der Besonnung zu verschaffen; trotzalledem irrt man schwerlich,
wenn man annimmt, daß starke Reize erforderlich sind, um das Gefühl zu erregen.

Nicht viel anders verhält es sich mit den übrigen Sinnen. Sehr richtig ist der Ausspruch
Linck's, daß die Empfänglichkeit der Zunge nicht hinreicht, um das Auge vollständig zu ersetzen,
obgleich diese Zunge der Schlange, gleich dem Stabe des Blinden, nicht blos zur Unterstützung, son-
dern zum Ersatz des Sehvermögens dient, sehr wahr, daß die Schlange des Auges nicht, der Zunge
nur schwer entbehren kann, sich ohne diese kümmerlich durchs Leben hilft und ohne jenes zu Tode
kümmert; aber das Auge erlangt bei ihr doch niemals die Bedeutung, wie bei den übrigen Kriech-
thieren, mit Ausnahme einiger wenigen. Mit seiner äußeren Schönheit steht seine Fähigkeit nicht im
Einklange. Alle Beobachtungen sprechen dafür, daß das Gesicht schwach und unbedeutend, daß die
Meinung, zu welcher sein Glanz veranlaßt, eine falsche ist. "Nach meiner Ansicht", sagt Lenz,
"sehen die Schlangen schlecht, obgleich das Gesicht nebst dem Gefühl der Zunge derjenige Sinn ist,
welchem sie solgen. Ob es ausländische Arten gibt, welche gut sehen, weiß ich nicht, was aber unsere
einheimischen betrifft, so scheint ihnen ihr Auge keinen rechten Begriff von den Gegenständen zu geben,
obgleich sie dieselben wohl bemerken; sie scheinen vorzüglich nur auf deren Bewegungen zu achten.

Die Schlangen.
die wenigen hierauf bezüglichen Verſuche Dies glauben machen wollen. Lenz ſchnitt einer
Ringelnatter die Hälfte der Zunge weg: ſie gebrauchte das Ueberbleibſel ſo gut es gehen wollte
und zeigte in ihrem Betragen noch faſt dieſelbe Behendigkeit wie früherhin. Eine Kreuzotter,
welcher genannter Forſcher die Zunge abſchnitt, ſodaß ſie nur noch ein kurzes Stückchen heraus-
ſtecken konnte, ließ in ihren Bewegungen auch keine beſtimmten Veränderungen wahrnehmen. Aber
die beiden Thiere und noch andere, denen man in der Meinung, ihnen das Gift zu nehmen, die
Zunge ausgeriſſen hatte, wurden nur in beſchränktem Raume, nicht aber im Freien beobachtet.
Thatſache iſt, daß jede Schlange, wenn ſie nicht gerade ruht, unaufhörlich züngelt und dabei nach
allen Richtungen hin arbeitet, um die Gegenſtände, welche ſich vor ihr befinden, zu erforſchen. „Sie
ſcheint“, ſagt Lenz, „nicht blos Das zu fühlen, was ſie unmittelbar mit der Zunge berührt, ſondern
ſelbſt auf eine Entfernung von etwa einem halben Zoll durch dieſelbe von unberührten Gegenſtänden
Kunde zu erlangen. Recht deutlich kann man ſich hiervon überzeugen, wenn man eine Schlange
aus einem Kaſten, Glaſe und dergleichen ſteigen läßt. Sobald ſie Kopf und Hals über den Rand
erhebt und nun den leeren Raum vor ſich bemerkt, ſtreckt ſie die Zunge fortwährend ſoweit als
möglich vor und bewegt ſie bedächtig, während der Kopf ſich ebenfalls nach verſchiedenen Seiten
wendet. Findet ſie nun keinen Anhaltepunkt außer der äußeren Wand des Kaſtens, ſo ſenkt ſie ſich
endlich, immer züngelnd, an dieſem herab. Ebenſo deutlich zeigt ſich die Sache, wenn man eine
Schlange auf Bäume klettern läßt, wo ſie Aſt für Aſt mit der Zunge aufſucht, es jedoch nicht immer
für nöthig erachtet, den Aſt, auf welchen ſie übergehen will, erſt wirklich mit der Zunge zu berühren.
Steckt man eine Schlange in eine mit Luftlöchern verſehene Schachtel, ſo ſteckt ſie zuweilen ihre Zunge
heraus, weil ſie durch dieſe einen Ausgang zu finden hofft. Steckt man ſie in Gläſer, welche mit
Waſſer oder Branntwein gefüllt ſind, ſo ſieht man, wie ſie ängſtlich mit der Zunge an den Wänden
des Glaſes herumſucht. Selbſt die Ringelnatter ſtreckt, wenn ſie ſchwimmt und dabei den Kopf über
die Waſſerfläche hält, fortwährend die Zunge heraus, als ob ſie auf dem Lande krieche; ja, ſie züngelt,
auch wenn ſie unter dem Waſſer ſchwimmt .... Je munterer eine Schlange iſt, je mehr und je
ſchneller züngelt ſie. Die Kreuzotter bewegt, wenn ſie wüthend iſt, ihre Zunge ſo ſchnell, daß Manche
das dadurch entſtehende Flimmern für eine elektriſche Erſcheinung gehalten haben. Das oft wieder-
holte Einziehen der Zunge geſchieht unzweifelhaft, um ſie wieder ſchleimig zu machen und dadurch die
Empfindlichkeit zu erhöhen.“

Jm Vergleiche zur Taſtfähigkeit der Zunge zeigt ſich das Empfindungsvermögen der Schlangen
ſchwach. Aus Erfahrung wiſſen wir, daß ihnen, trotz der dicken Bekleidung, eine Berührung zum
Bewußtſein gelangt, und ebenſo, daß ſie mit anderen Kriechthieren die Vorliebe für die Wärme
theilen, da ja ſelbſt diejenigen, welche nur des Nachts thätig ſind, bei Tage aus ihrem Schlupfwinkel
hervorkriechen, um ſich das Hochgefühl der Beſonnung zu verſchaffen; trotzalledem irrt man ſchwerlich,
wenn man annimmt, daß ſtarke Reize erforderlich ſind, um das Gefühl zu erregen.

Nicht viel anders verhält es ſich mit den übrigen Sinnen. Sehr richtig iſt der Ausſpruch
Linck’s, daß die Empfänglichkeit der Zunge nicht hinreicht, um das Auge vollſtändig zu erſetzen,
obgleich dieſe Zunge der Schlange, gleich dem Stabe des Blinden, nicht blos zur Unterſtützung, ſon-
dern zum Erſatz des Sehvermögens dient, ſehr wahr, daß die Schlange des Auges nicht, der Zunge
nur ſchwer entbehren kann, ſich ohne dieſe kümmerlich durchs Leben hilft und ohne jenes zu Tode
kümmert; aber das Auge erlangt bei ihr doch niemals die Bedeutung, wie bei den übrigen Kriech-
thieren, mit Ausnahme einiger wenigen. Mit ſeiner äußeren Schönheit ſteht ſeine Fähigkeit nicht im
Einklange. Alle Beobachtungen ſprechen dafür, daß das Geſicht ſchwach und unbedeutend, daß die
Meinung, zu welcher ſein Glanz veranlaßt, eine falſche iſt. „Nach meiner Anſicht“, ſagt Lenz,
„ſehen die Schlangen ſchlecht, obgleich das Geſicht nebſt dem Gefühl der Zunge derjenige Sinn iſt,
welchem ſie ſolgen. Ob es ausländiſche Arten gibt, welche gut ſehen, weiß ich nicht, was aber unſere
einheimiſchen betrifft, ſo ſcheint ihnen ihr Auge keinen rechten Begriff von den Gegenſtänden zu geben,
obgleich ſie dieſelben wohl bemerken; ſie ſcheinen vorzüglich nur auf deren Bewegungen zu achten.

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[178/0198] Die Schlangen. die wenigen hierauf bezüglichen Verſuche Dies glauben machen wollen. Lenz ſchnitt einer Ringelnatter die Hälfte der Zunge weg: ſie gebrauchte das Ueberbleibſel ſo gut es gehen wollte und zeigte in ihrem Betragen noch faſt dieſelbe Behendigkeit wie früherhin. Eine Kreuzotter, welcher genannter Forſcher die Zunge abſchnitt, ſodaß ſie nur noch ein kurzes Stückchen heraus- ſtecken konnte, ließ in ihren Bewegungen auch keine beſtimmten Veränderungen wahrnehmen. Aber die beiden Thiere und noch andere, denen man in der Meinung, ihnen das Gift zu nehmen, die Zunge ausgeriſſen hatte, wurden nur in beſchränktem Raume, nicht aber im Freien beobachtet. Thatſache iſt, daß jede Schlange, wenn ſie nicht gerade ruht, unaufhörlich züngelt und dabei nach allen Richtungen hin arbeitet, um die Gegenſtände, welche ſich vor ihr befinden, zu erforſchen. „Sie ſcheint“, ſagt Lenz, „nicht blos Das zu fühlen, was ſie unmittelbar mit der Zunge berührt, ſondern ſelbſt auf eine Entfernung von etwa einem halben Zoll durch dieſelbe von unberührten Gegenſtänden Kunde zu erlangen. Recht deutlich kann man ſich hiervon überzeugen, wenn man eine Schlange aus einem Kaſten, Glaſe und dergleichen ſteigen läßt. Sobald ſie Kopf und Hals über den Rand erhebt und nun den leeren Raum vor ſich bemerkt, ſtreckt ſie die Zunge fortwährend ſoweit als möglich vor und bewegt ſie bedächtig, während der Kopf ſich ebenfalls nach verſchiedenen Seiten wendet. Findet ſie nun keinen Anhaltepunkt außer der äußeren Wand des Kaſtens, ſo ſenkt ſie ſich endlich, immer züngelnd, an dieſem herab. Ebenſo deutlich zeigt ſich die Sache, wenn man eine Schlange auf Bäume klettern läßt, wo ſie Aſt für Aſt mit der Zunge aufſucht, es jedoch nicht immer für nöthig erachtet, den Aſt, auf welchen ſie übergehen will, erſt wirklich mit der Zunge zu berühren. Steckt man eine Schlange in eine mit Luftlöchern verſehene Schachtel, ſo ſteckt ſie zuweilen ihre Zunge heraus, weil ſie durch dieſe einen Ausgang zu finden hofft. Steckt man ſie in Gläſer, welche mit Waſſer oder Branntwein gefüllt ſind, ſo ſieht man, wie ſie ängſtlich mit der Zunge an den Wänden des Glaſes herumſucht. Selbſt die Ringelnatter ſtreckt, wenn ſie ſchwimmt und dabei den Kopf über die Waſſerfläche hält, fortwährend die Zunge heraus, als ob ſie auf dem Lande krieche; ja, ſie züngelt, auch wenn ſie unter dem Waſſer ſchwimmt .... Je munterer eine Schlange iſt, je mehr und je ſchneller züngelt ſie. Die Kreuzotter bewegt, wenn ſie wüthend iſt, ihre Zunge ſo ſchnell, daß Manche das dadurch entſtehende Flimmern für eine elektriſche Erſcheinung gehalten haben. Das oft wieder- holte Einziehen der Zunge geſchieht unzweifelhaft, um ſie wieder ſchleimig zu machen und dadurch die Empfindlichkeit zu erhöhen.“ Jm Vergleiche zur Taſtfähigkeit der Zunge zeigt ſich das Empfindungsvermögen der Schlangen ſchwach. Aus Erfahrung wiſſen wir, daß ihnen, trotz der dicken Bekleidung, eine Berührung zum Bewußtſein gelangt, und ebenſo, daß ſie mit anderen Kriechthieren die Vorliebe für die Wärme theilen, da ja ſelbſt diejenigen, welche nur des Nachts thätig ſind, bei Tage aus ihrem Schlupfwinkel hervorkriechen, um ſich das Hochgefühl der Beſonnung zu verſchaffen; trotzalledem irrt man ſchwerlich, wenn man annimmt, daß ſtarke Reize erforderlich ſind, um das Gefühl zu erregen. Nicht viel anders verhält es ſich mit den übrigen Sinnen. Sehr richtig iſt der Ausſpruch Linck’s, daß die Empfänglichkeit der Zunge nicht hinreicht, um das Auge vollſtändig zu erſetzen, obgleich dieſe Zunge der Schlange, gleich dem Stabe des Blinden, nicht blos zur Unterſtützung, ſon- dern zum Erſatz des Sehvermögens dient, ſehr wahr, daß die Schlange des Auges nicht, der Zunge nur ſchwer entbehren kann, ſich ohne dieſe kümmerlich durchs Leben hilft und ohne jenes zu Tode kümmert; aber das Auge erlangt bei ihr doch niemals die Bedeutung, wie bei den übrigen Kriech- thieren, mit Ausnahme einiger wenigen. Mit ſeiner äußeren Schönheit ſteht ſeine Fähigkeit nicht im Einklange. Alle Beobachtungen ſprechen dafür, daß das Geſicht ſchwach und unbedeutend, daß die Meinung, zu welcher ſein Glanz veranlaßt, eine falſche iſt. „Nach meiner Anſicht“, ſagt Lenz, „ſehen die Schlangen ſchlecht, obgleich das Geſicht nebſt dem Gefühl der Zunge derjenige Sinn iſt, welchem ſie ſolgen. Ob es ausländiſche Arten gibt, welche gut ſehen, weiß ich nicht, was aber unſere einheimiſchen betrifft, ſo ſcheint ihnen ihr Auge keinen rechten Begriff von den Gegenſtänden zu geben, obgleich ſie dieſelben wohl bemerken; ſie ſcheinen vorzüglich nur auf deren Bewegungen zu achten.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/198>, abgerufen am 22.12.2024.