Der Storch gehört unzweifelhaft zu den ausgezeichnetsten Sumpfvögeln, wobei freilich berück- sichtigt werden muß, daß wir keinen anderen seiner Verwandten so genau kennen als ihn. Er bekundet in seinem Betragen etwas sehr Würdevolles. Sein Gang ist langsam und gemessen, die Haltung dabei ziemlich aufgerichtet, der Flug, welcher durch wenige Sprünge eingeleitet wird, ver- hältnißmäßig langsam, aber doch leicht und schön, namentlich durch die prachtvollen Schraubenlinien, welche er trotz einem Geier auszuführen versteht, sehr ausgezeichnet. Jm Stehen pflegt er den Hals etwas einzuziehen und den Schnabel mit der Spitze nach unten zu richten; niemals aber nimmt er eine so sonderbare und häßliche Stellung an wie die meisten Reiher, und selbst bei der größten Ruhe sieht er noch anständig aus, obgleich er seine Würde erst dann offenbart, wenn er umherläuft. Höchst selten sieht er sich veranlaßt, seinen Gang bis zum Rennen zu steigern; diese Bewegung scheint ihn auch bald zu ermüden, während er, in seiner gewöhnlichen Weise dahinwandelnd, stundenlang in Thätigkeit sein kann. Der Flug ermüdet ihn nicht; er bewegt die Flügel selten und auch nicht oft nach einander, weiß aber den Wind oder jeden Luftzug so geschickt zu benutzen, daß er schwebend nach Belieben steigt und fällt, und versteht sein Steuer so trefflich zu handhaben, daß er jede Wendung auszuführen vermag. Seine übrigen Fähigkeiten müssen ebenfalls als hoch entwickelte bezeichnet werden. Sein Verstand ist ungewöhnlich ausgebildet. "Er weiß sich", sagt Naumann, "in die Zeit und in die Leute zu schicken, übertrifft darin fast alle übrigen Vögel, und ist keinen Augen- blick darüber in Zweifel, wie die Menschen an diesem oder jenem Orte gegen ihn gesinnt sind. Er merkt gar bald, wo er geduldet und gern gesehen ist, und der wenige Tage früher in einer fremden Gegend angekommene, schüchterne und vorsichtige, dem Menschen ausweichende, Allem mißtrauende Storch hat nach der Einladung, die ein zur Grundlage seines zukünftigen Nestes auf ein hohes Dach oder auf einen Baumkopf gelegtes Wagenrad ist, sofort alle Furcht verloren, und nachdem er Besitz von jenem genommen, ist er nach wenigen Tagen schon so zuthunlich geworden, daß er sich furchtlos aus der Nähe begassen läßt. Bald lernt er seinen Gastfreund kennen und von anderen Menschen, oder dem ihm Wohlwollenden überhaupt von mißgünstigen und gefährlichen Personen unterscheiden. Er weiß, ob man ihn liebt und gern sieht, oder ob man ihn nur mit Gleichgültigkeit betrachtet; denn er beobachtet aufmerksam und macht keine Erfahrung umsonst." -- "Jch habe", erzählt mein Vater, "oft nach einem, der im Neste stand, mit der Flinte gezielt, er blieb dabei so ruhig, als wenn er schon wüßte, daß ihm Nichts geschehen würde. Wenn er aber Nachstellungen bemerkte, wird er auch beim Neste sehr scheu. Ehe ich einen in meiner Sammlung hatte, wollte ich das Weibchen eines Paares, das auf einer Eiche genistet hatte, erlegen. Als ich mich ihm näherte, verließ es sofort das Nest, obgleich es beim Mondschein geschah, und kam lange nachher erst wieder. Jetzt versagte mir das Gewehr; die wenigen Funken aber, welche der Stein schlug, machten einen solchen Eindruck auf den Storch, daß er mich bis elf Uhr nachts vergeblich warten ließ, ob ich mich gleich gut eingestellt hatte. Zwei Jahre darauf erinnerte er sich dieser Nachstellung noch; denn solange nachher war das brütende Weibchen so scheu, daß ich mich beim Mondscheine kaum auf siebzig Schritte anschleichen konnte." Fern vom Neste zeigt sich der Storch ebenso scheu, wie alle seine Verwandten. Er kennt die Bauern, Hirten und Kinder sehr gut als ungefährliche Menschen, leidet aber doch keine Annäherung und macht es dem Jäger, welcher ihn erlegen will, in der Regel sehr schwer, schußgerecht anzukommen. Noch viel vorsichtiger und scheuer zeigt er sich auf dem Zuge oder überhaupt wenn er mit anderen seiner Art sich vereinigt; denn dann sucht jeder einzelne den anderen an Vorsicht zu übertreffen. Nach Afrika scheint er das Bewußtsein der Gefährlichkeit des weißen Menschen mitzubringen; er flieht seine Landsleute stets aus größerer Entfernung, als die braunen Eingebornen.
Gewöhnlich betrachtet man den Storch als einen harmlosen und gutmüthigen Vogel; diese Eigenschaften aber besitzt er durchaus nicht. "Seine Art, sich zu ernähren", sagt Naumann, "macht ihm das Morden zur Gewohnheit, und diese kann sogar zu Zeiten auf Seinesgleichen übergehen. Man hat Beispiele, daß Störche von anderswo herkamen, das Nest stürmten, über die Jungen her- fielen und, trotz der verzweifelten Gegenwehr ihrer Eltern, sie endlich doch ermordeten, Dies auch bei
Storch.
Der Storch gehört unzweifelhaft zu den ausgezeichnetſten Sumpfvögeln, wobei freilich berück- ſichtigt werden muß, daß wir keinen anderen ſeiner Verwandten ſo genau kennen als ihn. Er bekundet in ſeinem Betragen etwas ſehr Würdevolles. Sein Gang iſt langſam und gemeſſen, die Haltung dabei ziemlich aufgerichtet, der Flug, welcher durch wenige Sprünge eingeleitet wird, ver- hältnißmäßig langſam, aber doch leicht und ſchön, namentlich durch die prachtvollen Schraubenlinien, welche er trotz einem Geier auszuführen verſteht, ſehr ausgezeichnet. Jm Stehen pflegt er den Hals etwas einzuziehen und den Schnabel mit der Spitze nach unten zu richten; niemals aber nimmt er eine ſo ſonderbare und häßliche Stellung an wie die meiſten Reiher, und ſelbſt bei der größten Ruhe ſieht er noch anſtändig aus, obgleich er ſeine Würde erſt dann offenbart, wenn er umherläuft. Höchſt ſelten ſieht er ſich veranlaßt, ſeinen Gang bis zum Rennen zu ſteigern; dieſe Bewegung ſcheint ihn auch bald zu ermüden, während er, in ſeiner gewöhnlichen Weiſe dahinwandelnd, ſtundenlang in Thätigkeit ſein kann. Der Flug ermüdet ihn nicht; er bewegt die Flügel ſelten und auch nicht oft nach einander, weiß aber den Wind oder jeden Luftzug ſo geſchickt zu benutzen, daß er ſchwebend nach Belieben ſteigt und fällt, und verſteht ſein Steuer ſo trefflich zu handhaben, daß er jede Wendung auszuführen vermag. Seine übrigen Fähigkeiten müſſen ebenfalls als hoch entwickelte bezeichnet werden. Sein Verſtand iſt ungewöhnlich ausgebildet. „Er weiß ſich“, ſagt Naumann, „in die Zeit und in die Leute zu ſchicken, übertrifft darin faſt alle übrigen Vögel, und iſt keinen Augen- blick darüber in Zweifel, wie die Menſchen an dieſem oder jenem Orte gegen ihn geſinnt ſind. Er merkt gar bald, wo er geduldet und gern geſehen iſt, und der wenige Tage früher in einer fremden Gegend angekommene, ſchüchterne und vorſichtige, dem Menſchen ausweichende, Allem mißtrauende Storch hat nach der Einladung, die ein zur Grundlage ſeines zukünftigen Neſtes auf ein hohes Dach oder auf einen Baumkopf gelegtes Wagenrad iſt, ſofort alle Furcht verloren, und nachdem er Beſitz von jenem genommen, iſt er nach wenigen Tagen ſchon ſo zuthunlich geworden, daß er ſich furchtlos aus der Nähe begaſſen läßt. Bald lernt er ſeinen Gaſtfreund kennen und von anderen Menſchen, oder dem ihm Wohlwollenden überhaupt von mißgünſtigen und gefährlichen Perſonen unterſcheiden. Er weiß, ob man ihn liebt und gern ſieht, oder ob man ihn nur mit Gleichgültigkeit betrachtet; denn er beobachtet aufmerkſam und macht keine Erfahrung umſonſt.“ — „Jch habe“, erzählt mein Vater, „oft nach einem, der im Neſte ſtand, mit der Flinte gezielt, er blieb dabei ſo ruhig, als wenn er ſchon wüßte, daß ihm Nichts geſchehen würde. Wenn er aber Nachſtellungen bemerkte, wird er auch beim Neſte ſehr ſcheu. Ehe ich einen in meiner Sammlung hatte, wollte ich das Weibchen eines Paares, das auf einer Eiche geniſtet hatte, erlegen. Als ich mich ihm näherte, verließ es ſofort das Neſt, obgleich es beim Mondſchein geſchah, und kam lange nachher erſt wieder. Jetzt verſagte mir das Gewehr; die wenigen Funken aber, welche der Stein ſchlug, machten einen ſolchen Eindruck auf den Storch, daß er mich bis elf Uhr nachts vergeblich warten ließ, ob ich mich gleich gut eingeſtellt hatte. Zwei Jahre darauf erinnerte er ſich dieſer Nachſtellung noch; denn ſolange nachher war das brütende Weibchen ſo ſcheu, daß ich mich beim Mondſcheine kaum auf ſiebzig Schritte anſchleichen konnte.“ Fern vom Neſte zeigt ſich der Storch ebenſo ſcheu, wie alle ſeine Verwandten. Er kennt die Bauern, Hirten und Kinder ſehr gut als ungefährliche Menſchen, leidet aber doch keine Annäherung und macht es dem Jäger, welcher ihn erlegen will, in der Regel ſehr ſchwer, ſchußgerecht anzukommen. Noch viel vorſichtiger und ſcheuer zeigt er ſich auf dem Zuge oder überhaupt wenn er mit anderen ſeiner Art ſich vereinigt; denn dann ſucht jeder einzelne den anderen an Vorſicht zu übertreffen. Nach Afrika ſcheint er das Bewußtſein der Gefährlichkeit des weißen Menſchen mitzubringen; er flieht ſeine Landsleute ſtets aus größerer Entfernung, als die braunen Eingebornen.
Gewöhnlich betrachtet man den Storch als einen harmloſen und gutmüthigen Vogel; dieſe Eigenſchaften aber beſitzt er durchaus nicht. „Seine Art, ſich zu ernähren“, ſagt Naumann, „macht ihm das Morden zur Gewohnheit, und dieſe kann ſogar zu Zeiten auf Seinesgleichen übergehen. Man hat Beiſpiele, daß Störche von anderswo herkamen, das Neſt ſtürmten, über die Jungen her- fielen und, trotz der verzweifelten Gegenwehr ihrer Eltern, ſie endlich doch ermordeten, Dies auch bei
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[677/0719]
Storch.
Der Storch gehört unzweifelhaft zu den ausgezeichnetſten Sumpfvögeln, wobei freilich berück-
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bekundet in ſeinem Betragen etwas ſehr Würdevolles. Sein Gang iſt langſam und gemeſſen, die
Haltung dabei ziemlich aufgerichtet, der Flug, welcher durch wenige Sprünge eingeleitet wird, ver-
hältnißmäßig langſam, aber doch leicht und ſchön, namentlich durch die prachtvollen Schraubenlinien,
welche er trotz einem Geier auszuführen verſteht, ſehr ausgezeichnet. Jm Stehen pflegt er
den Hals etwas einzuziehen und den Schnabel mit der Spitze nach unten zu richten; niemals aber
nimmt er eine ſo ſonderbare und häßliche Stellung an wie die meiſten Reiher, und ſelbſt bei der
größten Ruhe ſieht er noch anſtändig aus, obgleich er ſeine Würde erſt dann offenbart, wenn er
umherläuft. Höchſt ſelten ſieht er ſich veranlaßt, ſeinen Gang bis zum Rennen zu ſteigern; dieſe
Bewegung ſcheint ihn auch bald zu ermüden, während er, in ſeiner gewöhnlichen Weiſe dahinwandelnd,
ſtundenlang in Thätigkeit ſein kann. Der Flug ermüdet ihn nicht; er bewegt die Flügel ſelten und
auch nicht oft nach einander, weiß aber den Wind oder jeden Luftzug ſo geſchickt zu benutzen, daß er
ſchwebend nach Belieben ſteigt und fällt, und verſteht ſein Steuer ſo trefflich zu handhaben, daß er
jede Wendung auszuführen vermag. Seine übrigen Fähigkeiten müſſen ebenfalls als hoch entwickelte
bezeichnet werden. Sein Verſtand iſt ungewöhnlich ausgebildet. „Er weiß ſich“, ſagt Naumann,
„in die Zeit und in die Leute zu ſchicken, übertrifft darin faſt alle übrigen Vögel, und iſt keinen Augen-
blick darüber in Zweifel, wie die Menſchen an dieſem oder jenem Orte gegen ihn geſinnt ſind. Er
merkt gar bald, wo er geduldet und gern geſehen iſt, und der wenige Tage früher in einer fremden
Gegend angekommene, ſchüchterne und vorſichtige, dem Menſchen ausweichende, Allem mißtrauende
Storch hat nach der Einladung, die ein zur Grundlage ſeines zukünftigen Neſtes auf ein hohes Dach
oder auf einen Baumkopf gelegtes Wagenrad iſt, ſofort alle Furcht verloren, und nachdem er Beſitz
von jenem genommen, iſt er nach wenigen Tagen ſchon ſo zuthunlich geworden, daß er ſich furchtlos
aus der Nähe begaſſen läßt. Bald lernt er ſeinen Gaſtfreund kennen und von anderen Menſchen,
oder dem ihm Wohlwollenden überhaupt von mißgünſtigen und gefährlichen Perſonen unterſcheiden.
Er weiß, ob man ihn liebt und gern ſieht, oder ob man ihn nur mit Gleichgültigkeit betrachtet; denn
er beobachtet aufmerkſam und macht keine Erfahrung umſonſt.“ — „Jch habe“, erzählt mein Vater,
„oft nach einem, der im Neſte ſtand, mit der Flinte gezielt, er blieb dabei ſo ruhig, als wenn er ſchon
wüßte, daß ihm Nichts geſchehen würde. Wenn er aber Nachſtellungen bemerkte, wird er auch beim
Neſte ſehr ſcheu. Ehe ich einen in meiner Sammlung hatte, wollte ich das Weibchen eines Paares,
das auf einer Eiche geniſtet hatte, erlegen. Als ich mich ihm näherte, verließ es ſofort das Neſt,
obgleich es beim Mondſchein geſchah, und kam lange nachher erſt wieder. Jetzt verſagte mir das
Gewehr; die wenigen Funken aber, welche der Stein ſchlug, machten einen ſolchen Eindruck auf den
Storch, daß er mich bis elf Uhr nachts vergeblich warten ließ, ob ich mich gleich gut eingeſtellt hatte.
Zwei Jahre darauf erinnerte er ſich dieſer Nachſtellung noch; denn ſolange nachher war das brütende
Weibchen ſo ſcheu, daß ich mich beim Mondſcheine kaum auf ſiebzig Schritte anſchleichen konnte.“
Fern vom Neſte zeigt ſich der Storch ebenſo ſcheu, wie alle ſeine Verwandten. Er kennt die Bauern,
Hirten und Kinder ſehr gut als ungefährliche Menſchen, leidet aber doch keine Annäherung und macht
es dem Jäger, welcher ihn erlegen will, in der Regel ſehr ſchwer, ſchußgerecht anzukommen. Noch
viel vorſichtiger und ſcheuer zeigt er ſich auf dem Zuge oder überhaupt wenn er mit anderen ſeiner Art
ſich vereinigt; denn dann ſucht jeder einzelne den anderen an Vorſicht zu übertreffen. Nach Afrika
ſcheint er das Bewußtſein der Gefährlichkeit des weißen Menſchen mitzubringen; er flieht ſeine
Landsleute ſtets aus größerer Entfernung, als die braunen Eingebornen.
Gewöhnlich betrachtet man den Storch als einen harmloſen und gutmüthigen Vogel; dieſe
Eigenſchaften aber beſitzt er durchaus nicht. „Seine Art, ſich zu ernähren“, ſagt Naumann, „macht
ihm das Morden zur Gewohnheit, und dieſe kann ſogar zu Zeiten auf Seinesgleichen übergehen.
Man hat Beiſpiele, daß Störche von anderswo herkamen, das Neſt ſtürmten, über die Jungen her-
fielen und, trotz der verzweifelten Gegenwehr ihrer Eltern, ſie endlich doch ermordeten, Dies auch bei
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/719>, abgerufen am 22.11.2024.
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